Das Kino überschreitet wieder einmal letzte Grenzen

Der Film, wie wir ihn aus den Programmkinos, von den Festivals und aus den Feuilletonseiten kennen, hat, was die Darstellung von Körpern und von Sexualität anbelangt, in den letzten drei Jahren fast beiläufig ein paar Tabus geknackt, ohne dass dies große Aufregung, gar so etwas wie eine Neuauflage der „Porno-Debatte“ ausgelöst hätte. Wir sehen Großeinstellungen auf Penis und Vagina, die Kamera schaut beim Geschlechtsverkehr nicht mehr weg, und das Bild des menschlichen Körpers scheint gerade dort zu faszinieren, wo er seine letzte gesellschaftliche Maske, Selbstkontrolle und, ja, auch Schönheit verloren hat.

Das Kino, von den sozialen und Körper-Experimenten der DOGMA-Filme über die Klage der Verzweiflung in Bruno Dumonts „La Vie de Jesus“ oder „L’Humanité“, die Erforschungen des weiblichen Begehrens in „Romance“ von Catherine Breillat bis zum Hard Core als Kunst-Thema in „Guardami“ oder „Baise-moi“, weigert sich, vor den letzten Wirklichkeiten zurückzuschrecken oder in eine Zeichensprache des „Erotismus“ auszuweichen, es weigert sich, Ausreden oder Attitüden zu verwenden. Es guckt einfach hin, und manchmal verfällt es dabei ins Starren. Sexualität wird nicht mehr dargestellt, weil sie der utopische Fixpunkt des Begehrens in den Bildern ist, das große Versprechen, das sich nie vollständig erfüllen darf, oder weil man mehr oder weniger kunstreich um das Verbotene kämpft, Schock und Provokation als letzte Waffe der Ästhetik. Der Körper und die Sexualität werden in diesen Filmen dargestellt, weil es sie gibt. Nicht am Anfang, nicht am Ende der Impulse zu erzählen, sondern mittendrin.

Sexualität darstellen, weil es sie gibt, heißt auch, sie darstellen wie sie ist. Nicht als Traum ihrer Inszenierung, wie im filmischen Erotismus, nicht als Bild der Verdammung wie bei Bergman oder Visconti. Daher ist dieser neue Blick des Kinos auf Leiber und Genitalien vielleicht nicht pornografisch im alten Sinn, er substituiert weder die Praxis durch das fetischistische Ritual noch vermag er durch Überhöhung zu stimulieren. Aber er ist auch alles andere als anti-pornografisch im Sinne eines Kamera-Blickes, dem es mehr noch als um die Erhaltung um die Konstruktion der Würde des Bildes geht. Es ist ein post-pornografischer Blick, an den wir uns da, mehr oder weniger, gewöhnen.

Wie das Pornografische selbst, so ist auch das Post-Pornografische im Kino nicht allein durch das bestimmt, was wir sehen, sondern auch durch das, wie wir sehen. Im übrigen ist es stets unser eigener Blick, der die letzten moralischen und ästhetischen Entscheidungen trifft. Und darin schon liegt eine der Wesenheiten des post-pornografischen Blicks, dass er diesen Blick zum Thema macht.

Und was noch? Sexualität muss nicht mehr dramatisch, schön oder grotesk sein. Sie benötigt am Ende nicht einmal mehr die narrative Ausrede. (Erinnern wir uns an frühere Zeiten, wo sexuelle Bilder gerade noch erlaubt waren, weil sie etwas zu „bedeuten“ hatten, oder weil man erst durch sie die Charaktere verstanden hätte.) Die Kamera ist viel mehr Zeuge als Teil der Inszenierung, und sie signalisiert dabei schon einen Aspekt der Verzweiflung des post-pornografischen Blicks, der an das Glück als Ergebnis der Sexualität nicht mehr glaubt: Der post-pornografische Blick zelebriert förmlich seine eigene Ausgeschlossenheit. Vielleicht ist er am besten dargestellt in jener Szene von „L’Humanité“, in der Inspektor Pharaon die begehrte Nachbarin sieht, die am Boden mit einem anderen Mann fickt. Er kann nicht wegschauen.

Sexualität ist im post-pornografischen Blick also nicht die Erfüllung des Begehrens, das, worauf alles hinaus will, sondern eher das, worum man nicht herumkommt. Das muss nicht immer so trist sein, wie bei Dumont, wo der Blick auf  die Körper ganz buchstäblich die Welt verschließt, aber selbst in „Baise-moi“ und „Romance“ hat dieser Blick etwas Finsteres, als spuke der schreckliche Geist des mehr oder weniger heiligen Augustinus noch in den Bildern des weiblichen Begehrens. Sexualität ist transitiv in diesen Filmen, nicht utopisch. Weshalb nicht nur in der Psyche ihrer Heldinnen und ihrer Helden, sondern auch in der Rhetorik der Kamera das Zärtliche und das Sexuelle gründlich auseinander gebrochen ist.

Auch dies unterscheidet den post-pornografischen vom pornografischen Blick: In diesem konnte Sexualität noch als große Ganzheit erfahren werden, weil er radikal alles andere ausschloss – im pornografischen Blick ist ganz einfach alles Sexualität, und Sexualität ist die Antwort auf alle Fragen. Im post-pornografischen Blick ist die Sexualität zerfallen. Die Naheinstellung fetischisiert nicht mehr, sondern dokumentiert die Fremdheit. Ein Ausgeschlossensein gerade durch den Blick, der noch die kleine Geste des Helden von PORNOSTAR von Toshiaki Toyoda bestimmt (der ansonsten einem ganz anderen Diskurs folgt), mit der er auf das sexuelle Geschehen reagiert: Mechanik auf Mechanik. Der post-pornografische Blick ist vor allem ein gespaltener, einer der sich vor lauter Verzweiflung darüber, das sich das Objekt der Begierde umso mehr entzieht, je genauer man es ansieht, in seine analytische Strafe verkehrt. Der Blick wird zum Zwang. Ist es also das, was ihr sehen wollt? Dann seht nur noch genauer hin. Und erkennt euch selbst.

War der ins Sexuelle gekippte romantische Impuls einer langen Suche für die Jahre des feministischen Aufbruchs und leicht darüber gleichsam der letzte Versuch, die „alte“ Pornografie zu retten, die sexuelle Crusade als Selbsterfahrungstrip, so verwirft der post-pornografische Blick auch dies. Das sexuelle Experiment ist notwendig (und die Notwendigkeit der Sexualität ist die triste Demontage des Utopischen; der post-pornografische Blick erfasst, ins Alltägliche verlängert, nicht, was man will, sondern was man braucht), aber es führt nur in endlose Kreisbewegungen. Anders als im pornografischen Blick erkennen wir im post-pornografischen schon den Mangel, so wie er im Körper schon den Zerfall zelebriert.

Wem oder was aber entspricht dieser post-pornografische Blick, wem nützt er, und über wen spricht er? Die Ernüchterung und, ja, Verzweiflung der Generation der Hedonisten, der Aufbruchshedonisten der 1979er zuerst und dann der coolen Hedonisten der 1980er, allein kann der Grund dafür nicht sein. Am Ende der „sexuellen Revolution“ stand ja ein Grauen davor, wie sehr sich in der Sexualität vor allem die Diskurse von Ökonomie und Macht „befreit“ hatten. Ernüchterung und Grauen immer wieder auch in den Blicken auf die missbrauchten und gewalttätigen Kinder, wie in Sandrine Veyssets „Victor“ oder Doillons „Petits Frères“. Aber auch in anderen Zusammenhängen sehen wir immer wieder die Gewalt als gesellschaftliche Praxis, und der post-pornografische Blick, gespalten bis in den Kern, imitiert und kritisiert zugleich die Gewalt. Der post-pornografische Blick richtet sich nach unten, auf die Verlierer und Opfer.

Der Körper, die Sexualität, Lust und Begehren – und was wir sonst noch für Wörter für den merkwürdigen Zusammenhang von Mechanik und Phantasie haben (für das „Getöse zwischen Göttlichem und Trivialem“, wie es Catherine Breillat nennt) – das alles verliert in diesem Blick seine Metaphysik. Es ist nicht mehr Versprechen noch Fetisch. Nicht Utopie sondern Alltag. Man mag das „realistisch“ nennen, am Ende gar aufklärerisch.

Zumindest macht es die Kritik schwer. Können wir denn anders als uns schützend vor die Filme wie „Guardami“ zu stellen, wenn Klerus, populistische Politik und Justiz wieder nach dem Verbot greifen, so scheinheilig, wie man dort nun einmal ist? Tun Festivals und Programmkinos nicht recht daran, die moralischen Entscheidungen ausschließlich dem Publikum zu überlassen? Und was ist ein Close Up auf ein weibliches Geschlecht gegen die Massenfeier des Voyeurismus von „Big Brother“?

Am Anfang der 80er Jahre erfuhren wir in dem Buch von Richard Sennett, „Die Tyrannei der Intimität“ davon, wie die so genannte Privatsphäre durch die Medien perforiert und in den öffentlichen Raum gestellt wurde. Überhaupt wurde das Verhältnis von Privatem und Öffentlichen neu definiert, was unter anderem auch bedeuten mag, dass der Begriff der „Moral“ einen vollkommen neuen Inhalt bekommt. Bloß welchen?

Das Fernsehen gab, sehr viel früher als das Kino, darauf eine Antwort. Es machte sich, genauer gesagt, selber zur Instanz dieses Transformationsprozesses – und alle die „Skandale“, die wir in diesem Programm zur Entgrenzung von Intimsphäre und Öffentlichkeit erleben, sind nichts weiter als neue Kapitel in diesem Prozess. Für das Kino war es also ein Problem, die Öffnung der Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu dokumentieren, ohne in die alten Muster zurückzufallen, zum Beispiel in jene Komplizenschaft zwischen der Blicklust der Zuschauer und der Zeigelust der Kinomaschine, die ihren dann doch wieder „privaten“ Vergnügungen eine moralische oder ästhetische „Ausrede“ umhängt. Pornografie, das galt auch in den liberaleren Jahren als ausgemacht, ist ein Vergnügen aus dem Privatbereich für den Privatbereich, das nur einen Umweg über die öffentlichen Kanäle nimmt. Und es war ein Kino-Problem, den Paradigmenwechsel in der Sicht auf die Sexualität nachzuvollziehen, der, wenn auch noch lange nicht vollständig, die alten erotischen Mythen und Ideale (einschließlich die der Hippies, die der 1968er und der Subkulturellen) beseitigt. Der Skandal dieses neuen pornografischen Blicks im Kino liegt darin, dass er auf Menschen des Mainstreams in vollständiger Offenheit gerichtet ist. Und mehr noch: der post-pornografische Blick ist zugleich ein moralischer Blick.

Die „neuen“ pornografischen Filme handeln von allem möglichen, nur nicht vom Glück. Sie reflektieren zum Teil auch eine so totale Öffnung von Körper und Blick, die am Ende nur den Tod bedeuten kann – und tatsächlich scheinen ja eine Reihe dieser Filme, wenn nicht vom Wahn so vom Tod besessen, von einer radikalen Verurteilung der Welt nun nicht mehr im Blick (der sterbenden Melodramen-Heldin à la Lilian Gish), sondern im Bild auf die hoffnungslose Nacktheit. Es ist eine „ungeschützte“ Beziehung zwischen Blick und Bild, die da abläuft, und der post-pornografische Blick ist einer, der dabei auch die Gefahren sieht.

In der post-pornografischen Konstruktion erzählt sich Sexualität eher als Vergangenheit denn als Zukunft. Der klassische (Hollywood-)Film erzählte auf das „große Ereignis“ hin, so lange, bis abgeblendet werden kann, bis das Kaminfeuer knistert, der Vorhang sich senkt. Vielleicht ist die ganze Geschichte des Kinos um diesen magischen Moment herum zu verstehen; um jede Sekunde Blick wurde in der Gesellschaft und in den Bilderfabriken gerungen und gefeilscht. In den neunzehnhundertsiebziger Jahren hatte zumindest ein so oder so privilegierter Teil der Kinozuschauer den Vorhang für sich gelüftet, ob Kunst, Underground oder Porno. In der „Geschichte der O“ schien sich so etwas wie ein Konsensbild für den Mainstream gebildet zu haben (ungeachtet der Einsprüche von links und rechts), ein Genuss-Versprechen im moralischen Jenseits. Die 1980er Jahre scheuten sich vor der Ernüchterung, indem sie in das Grauen des Körpers flüchteten, sie zeigten nicht seine triviale Wahrheit, sondern seine Verletzlichkeit. Wenn du glaubst der Körper, das Intime, sei nichts mehr wert, dann zerschneide, durchbohre, zerfetze ihn! Aber dann? In den 1990er Jahren wurde vergeblich versucht, eine neue, schwarze Romantik zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu errichten. Die Menschen machten sich noch einmal auf eine Suche, sie hatten dies und jenes ausprobiert, aber sie wollten es noch einmal wissen: Wer bin ich? Man kann zu diesem Zweck in den finsteren Datenkanälen und in den Phantasien von Serienmördern verschwinden, man kann aber auch endlos darüber reden. Es führt zu nichts.

So ist an der Wende der Jahrtausende klar, dass man die Geschichten gleichsam von er anderen Seite her erzählen muss, aus der großen Ernüchterung, aus der großen Enttäuschung heraus. Nicht bloß die puritanischen Phantasien à la „Body Shots“ (von Michael Christopher) mahnen uns, dass alles nur in Vergewaltigung, in Krankheit, in Elend endet, nicht nur die endlosen Bilderströme der TV-Movies, deren Titel klingen wie die Themen schmuddeliger Talk Shows, auch der post-pornografische Blick selber ist eine Rite de Passage in negativer Richtung.

Gewiss hat die Konstruktion des post-pornografischen Blicks mit der Revolte der gender-Bilder und role models zu tun. Es ist nicht mehr so, dass ein Geschlecht sich das andere zum Fetisch, zur Utopie, zum reinen Gegenstand macht. Recht eigentlich begann der post-pornografische Film mit Blicken auf das männliche Genital, im Vorübergehen (oder im Vorüberschwimmen sozusagen wie in „Color of Night“, wo die full frontal nudity von Bruce Willis noch ein Zensurspielchen initiierte). Der Schwanz zieht die Blicke nun nicht mehr an wie ein Schreibgerät des pornografischen Textes der Welt; er hängt so herum, steht auch schon mal auf, verspricht einiges und hält nicht halb so viel. Mit dem post-pornografischen Blick auf den Schwanz hat die „traditionelle“ Pornografie im Grunde ihr Subjekt verloren; nun muss auch nicht mehr in seinem Sinne (zum Beispiel im Sinne der radikalen Isolation des Sexuellen in der Welt, also dem Ausblenden seiner Schwäche) gelogen werden. Die „alte“ Pornografie wird dabei cool; ihre Vertreter werden einerseits in den Kreislauf der Intim-Öffentlichkeit,, etwa der Fernseh-Talkshows, eingespeist, zwanghaft entmarginalisiert und zugleich Objekt der Begierde eines sexuellen Overgrounds, der an ihnen vermeintliche Authentizität zu tanken gedenkt. Pornostars als Filmdarsteller – Tracy Lords musste dafür noch beinahe „anständig“ werden, um in einer Karriere-Geschichte zu erzählen, wie man sich gleichsam in den moralischen Mainstream zurückhäutet. Früher konnten Stars wie Sybille Rauch oder Marisa Mell noch zu „Pornodiven“ „herabsinken“. Jemand wie Rocco Siffredi muss dagegen schon in „Romance“ oder „Guardami“ gerade das Pornografische einbringen, das wir in Filmen wie Paul Thomas Andersons „Boogie Nights“ noch als einen heftigen Dialog zwischen diesem Untergrund und der Gesellschaft, als Fragment von Dissidenz kennen und lieben lernten. Und vielleicht ist es gerade auch dies, was nach den vielen komischen und melodramatischen Auflösungsspielen und einem Kino der Gendernauten für die Ernüchterung im post-pornografischen Blick sorgt: Wenn die Perforation von Öffentlichem und Privaten den aktuellen Status erreicht hat, dann ist über Sexualität auch keine Dissidenz mehr zu konstruieren. So muss unter anderem der post-pornografische Blick sogar noch so etwas wie Trauer über den Verlust des Pornografischen selbst in der Welt des öffentlichen Terrors der Intimität enthalten.

Natürlich gibt es auch die Umkehrung der Umkehrung: Ein Film wie „Eine pornographische Beziehung“ von Frédéric Fonteyne versucht gleichsam, das Unsichtbare der Sexualität zu retten: Ein Mann und eine Frau, die sich über eine Anzeige für eine ganz bestimmte sexuelle Phantasie kennen gelernt haben (welche das ist, erfahren wir nicht) und der einzige Blick, den uns der Film in das ansonsten verschlossene Hotelzimmer gestattet, zeigt nur eine gewöhnliche Umarmung. Tatsächlich versucht der Film wohl am konsequentesten, die Geschichte rückwärts zu erzählen, vom Sex zur Liebe sozusagen, aber eben auch von der Trivialität zum Geheimnis zurück. Das Intimste ist überhaupt nur ein McGuffin. Da wird nicht nur DER LETZTE TANGO VON PARIS (das ferne Vor-Bild des post-pornografischen Films) von rückwärts und mit neu verteilten Rollen erzählt. Ob uns das weiterbringt, ist natürlich eine andere Frage.

Autor: Georg Seesslen