Artefakt aus Phantasie und Frohsinn

 

Aaah, Petrus wäre gewiss selig! Denn auf Christo’s Floating Piers im Lago d’Iseo könnt‘ er jetzt über’s Wasser gehen statt neben Jesus Christus im See Genezareth abzusaufen. Wieviel Millionen Leute schon dort waren, im Lago d’Iseo zwischen Bergamo und Brescia? Egal – sie pilgern unaufhörlich. Wahrscheinlich mach‘ ich mich auch auf den Weg. Aber man mus sich sputen: 16 tage nur, sedici giorni, dann werden die Stege wieder abgebaut. Alles Sensationelle, wirklich Magische, Auratische muss rar, limitiert sein. Ein begehbares Kunstwerk, optisch-taktil, ein body talk mit Farbe und Form, am liebsten barfuß, ein Kinderglück, eine sinnlich aufscheinende Idee, eine soziale Skulptur internationaler Promenierer, ein come together auf einem mit safrangelbem Farbband zum Geschenk divinisierten Naturkleinod, diesem See, worin sich nun Lachen und Friede, Verspieltheit und Tänzeln, aber auch Tourismus und Größenwahn spiegeln. 600 Lavoristi arbeiteten 5 Tage, die 220 000 Plastikwürfel mit ebenso vielen Klammern und 200 Ankern zu je 5,5 Tonnen, 37 000 Metern Seil, 70 000 Quadratmetern Filz und 100 000 Quadratmetern Stoff zu diesem Artefakt aus Phantasie und Frohsinn zu verbinden. Schon 1969 plante er so was Schwimmendes im Rio de la Plata, 1996 dann in der Bucht von Tokio, und jetzt, nach Tests im Schwarzen Meer, hat er’s gemacht, dieser Macher, griechisch poiein, der Poet, den wir ja zuvor als nicht minder bizarren, staunenswerten Verpackungskünstler kennen. Die 15 Millionen Euro hat Christo selber gezahlt – er wird nicht in Armut im See versinken, sondern locker ein paar Milliönchen mehr einspielen: commercium admirabile! So what? Yeah!

Das ist mal was Anderes, ein Außergewöhnliches im Gewöhnlichen, ein Extraordinaires im Ordinairen. Drei Kilometer lang sind die orangenen Wege auf dem blauen Wasser, die kraft der 220 000 Pontons das Städtchen Sulzano mit der großen Insel Monte Isola und der kleinen Isola San Paolo verbinden. „Che spettacolo!“ „Grande bellezza“ oder „grande sporchezza“, eine Riesensauerei? Vielmehr eine Art profaner Eucharistiefeier zur Teilhabe an einem vergnüglichen Einfall, der zum hic et nunc einlädt: Präsenz/s aus „heroischer Naivität“, wie die ZEIT Christo’s Genie nannte. Jedenfalls herrscht Ausnahmezustand am Lago d’Iseo.

Entschieden durch seinen Souverän Christo. Eine Einladung zur Flanerie. „Der tägliche Spaziergang rettet das Leben“ meinte der Philosoph Michel Serres in sei-nem Buch Cinq Sens einmal. Christo’s Swing über den See, nebenbei eine Daseinsmetapher unseres aufrechten Gangs auf schwankendem Grund, ist ein Sommerintermezzo für die Ewig-keit. Ja, klar, ein Fetz, Gaudi, Kirmes, schierer Nietzsche, oberflächlich auf Tiefe. Dennoch, allem zum Trotz, ist es Kunst, pure Championsleague der Kulturlogistik, Christo‘s Können, worin sich Traum und Tat verschwistern. Und: sie tut nicht weh, null Destruktives, wie so vieles Grausige in der aktuellen Welt. Solches Spazierengehen gefällt, vergnügt, ist schön, egal, ob‘s nun auch wahr und gut sei. “Credo in Christo” T-shirts gehen weg wie warme Semmeln. Ob sich Petrus eins übergestreift hätte? Grazie tante, caro, egregio Christo!

Jochen Wagner

Jochen Wagner

ev-akademie-tutzing.de

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Bild: CC BY 4.0  Luftbild von Christos Projekt „The Floating Piers“ auf dem Iseosee

Author: Reinhard Kraasch