Gartenarbeit im Land der Löwen

 

Tomaten, Gurken, Salat. 1500 Jahre lang wurde im Schatten der alten byzantinischen Stadtmauern Istanbuls Gemüse gezogen. Doch eines Tages fiel auch dieses uralte Kulturgut der Bauwut des Recep Tayyip Erdoğan zum Opfer. Im August 2013 kamen die Bagger und pflügten das Weltkulturerbe um.

Wer an das brutale Ende der berühmten Osmanischen Gärten zurückdenkt, dem kommt es plötzlich weniger seltsam vor, dass das 2. Cappadox-Festival vergangenes Wochenende im türkischen Uchisar unter dem Titel „Let us cultivate our garden“ stattfand.

Der Aufruf zur beschaulichen Gartenpflege, den eines der schönsten türkischen Kulturfestivals drei Tage lang in der historischen Kleinstadt Uchisar, im zentralanatolischen Kappadokien, zelebrierte, war nämlich alles andere als unpolitisch.

Zu verdanken hat die 1000-Seelen-Gemeinde, 80 Kilometer westlich von Kayseri, das private Festival den Brüdern Ahmet und Mehmet Uluğ. In ihrem Willen, die Türkei mit moderner Musik zu beglücken, steht das Ende der 50er Jahre geborene Brüderpaar in der Tradition kultureller Entrepreneure wie Ahmet Ertegün, dem Begründer des Jazz- und Soullabels Atlantic Records.

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Nilbar Güreş‘ Arbeit „Back to Back“ im Red Valley in Kappadokien. Im Hintergrund Ayşe Erkmens Arbeit „Prize“. Foto: Ingo Arend

Ihr Erweckungserlebnis hatte die beiden Ende der 80er-Jahre in den USA bei einem Konzert der legendären Jazztruppe Sun Ra. Sie gaben ihr Ingenieurstudium auf, kehrten nach Istanbul zurück und gründeten mit Pozitif den inzwischen größten türkischen Musikprovider.

Ihre 1999 eröffnete Discothek Babylon und das Plattenlabel Doublemoon sind noch heute mythische Größen der türkischen Popszene. Kein Wunder, dass Sun Ra auch bei der zweiten Ausgabe des Festivals wieder zu den Ehrengästen zählte.

Hunderte jubelten der Avantgarde-Truppe mit ihrem 92jährigen Frontman beim nächtlichen Konzert vor der Kulisse des 60 Meter hohen, von Gängen und Höhlen durchklüfteten Tuffsteinfelsens zu, dem Wahrzeichen Uchisars.

Cappadox mag der Vision zweier Musikfanatiker zu verdanken sein, die einzigartige Kulisse der prähistorischen, bizarr erodierten Vulkanlandschaft Kappadokiens für ein progressives Kunsterlebnis zu nutzen – vom Wein-Tasting über Yoga-Kurse bis zum temporären, alternativen Stadtteilcafé.

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Live-Konzert des türkischen Popstars Mercan Dede im Red Valley von Kappadokien. Foto: Ingo Arend

Wie gut das funktionierte, zeigte sich beim frühmorgendlichen Open-Air-Konzert des türkischen Popstars Mercan Dede. Auf einem Plateau Im Kızılçukur Vadisi, dem „Red Valley“ Kappadokiens, ging die Sonne auf, die riesigen bunten Ballons, mit denen die Touristen Kappadokien überfliegen, stiegen in die Höhe, im Hintergrund glühten die Berge blutorangerot. Da geriet Dedes Fusion-Sound aus Ambient- und Sufi-Klängen zu einer sphärischen Meditation.

Gegen derlei Synästhesien kam der Kunst-Pfad, den Fulya Erdemci und Kevser Güler auf dem gleichen Gelände kuratiert hatten, nur schwer an. Zwölf KünstlerInnen widmeten sich mit leider allzu viel Respekt vor der Natur dem Festival-Motto „Let us cultivate our Garden“.

Das Künstlerpaar Fuat und Murat Şahinler ließ ein Stück Erde „atmen“. Hera Büyüktasçiyans erinnerte mit einer Bodenskulptur an die Tradition des kappadokischen Weinanbaus. Einzig Ayşe Erkmen und Nilbar Güreş gelang die Gratwanderung zwischen biologisch-organischer Demut und ästhetischem Darstellungswillen.

Erkmen hatte einem der charakteristisch phallischen Tuffstein-Kamine ein Piercing in Form eines roten Gummikreises verpasst – markantes Symbol des Gegensatzes von Kultur und Natur. Güreş setzte mit dem Figurenpaar einer Gazelle und eines Löwen der schamanistischen Kultur der oft als „unislamisch“ angefeindeten Aleviten ein Friedens-Denkmal.

Der Rückzug in die Provinz sagt etwas über die Defensive aus, in der die türkische Kulturszene agiert. In Istanbul verschärft die Zensur ihre Gangart. Mit einem Ausflug aufs Land kann man sich der angespannten Lage dort ein paar Tage entziehen.

Nicht nur die Kinder von Gezi haben sich in lokale Initiativen abgesetzt. Auch viele Intellektuelle und Künstler, so war in Uchisar zu hören, kaufen sich derzeit Häuser im Landesinneren oder an der Ägäis. Dort wollen sie abwarten, bis sich der Erdogan-Tsunami verzogen hat.

Dennoch ist das eindrucksvoll bespielte, hervorragend organisierte, ausgerechnet vom nationalistischen MHP-Bürgermeister der Stadt unterstützte Festival ein Beleg dafür, wie die unabhängige Kunstszene ihre Spielräume nutzt.

„Natürlich ist die Lage bedrückend im Moment“ gesteht Festivalgründer Ahmet Uluğ im Gespräch mit der „taz“, „aber sollen wir etwa die Hände in den Schoss legen und warten, dass alles schlimmer wird?“

In der Provinz ist man weniger schnell im Fokus der Regierung. „Escape from Hell“, die neueste Arbeit, die der Politkunst-Star Halil Altındere in Uchisar uraufführte, hätte in Istanbul vermutlich direkt die Polizei auf den Plan gerufen. In dem zehnminütigen Streifen nutzt der 1971 geborene Künstler die surreale Landschaft Kappadokiens für ein Zukunftsbild der Türkei als Dystopie.

Eine Drohne schwebt durch die im Winter vereiste Stadt. Darüber schwebt eine, vom Wind bewegte Fahne mit dem Porträt des grimmigen Präsidenten. Dieser Herrscher, dämmert es dem Betrachter, steht über allen, sieht alles, überwacht alles. Aber er regiert ein menschenleeres Land.

Mit Nadelstichen wie Altınderes Arbeit bestellte das heitere Kommerz-Festival Cappadox den Boden der Kritik. Aber in einem Land, dessen Präsident allen die Faust zeigt, die „ein Land der Löwen zu vegetarischer Diät zwingen wollen“, wird die Gartenpflege eben zwangsläufig zu einem Akt des Widerstands.

Ingo Arend

Veröffentlicht in: taz vom 27.05.2016

Bild ganz oben: Live Konzert des Sun Ra-Orchesters beim Cappadox-Festival in Uchisar. Foto: Ingo Arend