Kino-Bilder der Arbeit: Ein 100 Jahre altes Missverständnis

Von der ersten öffentlichen Vorführung des „Kinematografen“ in einem Pariser Café bis zum totalen Erlebnis im Multiplex-Kino unserer Tage zieht sich als ein roter Faden durch die mehr als hundertjährige Geschichte des Kinos ein Kampf um die Bilder. Im Kino, sagt die eine Fraktion, wollen wir für ein paar schöne Stunden vergessen, wie bedrückend, wie gleichförmig unser Alltagsleben ist. Vergesst die Fabrik, vergesst den Spülstein und vergesst vor allem, wie das zusammenhängt, die Maschinen, die Arbeit, die Familie, und die Politik. Sehen wir uns lieber die Paläste versunkener Reiche an, den Heldenmut einsamer Reiter, die Seelenpein vornehmer Damen, und wenn uns nichts anderes hilft, den Alltag schnell zu vergessen, dann machen wir ein bisschen das Tor zur Hölle auf und lassen für zwei Stunden Tod und Teufel los. Eine andere, kleinere Fraktion hat dagegen immer Einspruch erhoben. Das Kino kann uns auch helfen, unsere Wirklichkeit genauer anzusehen, als wir es gewohnt sind, es kann uns statt in einsame Träumer auch in gemeinsam Handelnde verwandeln. Oder wenigstens in Leute, die über gemeinsames Handeln miteinander sprechen.

Der Kampf zwischen diesen beiden Tendenzen im Kino ist, wie wir wissen, nie besonders fair gewesen. Das „bürgerliche“ Kino, das von der Arbeit und von den Arbeitern nichts wissen wollte, hat nicht nur alle Illusionstechniken auf seiner Seite, es hat sich hier und dort auch des Staates bedient, um die unliebsame, realistische Konkurrenz loszuwerden. Heutigen Tags genügt der multimediale, globalisierte Markt der Bilder. Und das Kino im mehr oder weniger realen Sozialismus hat, nach kurzen, aufregenden Phasen von Engagement und Experiment, vor dem Anspruch der Propaganda die Waffen strecken müssen. Viel zu lernen gibt es dort, leider, nicht.

So stehen hunderten und aber hunderten Filmen, die uns zeigen, was passiert, wenn A B liebt und C was dagegen hat, und noch mehr Filmen, die zeigen, wer wen warum totschießen muss, nur eine Hand voll von Werken gegenüber, die in Bildern darüber nachdenken, was die Arbeit ist, was sie mit den Menschen macht, und wie man aus ihr ein Mittel hätte machen können, das der Entfaltung und nicht der Unterdrückung dient. Und das ganze, bitteschön, auch noch ohne Kitsch, ohne pädagogischen Zeigefinger und ohne den Spezialeffekt der Ideologie!

Das Kino ist eine Kunst des Perspektivwechsels. Einer der ersten „Erfolgsfilme“ der Kinogeschichte stammt von den Gebrüdern Lumière und zeigt nichts anderes als die Arbeiter, die die Fabrik der Filmemacher verließen. Die Kamera stand dabei im Büro der Fabrikherren, hoch über den Arbeitern. Für das bürgerliche Publikum war das ein Teil der Distanzierung: Arbeiter als exotische Wesen im Herrschaftsblick. Aber die Arbeiter konnten sich in einem solchen Film auch sehen, wie sie sich selbst nie gesehen hatten, aus der Perspektive des Besitzers. Für den Preis einer Kinokarte kann man sich einen Blick kaufen, der vorher aus Klassengründen unmöglich war. Dass aus dieser eher unbewussten Doppeldeutigkeit so schnell und reibungslos eine Traummaschine werden konnte, deren propagandistische Züge kaum mehr wahrgenommen wurden, liegt nicht zuletzt daran, dass in den ersten zwanzig Jahren des neuen Mediums die Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften, schließlich sogar die Arbeiterbildungsvereine das Kino entweder ignorierten oder ihm sogar ablehnend gegenüberstanden, und das, obwohl auch in der Vorkriegszeit genügend Zahlenmaterial darüber vorhanden war, wie groß der Anteil der Arbeiter, vor allem der Frauen und Kinder, am Kinopublikum war. Doch statt eine „Mitbestimmung“ im Reich der Bilder zu verlangen, zog man sich auf die „klassischen“ Künste zurück. Während die Arbeiterbewegung versuchte, das Theater zu erobern, überließ es das Kino der Gegenseite. Diese historische Ungleichheit zwischen Arbeiterbewegung und Medienentwicklung ist, so scheint es, nie wirklich aufgehoben worden.

Im Deutschland der Vorkriegszeit war die Perspektive, in der Fabrikarbeit gezeigt wurde, eindeutig: In einem Film wie „Tragödie eines Streiks“ (1911) muss der Tod der Tochter und das Leiden von Henny Porten dem Arbeiter zeigen, dass Streik eine böse Sache ist. Dafür darf die Porten, der große Star dieses Vorkriegskinos, in anderen Filmen immer wieder aus der elenden Daseinsform eines Arbeiterkindes oder Ladenmädchens durch Heirat mit dem richtigen Mann erlöst werden. Aschenputtel statt Arbeitskampf. Arbeit wurde im Kaiserreich gleichsam im Kino nur aus der Negation heraus dargestellt, als Schicksal, als notwendiges Opfer und als Hölle, der man durch das Wunder der Liebe entkommt. Oder durch den Krieg, der die Maschinisierung, die vordem nur als Fluch verstanden werden konnte, einem nationalen „Sinn“ unterordnete.

Selbst in einem filmischem Meisterwerk wie F.W. Murnaus „Der letzte Mann“ wurde die Arbeit „bürgerlich“ gezeichnet. Das war nicht nur eine Studie über zwei Welten, die der kleinen Leute im Elend oder gerade einmal darüber, und die des mondänen Hotels, in dem der Held (Emil Jannings) eine wenn zwar subalterne, so doch respektable Stellung einnimmt. Arbeit war hier vor allem die soziale Würde und  hierarchische Verständigung des einzelnen. Als er sie verloren hat, versucht er vergeblich die Katastrophe in seinem Leben durch den Betrug aufrechtzuerhalten.

Gegen eine solche „tragische“ Definition der Arbeit (angesichts einer vollkommen gleichgültigen Gesellschaft im Hintergrund) setzte in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts endlich auch eine Gegenbewegung ein. Jetzt entstanden auch Filme wie „Schmiede“ (1924) und „Freies Volk“ (1925), ein gewerkschaftlich unterstütztes Großprojekt, in dem der Weltfrieden durch einen Generalstreik aller Arbeiter der Welt gerettet wird. Schön wäre es gewesen! Fritz Langs „Metropolis“, der im selben Jahr entstand, war noch einmal eine große filmische Auseinandersetzung mit der Fabrik als Lebensraum, mit der Gewalt der Maschinen und mit der Klassengesellschaft. Was ideologisch davon zu halten ist, lässt sich in mindestens zwanzig Doktorarbeiten nachlesen. Was das ästhetische anbelangt, können wir uns noch heute diesem Sog der Bilder nicht entziehen, die eine perfekte Mischung des Phantastischen und des Realistischen bieten, etwas, das weit weg in der Zukunft liegt und ganz nahe bei uns: die totale Stadt als totale Fabrik. Und wieder entwickelt sich da eine ganz eigene Linie im Kino: die Verkleidung unserer Diskurse um Arbeit und Politik in einem futuristischen Genre. Wenn man nur genau hinsieht, dann sind auch solche Effekt- und Actionknaller wie, sagen wir „Terminator“, oder „Matrix“ verkleidete Diskurse über die Zukunft der Arbeit. Nicht nur darüber, wie sich in Zukunft die Beziehung zwischen dem Menschen und der Maschine gestalten wird, oder zwischen dem Menschen und seinen digitalen Hilfsinstrumenten, sondern auch darüber, ob und wie der Mensch der Zukunft sich noch über die Arbeit definieren und empfinden, ob er ein anderes soziales Handeln an ihre Stelle setzten kann, oder ob sein Leben ein Dahindämmern im Medien- und Drogenrausch sein wird.

In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts ging die Industrialisierung in mächtigen Schritten voran; in den USA modernisierte man das Fließband und die „neue“ Fabrik. Als Charles Spencer Chaplin 1934 unter dem Eindruck der ersten durchautomatisierten Fabriken den Film „Modern Times“ drehte, einer der hellsichtigsten, kritischsten (und natürlich komischsten) Filme über Fabrikarbeit und ihre politische Bestimmung, stand Deutschland schon im Zeichen des Hakenkreuzes.

Paradoxerweise hatte auch der faschistische deutsche Film kaum Bilder der Arbeit anzubieten, obwohl die Propaganda ja vor „heiligen“ Arbeitsmetaphern strotzte. Der deutsche Mann zerfiel im Kino in den heroischen Kämpfer und den kleinbürgerlichen Mitmacher, dem nicht die Arbeit, sondern die kleinen Freuden des Alltags und liebenswertes Familienchaos am Herzen lagen. Und beinahe nahtlos setzte sich diese Ignoranz im Kino der Wirtschaftswunderzeit fort: Zum einen führte der Weg in die Idylle von Bauern und Förstern zurück, in der sozialer Aufstieg und Modernisierung höchstens durch die Tankstelle am Ort signalisiert wurde, zum anderen erlebten wir ein Traumland des deutschen Unterhaltungsfilms, in dem sich eine mehr oder weniger gemütlichen Beamten- und Angestelltenkultur etablierte. Auch die Fabrik sahen wir nach wie vor aus der Perspektive des Besitzers, des freundlichen Patriarchen, der es liebte, seine Arbeiter zu duzen und sich von ihnen zum Geburtstag ein Ständchen bringen zu lassen.

Ein „proletarisches Milieu“ gab es erst wieder in der Verwahrlosungsphase der späten siebziger Jahre, und dort bezeichnenderweise in Sexfilmen wie „Lass jucken Kumpel“. Genau wie es schon in der Weimarer Republik den Arbeiter in den „Milljö“-Filmen gegeben hatte, als einen exotischen Triebmenschen mit einer eigenwilligen Form von Humor. Mittlerweile haben wir die komische Variante als „Proll“ im Kino und im Fernsehen, und niemand macht sich Gedanken darüber, wie tief dieser Typus in die Geschichte unserer Bilder reicht.

Auch der neue deutsche Film tat sich enorm schwer mit halbwegs realistischen Bildern der Arbeitswelt, vermutlich weil die meisten seiner Protagonisten einfach nicht kannten, wovon da zu sprechen gewesen wäre. Erst die Berliner Arbeiterfilme und etwa Fassbinders TV-Serie „Acht Stunden sind kein Tag“ knüpften in ihrer eigenen Art an das Arbeiterkino der Weimarer Republik an. Doch wenn man damals viel von Arbeit und wenig vom Kino verstanden hatte, verhielt es sich nun umgekehrt. Jedenfalls verfehlten sich auch dieses mal die Realität der Arbeitswelt, die Welt-Bilder der Arbeiter-Organisationen, die medialen Gewohnheiten der Adressaten und die Ansprüche der Filmemacher und -macherinnen. Die Hoffnungen auf ein realistisches Kino der Arbeiterklasse, das in Großbritannien hartnäckig seinen Platz verteidigte, erfüllten sich nicht. Und auch die realistischen Alltagsserien im deutschen Fernsehen der Endsiebziger wurden bald als „Sozialklimbim“ abgeschafft. Die Spaßgesellschaft interessierte sich nicht für Arbeitsbedingungen, und schon gar nicht für die in einer Fabrik, die sowieso immer menschenleerer wurde. Nicht die Arbeit, sondern die Arbeitslosigkeit, die individuelle wie die strukturelle, scheint ein Kino-Thema unserer Zeit. Nach den Yuppies und den kleinbürgerlichen Hedonisten der Beziehungskomödien entdeckte das deutsche Kino am Beginn der neunzehnhundertneunziger Jahre den arbeitenden Menschen, der um sein Leben und um seine Würde kämpft. Aber in Filmen wie „Das Leben ist eine Baustelle“ gibt es weder so etwas wie eine „Arbeiterklasse“ noch ein Ethos der Arbeit. Die Menschen jedenfalls sind an ihren unstabilen Arbeitsplätzen ebenso allein wie in ihren Wohnstätten, die sie so schnell verlieren können wie den Job. Paradoxerweise entdeckt unser Kino die Arbeit in einer Phase, in der sie ihre Schlüsselrolle im Leben der Gesellschaft zu verlieren droht. In der Systemtheorie etwa von Niklas Luhmann können wir uns eine Gesellschaft vorstellen, in der gar nicht mehr wirklich gearbeitet wird, sondern nur noch Geld und Kommunikation ausgetauscht wird. Das muss so nicht stimmen. Aber die Frage nach der Zukunft der Arbeit wird nicht bloß in den Universitäten und in den Chefetagen der Konzerne verhandelt, sondern an jedem einzelnen Leben. Filme wie „Das Leben ist eine Baustelle“ geben das Ende der Industriegesellschaft als vielleicht kontroverses, aber irgendwie doch verbindliches sittliches Modell wieder.

Um so etwas wie Mitbestimmung geht es in dieser Transformationsphase trotzdem; das Kino (gedacht als das erste und immer noch maßgebende Teil des Gesamtkomplexes audiovisueller Medien) kann diesen Prozess wiedergeben, weil es ihn als industrielle und post-industrielle Produktion selber enthält (das Kino ist schon immer einen Kick industrieller, post-industrieller, digitaler, globaler und virtueller als der Rest der Produktion), und „wir da unten“ haben ein Recht darauf, die Bilder mit zu bestimmen, die sich unsere Kultur von der Arbeit macht und von dem was aus ihr wird. Denn die Geschichte der Arbeit und die Geschichte des Kinos sind ja noch nicht zu

ENDE

Autor: Georg Seesslen