Über Stanley Kubricks radikal-aufklärerisches Kino und seinen nachgelassenen Film »Eyes Wide Shut«

Es gilt als ausgemacht: Stanley Kubrick war ein monomaner Pessimist, ein Visionär der Hoffnungslosigkeit, einer, der, wie Pauline Kaël einmal schrieb, die Objekte liebte, weil er die Menschen verachtete. Stanley Kubrick war ein Regisseur, der uns überwältigte und der uns nichts zu sagen hatte über die »world of shit«, in der seine Figuren rotierten wie in einem bizarren Menschenzoo. Das Kino des Stanley Kubrick habe den Menschen aus seiner Geschichte vertrieben, Fortschritt sei bei ihm nur als Barbarei erschienen, Mitleid und Parteilichkeit seien nicht gefragt. Das Kino habe bei ihm den Pakt mit der Aufklärung gekündigt.

Man kann das, wie beinahe alles, auch anders sehen. Auch wenn es dann etwas komplizierter wird: Wenn wir die Entwicklung des Bewegungsbildes in der zweiten Hälfte der Kino-Geschichte betrachten, seine Sucht danach, immer fließender zu werden und damit das Denken in Zeitintervallen und von Raumperspektiven aus aufzuheben, seine Beschleunigung und Subjektivierung, so scheinen Kubricks Filme beinahe konservativ, ja ein großer Schritt zurück zu einer klar strukturierten Wahrnehmung. Selbst ein Film wie »2001«, den wir auch als »Drogenfilm« begriffen haben, ist in seiner Gliederung so klar und eindeutig, daß er in jedem Moment auch »gedacht« werden kann.

Als Henri Bergson zu Beginn der Kino-Geschichte den »kinematographischen Mechanismus des Denkens« beschrieb, ging er von einer Erfassung der Bewegung in zwei Strukturen aus:

1. Die Bewegung in Zeitpunkten: Wir denken – jedenfalls wenn wir uns nicht in »transzendentalen« Zuständen des Rausches, der Ekstase oder der Versenkung befinden – in eindeutigen Zeit-Komplexen, in »Momenten«, die sich dadurch auszeichnen, daß sie beendet werden. So wie wir die »große« Geschichte in Epochen einteilen (die mit einer »Dämmerung« beginnen und in einer Katastrophe enden), so teilen wir offensichtlich auch jede biographische oder alltägliche Empfindung in die Abfolge dramaturgischer »Momente« (die wir filmisch gesehen auch »Einstellungen« nennen könnten).

2. Die Konstruktion der Raumposition: So wie unsere Wahrnehmung an die Dramaturgie des Moments gebunden ist, so verlangt sie nach einer klaren Perspektive; so wie ein Mensch auf der Jagd oder auf der Flucht beständig kurz innehalten muss, um sich zu orientieren, und eher aus diesen »Standbildern« seine Raum-Empfindung zusammensetzt als durch die Randwahrnehmung in der Bewegung selbst.

Stanley Kubricks Filme »übertreiben« diese beiden Elemente, die Dramaturgie des Moments und die Konstruktion der Raumposition, so sehr, daß sie als »Abbildung« des Bergsonschen »kinematographischen Mechanismus des Denkens« erscheinen mögen. Jeder Übergang von einer Einstellung zur anderen, sei es als Schnitt, sei es – besonders deutlich in »The Shining« – als Überblendung, ist bei Kubrick insofern rhetorisch, als er zugleich eine innere Verbindung schafft (am berühmtesten natürlich der Match-cut in »2001«, in dem sich ein hochgeworfener Knochen in ein Raumschiff verwandelt, nicht weniger konsequent aber etwa auch die Verknüpfung des realen Labyrinths und seines Modells in »The Shining«, auf das der Nicht-Schriftsteller Jack Torrance mit bösem Grinsen schaut) und die Konstruktion von Moment und Raumposition neu bestimmt. Daher sind Kubricks ungewöhnliche Kamerapositionen weder willkürlich noch effekthascherisch; sie zwingen uns, den Vorgang der Konstruktion nachzuvollziehen. Sie zwingen uns, um es noch deutlicher zu sagen, den Film zu denken.

Die deutliche Gliederung, die Zusammensetzung des Geschehens aus erkennbar eigenständigen Elementen, manchmal sogar eine im Verhältnis zur Narration überdeterminierte Trennung dieser Teile (etwa durch die in der Art eines Rondos wiederkehrenden Bilder, durch Kapitelüberschriften, durch die Musik oder durch den Einsatz des Off-Erzählers) kennzeichnen seinen Stil. »Barry Lyndon« etwa setzt seine Erzählung durch die Off-Narration und die Musik immer wieder neu an, gerade hier aber wird diese Erzählung in »Kapiteln« oder entsprechenden Einheiten auch in seiner Willkür deutlich. Würde man versuchen, die Konstruktion von Moment und Raumposition nun mathematisch nachzuvollziehen, ja noch in der Metrik einer klassischen Musik-Komposition, bekäme man allenfalls vage Beschreibungen wie »Beschleunigung«, »Komprimierung« oder »Retardierung« heraus. Die Gliederung in klare Elemente, die uns als ein genau beobachtendes Gegenüber voraussetzt, steht einer inneren Dynamik des Geschehens gegenüber, die die Abfolge der Elemente unberechenbar macht.

So sehr uns also Kubrick, etwa durch den berühmten »Tunneleffekt« seiner Kamera, in seinen Film hineinzulocken versteht, so sehr setzt er – nicht allein durch seine Dramaturgie und den Einsatz eines distanzierenden Erzählers, sondern auch in der Bildgestaltung selber – doch immer wieder die Sprache und das Bild als der Betrachtung nicht ohne weiteres kommensurabel ein. Kubricks Filme sind nicht »bewohnbar«; es sind Kunstwerke, wie sie am ehesten den Ideen der Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts entsprechen mögen. Vermittelnd zwischen dem reinen Geist und der Anschauung und dabei fragend nach dem Wirken des Bewusstseins. Das Empfinden von Raum und Zeit in Kubricks Filmen ist weder von barocker Fülle noch von manieristischem Taumel bestimmt, sondern von einer neuerlichen Paradoxie: Sein Blick, der nicht versucht, einen natürlichen zu imitieren, sondern der immer den Betrachter, vielleicht den Forscher beschreibt, versucht eine Ordnung zu errichten, von der er im gleichen Augenblick weiß, daß sie den Suggestionen der Welt nicht zu entreißen sein wird. Die klare Gliederung, die Ordnung von Moment-Dramaturgie und Raumposition, wird daher zu ihrer eigenen Farce. In seiner Bild-Konstruktion, und die ist bei einem Film nun einmal mindestens ebenso bedeutend wie die »Story« und die »Charakterisierung«, wiederholt Kubrick also den Blick der Aufklärung und stellt ihn gleichzeitig in Frage.

Das Bild (die Einstellung, der Moment) scheint bei Kubrick, wir hören diesen Begriff immer wieder in den Beschreibungen seiner Filme, zur »Vision« zu werden. Das bedeutet zunächst freilich nichts anderes, als daß sich der Blick (die Wahrnehmung der materiellen Welt vor unseren Augen) nicht vollständig mit der »Sicht« der Dinge (der Erkenntnis der Welt in ihrer inneren und äußeren Ordnung) deckt. Gerade weil das Bild im Kino zugleich Bild und Sicht produziert, kann es auch auf Bilder verzichten, wir produzieren sie auf dem Umweg über die Sicht selber. Vermutlich funktioniert das Kino eben so, nämlich, um Gilles Deleuze ein wenig abzuwandeln, indem sich Bilder in uns »einschreiben« und indem wir mit dieser imaginären Schrift sowohl das Bild als auch seine Abwesenheit »lesen«. Ein Film wäre demnach nur »lesbar« in dem Text, den er selber in uns eingeschrieben hat.

Und gerade so funktionieren Stanley Kubricks Filme nicht. Sie sind nicht um das abwesende Bild herum konstruiert, das wir »aus unserer Sicht« selber rekonstruieren, und nie ist das Bild auf der Leinwand so eingesetzt, daß es sich in uns auch fortsetzt, wenn es verschwunden ist. Es verlangt statt dessen nach Rückkehr. Kubricks Kamera ist genau dort, wo das Bild entsteht, und der Moment seines Filmes hat die Dauer einer vollständigen Erkenntnis seines Inhalts. Dieser Blick ist, mit anderen Worten, nicht mythisch, sondern »wissenschaftlich«. Nichts versteht sich da von selbst, aber nichts verschwimmt auch in mystischem Nebel.

Die Beziehung zwischen dem Filmemacher und dem Zuschauer besteht nicht auf einem Einverständnis der Sicht, sondern aus einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse. (Dazu passt im übrigen Kubricks Wunsch, keineswegs nur das Publikum, sondern vor allem auch immer wieder sich selbst mit jedem neuen Projekt, mit jedem neuen Film, mit jeder neuen Einstellung, mit jedem neuen Übergang des Bewegungsbildes zu überraschen.) So ergibt sich eine denkwürdige Dreieinigkeit der Wahrnehmung in Kubricks Filmen: Der wissenschaftliche Blick, der das Material zunächst ordnet und einteilt, zu einem neugierigen Gang durch die Schaukästen der Träume. – Die »Sicht« eines Aufklärers an den Rändern der Aufklärung, dessen Furor nur allzu leicht missverstanden werden konnte als »verzweifelter Kampf eines Moralisten gegen das Böse in allen seinen Erscheinungsformen« (Dieter Krusche). – Das ästhetische Bild, das offenkundig um so schöner (und geheimnisvoller) zurückblickt, je schärfer der wissenschaftliche Blick es erfasst.

Erinnern wir uns: An Pudowkin, nicht an Eisenstein, orientierte sich der junge Kubrick, an jenem Pudowkin, der erklärte, das filmische Bild entstehe »Schritt für Schritt«, wobei jede Einstellung die »direkte Fortsetzung der anderen« sei. Und mehr noch: »Die Reihenfolge der Einstellungen ist der Ausdruck einer spezifischen Logik, welche nur dann vorhanden ist, wenn jede Aufnahme den Anreiz zur Übertragung des Interesses auf die nächste gibt.« Welch ein Unterschied zu Eisensteins »Montage der Attraktionen«! Auch Kubricks Übergänge sind vorwiegend additiv, wenngleich schon in seinen frühen Filmen, etwa in »Killer’s Kiss«, eine Vorliebe für den radikalen Perspektivwechsel zu beobachten ist, eine harte Störung der Identifikation, die nichts mit Eisensteins argumentativem Schnitt zu tun hat. In »Killer’s Kiss« werden wir beständig von einer subjektiven Empfindung aus dem Blickwinkel des Helden in eine objektive Betrachtung gestoßen, und beides bestätigt einander weniger, als daß es sich kommentiert. Kubrick, so könnte man wohl sagen, lockt uns durch seine Kamerafahrten immer wieder in die Labyrinthe seiner Filme hinein, um uns dann mit einem harten Schnitt und einer objektiven Aufnahme »vor den Kopf zu schlagen«. Dieses Stilmittel schien effektiv gerade in den phantastischen Filmen über die Gewalt, in »A Clockwork Orange« oder »The Shining«, am radikalsten aber wendet er es in »Barry Lyndon« an, wo wir uns auf (über-)langen Fahrten durch traumhaft schöne Landschaften und Bauten befinden, um dann mit einem radikalen, harten Schnitt aus der elegischen Melancholie gerissen zu werden. Kubrick zerstört selbst das Raum-Empfinden in seinen Filmen; nicht nur, um uns immer wieder auf das filmische Wesen seiner Erzählung aufmerksam zu machen, sondern vor allem, um dieses Raum-Empfinden als Illusion, als Produkt der Gesellschaft kenntlich zu machen.

Aber das Additive der Montage und die klassische Einheit von Ort und Zeit in den einzelnen (langen) Sequenzen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kubrick mit einer anderen Konstante der filmischen Erzählweise ziemlich radikal bricht, nämlich mit dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Weder folgt bei ihm aus Einstellung eins Einstellung zwei, noch folgt bei ihm aus Einstellung eins plus Einstellung zwei Einstellung drei etc. Seine Übergänge sind gerade deswegen so grandios und so schmerzhaft, weil sie über eine ganze Reihe von ästhetischen und thematischen Elementen miteinander verbunden sind, nicht jedoch über die Logik von Ursachen und Wirkungen. Am radikalsten hat Kubrick dies wohl in »Full Metal Jacket« zum eigentlichen Thema des Films gemacht, als er zeigte, dass der erste Hauptteil seines Films – die brutale Ausbildung der Soldaten – und der zweite Teil – die blutige Realität des Krieges in Vietnam – sich nicht logisch zueinander verhalten (und damit auch eine »humanistische« Argumentation unmöglich machen). Diese »Logik« im Kino ist nämlich ganz und gar nicht logisch, sondern im Gegenteil konventionell. Das heißt: Wir lesen den »normalen« Film vor allem aus Gewohnheit, wir lesen ihn, weil sich unser Blick abgeschliffen hat. Aufklärung im Kino heißt daher nicht: eine dem Projekt der Aufklärung und seinem Scheitern konforme Geschichte erzählen. Aufklärung im Kino heißt: unserem Blick seine analytische Autonomie zurückgeben.

Montage bedeutet bei Kubrick weder Natur noch Argumentation. Er dreht Pudowkin gewissermaßen um, der gesagt hat, daß »die Montage Schöpferin filmischer Wirklichkeit ist und dass die Natur uns nur das Rohmaterial zu unserer Arbeit gibt. Dies ist das eigentliche Verhältnis von Wirklichkeit und Film.« Während Pudowkin die Wirklichkeit zerlegt, um sie nur desto wirkungsvoller zusammenzusetzen, läßt Kubrick dem Zerlegten sein Recht. Es ist, zum Beispiel, höchst bewundernswert, wie er das Hotel Overlook in »The Shining« aus verschiedenen Settings »zusammensetzt«, so daß wir in jedem Augenblick das Gefühl haben, uns in einem wirklichen »ganzen« Gebäude zu befinden (ein Gebäude, das wir nur allzu gerne selbst einmal betreten würden), aber zur gleichen Zeit zerlegt er dieses Gebäude auch wieder und läßt uns durch seine Montage ahnen, daß diese Ganzheit eine Illusion ist: Es zerfällt vor unseren Augen nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit.

Jean-Luc Godard, der gewiss in vielem ein Antipode Kubricks in der Geschichte des modernen Films ist, hat zu Beginn der siebziger Jahre erklärt, in einer Welt, die unablässig sinnlose Bilder in den Medien und in der Werbung produziere, müsse der neue Filmemacher lernen, »wenig Bilder zu machen, um sie besser kontrollieren zu können«. Wenn man Kubricks visionäre Filme näher betrachtet, ist man verblüfft, daß sie in der Tat aus wenigen Bildern bestehen. Und diese Bilder nun sind aufs beste »kontrolliert«.

»Eyes Wide Shut«, der Kubricks letzter Film geworden ist, setzt das Spiel fort. Einerseits handelt es sich dabei um eine erstaunlich werkgetreue Verfilmung der Traumnovelle von Arthur Schnitzler, übertragen in ein »unwirkliches« New York von heute. Andrerseits geht es genau um das, was der Titel vorschlägt: um ein Sehen in den Traum hinein. Nicht im Sinne der Psychoanalyse, der Kubrick so wohlwollend-distanziert gegenüberstand wie Schnitzler, sondern als Frage nach seiner Konstruktion. Auf den ersten Blick geht es um einen Mann (Tom Cruise), der sich, ausgelöst durch die Erzählung seiner Frau (Nicole Kidman) von einem Beinahe-Ehebruch, auf eine erotische Traum-Reise durch die Nacht begibt, bei der sich die Bilder seines Begehrens immer wieder in Bilder der Angst und des Todes verwandeln und die Objekte seiner Begierde sich um so mehr entziehen, je näher er sie anzuschauen versucht. Auf den zweiten Blick schon geht es um mehr als um einen kleinen psychotischen Schub, der von der unlösbaren Beziehung von Gier und Angst ausgelöst wurde, es geht auch um die gesellschaftliche Konstruktion dieses Alptraumes.

Der Held ist einer, der, wie vordem »Barry Lyndon«, in einer Gesellschaft aufgestiegen ist, der er nicht wirklich angehört. Er läßt sich von ihr korrumpieren (verspricht als Arzt sein Schweigen über einen Beinahe-Drogentod), und doch gelingt es ihm nicht, in ihr Innerstes vorzudringen. Die Bilder, die er da zu sehen bekommt, sind vielleicht nur für ihn inszeniert, Bilder, die ihn fernhalten sollen, die seine Angst zwischen sich und der Welt aufrichten.

Der Wissenschaftler, der Voyeur, der Künstler, das Kind im ödipalen Drama: Sie alle müssen sich, um zu leben, ein Bild machen. Und dieses Bild ist von zwei Seiten bedroht: Wieviel enthält es vom eigenen Wahn, und wieviel Inszenierung ist darin? Wieviel von dem, was ich sehe, ist, was ich sehen soll? Kubrick entlässt seine Helden in ein »normales« Leben: Man wird nicht mehr träumen, nicht mehr forschen; man wird einander nicht mehr folgen in die Seitenwege von Angst und Begehren. Damit ist freilich nicht nur das Projekt des so oder so Aufklärung erzeugenden Blickes, sondern auch das Projekt der Liebe gescheitert (das in nichts anderem besteht als in einem Bild des anderen, das von sich behauptet, zugleich ideal und wahrhaftig zu sein, zugleich Bild und Sicht). Aber wir beginnen nun, darüber nachzudenken, worin dieses Scheitern besteht. Die zweite Aufklärung, für die es Zeit wird, wird durch das Bild gehen müssen. Kubricks Filme haben damit begonnen.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in konkret 09/1999