Jean-Pierre Jeunets Filme sind Kitsch. So what. Erstens ist es interessanter als die Grenze zum Kitsch zu ziehen, die Grenzen im Kitsch zu beschreiben. Und zweitens kommt es darauf an, wer welchen Kitsch für wen produziert. Also noch mal: Jean-Pierre Jeunets Filme sind Kitsch.

Aber Kitsch von der Sorte, a) bei der man sich ohne weiteres erwischen lassen darf, und b) zu der einem durchaus das eine oder andere einfallen mag. Jeunets Filme sind erfolgreich, manche extrem erfolgreich; so etwas macht (nicht ohne Grund) misstrauisch. Da stellt sich doch, lange bevor man über den ästhetischen Eigenwert spricht, die Frage, „welches Bedürfnis sie befriedigen“ und „welche Klischees sie bedienen“. Sind Jeunets Filme nicht auch Teil des französischen Neo-Provinzialismus, nettmenschliches Feelgood-Futter, wohlfeile Poeterei, wo scharfe Politik vonnöten wäre? Mais oui.Es sind jedenfalls, neben den Produktionen von Luc Besson vielleicht, die erfolgreichsten Exemplare jener Tendenz, die sich im französischen Kino in den späten achtziger Jahren bildete, in bewusster Abgrenzung zur „Tradition der Qualität“ (kunsthandwerkliches Erzählkino) und zur Erbschaft der Nouvelle Vague, dem Kino von Kopf und Revolte: „Le cinéma du look“.

Bedeutend für das Cinéma du look waren neben dem begnadeten Pop-Eklektiker Luc Besson die beiden Super-Melodramatiker Jean-Jacques Beineix (Diva, Betty Blue) und Leos Carax (Die Liebenden von Pont Neuf), gefolgt von Vertretern der Heftigkeit wie Matthieu Kassovitz (Babylon A.D.) oder dem Phantasten Christophe Gans (Pakt der Wölfe, Silent Hill). Man öffnete sich dem internationalen Markt, indem Impulse aus MTV-Clips, Werbung, Comics, Mode und Design ebenso übertragen wurden wie Anregungen der postmodernen Künstler unter den Filmemachern, David Lynch, Pedro Almodovar, Peter Greenaway. Bei alledem aber blieb das Cinéma du Look konzentriert auf eine zwingende Französischkeit, ja, genau besehen war dies der Trick an der Sache: dem Pop eine französische Seele geben. (Und das war verwirrend genug, um die Frage unbeantwortbar zu machen, ob das Cinéma du Look links oder rechts, reaktionär oder progressiv, naiv oder raffiniert war.)

Jean-Pierre JeunetJean-Pierre Jeunet, den man zusammen mit seinem Partner Marc Caro dieser neuen Tendenz des französischen Kinos zurechnete, war wohl zunächst der Spezialist für ein Cinéma du Retro-Look: Jules Verne, Surrealismus (auch von der Sorte, die man sich ins Wohnzimmer hängt, ohne damit irgend jemanden zu beunruhigen), deutscher Expressionismus, Montmartre-Souvenirs, Jacques Tati, poetischer Realismus, ein Paris, das sich in Zeiten vor der Hausmannisierung träumt, Fantomas und Abenteuer im Bauch (und vielleicht der Galle) von Paris, verbunden zu einem unbekümmerten, düster märchenhaften und gelegentlich absolut komischen Bildersturm.

Jeunet/Caro gehörten insofern auch zu den radikalsten Vertretern des Cinéma du look, als sie bereit schienen, im Streben nach dem richtigen Look „unfilmisch“, sogar antifilmisch zu werden. Jeunets Bilder sind vollkommen beherrscht, von Anfang an; es gibt nichts zu sehen, was der Autor nicht hinein gepackt hat. Er hat nichts gefunden, was er nicht auch bearbeitet (hauptsächlich elektronisch, mittlerweile). Man hat seine Kamera-Einstellungen mit Postkarten verglichen; wie bei David Lynch sind sie jedenfalls bereits in sich autonome Kompositionen. Es sind, meint man, keine Bewegungsbilder, sondern Bilder, in denen sich allenfalls etwas bewegt, und Kamerafahrten sind nichts anderes als Bewegungen in einem skulpturalen, virtuellen Bühnenraum (manchmal allerdings auch Bewegungen in einen Körper hinein). Mehr vercomicter Film als verfilmter Comic. Das Malerische und das Zeichnerische drängt das Filmische und Narrative in den Hintergrund. Vieles ist in Bewegung in einem Jeunet-Film, doch das Bild will stehen bleiben. Das ist vielleicht nicht so provokativ wie in Chris Markers Einzelbild-Film „La Jetée“ (Am Rande des Rollfelds) aus dem Jahr 1962, dafür aber entwickelt es einen projezierten Bild-Raum, den es vordem nicht gab. Statt eines Illusionsraums schafft dieses Kino einen Kunst-Raum. Oder einen Kopf-Raum.

Der zweite Jeunet-Trick ist, dass in diesem kinematografischen Kunst-Raum Dinge geschehen, die, sagen wir im Gegensatz zu Matthew Barney, an populäre und „naive“ Ikonographien anknüpfen, an Kinderbücher, Genrebilder, Idyllen, natürlich auch an Filme (am Ende von „MicMacs“ gibt es ein wundervolles Nach-Spielen von Sergio Leones „C’era una volta il West“). Neben der gedrängten Anordnung der antiquarischen und archäologischen Dinge im Rang künstlerischer Objekte stehen Ready Mades, Found Footage, Cut Up, Collage und Appropriation. Dieser Kopf-Raum, in unbestimmter Zeit, an unbestimmtem Ort situiert, enthält lauter bekannte, ja gewöhnliche Dinge. Nur zuviel davon. Mehr, als eine „Erzählung“ verarbeiten kann. Aber nichts davon ist in einem Kunst-Raum bloßes Zierat, Hinweis auf die Konvention (ein Objekt, was da ist, weil es da normalerweise ist), alles verlangt danach, als Bedeutung wahrgenommen zu werden. Darum bleibt den Protagonisten wie den Zuschauern bei einem Jeunet-Film nichts anderes übrig, als die Grenzen zwischen den Zeichen-Sorten Index und Ikon einigermaßen willkürlich zu ziehen. Sie behaupten einen Hinweis zu sehen, wo man doch ein Abbild sehen müsste, und umgekehrt. Sie richten sich ein in einer eher unbewohnbaren Welt, indem sie höchst eigenen Zeichenspuren folgen, sie erklären das Alltägliche zur Offenbarung und nehmen alle Sprache beim Wort. Übrigens ist das eine sehr traditionelle Weise, im Comic komische Wirkungen zu erzielen, wo man ohne weiteres ein Fragezeichen, das sich über dem eigenen Kopf gebildet hat, als Angelhaken benutzen kann. So dass, mit anderen Worten, nicht nur die Grenze zwischen Index und Ikon, sondern auch zwischen Zeichen und Träger ignoriert werden kann. Jeunet-Filme sind also entweder Filme, die nicht bloß äußere Methoden des Comic auf den Film anwenden, sondern auch innere Bedeutungsverhältnisse. Oder es sind Filme, die, wie die Comics, Effekte vor allem durch die Übertretung semiotischer Regeln erzielen.

II

Natürlich hat all das auch einen biografischen Hintergrund. Jean-Pierre Jeunet hat nie eine Filmschule besucht. Er war das träumende Kind in der Welt der kleinen Leute, cineastische und andere Diskurse vom linken Seine-Ufer erreichten ihn höchstens als fernes Wispern. Er begann als Autodidakt mit Animationsfilmen (während er sich den Lebensunterhalt als Angestellter der Telefongesellschaft verdiente), es folgten Werbung und Music-Videos, der Übergang vom Dilettanten zum Künstler war fließend, und in seinen ersten Filmen hat er nicht nur Geschichten und Bilder, sondern auch die Maschinen, ja sogar die „Darsteller“, mit denen man sie erzeugt, selber erfunden.

Einen entscheidenden Impuls brachte wohl die Begegnung mit dem Zeichner Marc Caro, mit dem zusammen er am Ende der siebziger Jahre zwei Puppenfilme produzierte: „L’Évasion“ und „Le Manège“. Sie enthalten schon Motive, die später in größerem Maßstab ausgeführt wurden. So zeigt „Le Manège“ ein Karussel auf einem fröhlichen Jahrmarkt, das im Untergrund von Kindersklaven angetrieben wird, eine Skizze zu „La Cité des enfants perdus“, im Nachhinein. Mit „Le Bunker de la dernière rafale“ (1981) wurde die Grenze zum „Realfilm“ überschritten; der Jeunet/Caro-Zwischen-Raum (zwischen Set und Illustration, zwischen Kunst und Realität) begann sich zu formen. Ein Raum, damals, in dem für Hoffnung wenig Platz war, und der auf den Ersten Weltkrieg von „Mathilde“ weist; die klaustrophobische Situation der Experimente mit und an Körpern enthält aber auch den Keim des „Alien“-Films.  Letztendlich steht im Zentrum aller Jeunet-Filme ein „Bunker“, ein Raum, in dem sich die Menschen sicher fühlen, und in dem sie gefangen sind.

Mit ihrem ersten langen Spielfilm „Delicatessen“ schlugen Jeunet und Caro nicht nur eine neue Art von Filmen, sondern auch eine neue Art des Filmemachens vor: Jeunet war für das zuständig, was gewöhnlich der Filmregisseur tut, für die Arbeit mit den Schauspielern, die Auflösung der Szene, die continuity etc., und Caro war für die bildnerischen Aspekte zuständig, für die Ausstattung, die Farben, die Räume etc. Geschrieben und geschnitten wurden die Filme gemeinsam, wenngleich in der Art der Zwillinge in „Die Stadt der verlorenen Kinder“, der eine beginnt einen Satz, der andere setzt ihn fort, gleichsam in Halbsätzen von „Illustration“ und „Film“.

Wahrscheinlich war es kein unwichtiges Signal, dass Jeunet und Caro diese neue Doppeldeutigkeit auch personal verkörperten: eine Gleichwertigkeit (und Gleichzeitigkeit) des Inszenierten und des Grafischen. Das Team trennte sich dann weniger, weil die Partnerschaft nicht mehr funktioniert hätte, als vielmehr deswegen, weil sie nicht mehr benötigt wurde. Caro jedenfalls wollte nicht mitgehen, als Hollywood das Angebot machte, die Regie des vierten „Alien“-Teils zu übernehmen, er hatte kein Interesse an einer Arbeit, bei der nicht die vollständige künstlerische Kontrolle garantiert war. Jeunet dagegen reizte die Erfahrung; so entwickelte er sich weiter in Richtung auf „Film“ (lernte wohl auch, mit Mainstream-Produktionsverhältnissen umgehen, unter anderem, indem man seine kleine Stock Company ins große System mitnimmt) während Caro zu dieser Zeit eher im Sinne gehabt hatte, ein neues hybrides und polyvalentes Medium zu schaffen. Ein multimediales Geschehen, bei dem „Film“ nur eine von vielen möglichen Stadien der Verwandlung ist.

Jeunet indessen wollte Geschichten erzählen, wenn auch sehr eigene. Er ärgerte sich darüber, dass „Die Stadt der verlorenen Kinder“ narrativ so schlecht funktioniert hatte, weil man zu viel an die Bilder und zu wenig an die Story gedacht hatte. Und er nahm seine „Alien“-Erfahrung mit in seine nächsten französischen Filme, „Amélie“ und „Mathilde“, zwei Geschichten von Frauen, die den Kampf mit der Wirklichkeit aufgenommen haben. Zwei Filme mit Audrey Tautou. Schwer zu sagen, ob Jeunet ohne Audrey Tautou die Popularität erlangt hätte, die ihn zu einem der freiesten Filmemacher Frankreichs machte. Auf jeden Fall machte sie den Zugang zu diesem Kunst-Raum leichter, erhöhte den Eindruck des Leichten und Verspielten und verbreitete noch in den böseren Abteilungen des Jeunetismus eine sanfte Erotik und einen Subjektivismus, mit dem man auch den Fratzen von Macht, Gewohnheit und Dummheit begegnen kann. Ohne Alice wäre schließlich auch das Wunderland nicht auszuhalten. Na gut, ohne Alice gäbe es das Wunderland gar nicht.

Zum internationalen Star wurde Jeunet also nicht etwa mit seiner (respektablen) Hollywood-Produktion „Alien Resurrection“, sondern mit den Filmen, die französischer scheinen als Asterix, Weinbergschnecken und Louis de Funès zusammen. Es ist, um es klar zu sagen, eine Fake-Französischkeit (so wie ja auch für Jacques Tati die Französischkeit kein Ziel, sondern ein Mittel war). Über „Amélie“ schrieb die  Libération: „Euro-Disney goes Montmartre“. Das war vielleicht ziemlich böse gemeint. Es meint die Errichtung eines Traumparis mit den Mitteln der Unterhaltungsindustrie, eine Feier der Französischkeit, die zugleich ein Ausverkauf ist. Es übersieht aber, dass Jeunets Filme nicht nur von der Errichtung einer Traumwelt erzählen, sondern auch davon, wie mit künstlerischen Mitteln in das richtige Leben eingegriffen werden kann. Es übersieht, wie bewusst mit diesen Elementen umgegangen wird. Es übersieht, mit anderen Worten, wie die Kitsch-Elemente in einem Jeunet-Film zur kritischen Masse werden.

Das Angebot, den nächsten „Harry Potter“ zu inszenieren, lehnte Jean-Pierre Jeunet dann freundlich ab. Vielmehr entstand mit „MicMacs“ der nächste „reine“ Jeunet, wenn auch ohne Audrey Tautou. In der bewährten und auf den ersten Blick einfachen Formel: Skurrile, liebenswerte und ein wenig weggetretene Außenseiter finden in einer bösen und langweiligen Welt zu Beschäftigungen, die mehr mit Kunst-Performances, Kinderspielen oder auch zwangsneurotischen Serien-Ritualen als mit bürgerlichen Biographien zu tun haben, sie schließen sich mit anderen zu versponnenen kleinen Gegenkulturen oder kollektiven Wahnsystemen zusammen, organisieren Gegenschläge gegen die korrupte Welt.

Aber das alles ist auch wiederum Pretext für ein Ballet der Dinge, der digital veränderten Architekturen, der Obsessionen und Typen: Glatzköpfige Männer, Kunstmaschinen, Konzerte auf Instrumenten, die die Natur nachahmen, Einbrüche der Kunst in die Welt, und Einbrüche der Welt in die Kunst, fetischhafte Sammlungen von Prothesen, Körperteilen und Zivilisationsschrott, transhumane Körper, Verkrüppelungen, Verdoppelungen, mechanische Verlängerungen des Menschen, Dächer und Labyrinthe. Mehr als bei David Lynch, Lars von Trier und Woody Allen wird bei Jean-Pierre Jeunet die Psychose zum Kunst- und Erkenntnis-Instrument. „MicMacs“ kann man lesen als eine kindliche Phantasie von Erlösung und Gerechtigkeit, aber auch als eine experimentelle Anordnung, um die Welt mit den Augen eines Mannes zu sehen, der eine Kugel im Kopf hat. Er muss die Sprache der Objekte neu erlernen, er wird zum Phänomenologen in eigener Sache, „zurück zu den Dingen“, um mit Hans Blumenberg zu sprechen.

Immer eine Umdrehung weiter, und das Harmlos-Skurrile, das Retro-Look-Menschliche und die Geste der „anarchistischen Poesie“ (die nichts kostet), das, was als „Euro Disneyland-Montmartre“ zu missverstehen ist, erweist sich bei Jeunet als dünne Maskenhaut über einer bloßgelegten Körperlichkeit in einer sich entkörperlichenden Welt. „Die fabelhafte Welt der Amelie“ ist nur einerseits eine Fortsetzung von Alices Wunderland, sie ist andrerseits der Zwischenraum zwischen einer Autistin und einer ignoranten Gesellschaft. „Un long dimanche de fiancailles“ handelt nur einerseits, wie der deutsche Titel vorschlägt, von einer großen Liebe im und gegen den Krieg, er handelt andererseits vom Hinken, vom Händeverlieren, vom Krieg als Geschehen, in dem die Maschine an Wert gewinnt und der menschliche Körper an Wert verliert. Und „MicMacs“ ist nur einerseits ein idyllischer Kinderfilm für Erwachsene, über die Macht der Phantasie, die stärker als Kapitalismus, Korruption und Krieg ist, über die Solidarität der kleinen Leute und die unaufhaltbare Kraft der Liebe. Es ist andrerseits ein Film über Menschen, deren individuelle Körperlichkeit der gesellschaftlichen Konstruktion widerspricht. Nicht unbedingt „Freaks“, nicht nur Life-Enactments von Comic-Karikaturen, nicht nur „defekte Menschen“ oder solche wahrhaft mit besonderen Befähigungen: Diese Körper sind das Überlebende, nach Kolonialismus, Krieg und Kapital.  So ist jeder Jeunet-Film nicht nur die Reise in eine Psychose sondern auch in ein historisches Trauma, sie handeln davon, das Verlorene, das Vergessene, das Verdrängte zu ergründen. Noch bei „Alien 4“ staunten die amerikanischen Kritiker, wie man einen Film mit Ideen überfüllen kann. Es verhält sich mit den Ideen ähnlich wie mit den Dingen: Es sind mehr als man „gebrauchen“ kann. Und das ist wiederum einerseits eine Frage zwischen Wahnsinn und Macht, andrerseits aber auch eine Strategie der semiotischen Guerilla: Mehr Zeichen produzieren als der Gegner lesen kann.

Das, könnte man sagen, ermüdet auch ein wenig. All das Zauber- und Zeichenhafte und Skurrile und Poetische. Ebenso: Das überkontrollierte, überfüllte, über-komponierte Bild. Ganz nah sind in Jeunets Filmen oft das Entzücken und die Langeweile. Sie machen sich Bilder, möglicherweise aus einem Kopf heraus, der zu platzen in Gefahr steht. Doch steht die Selbstreferenz schließlich in Gefahr, selber zum semiotischen Bunker zu werden. Die Subversion, das gehört zum Kitsch des Jeunetismus, findet keinen ernstzunehmenden Gegner mehr und wird zum selbstgenügsamen Spiel. Der radikale Subjektivismus weitet sich zum System; im letzten Kurzfilm Jeunets (der bezeichnenderweise ohne Marc Caros Mitwirkung entstand), „Foutaises“ (1989), zählt Dominique Pinon nur auf, was er (bzw. sein Regisseur) mag und was nicht. Er mag es, wenn nach dem Urlaub Sand aus den Seiten eines Buches rieselt, wenn man von einem Keks alle Ecken abbeißt, wenn zwei Züge nebeneinander herfahren, das Lachen von Richard Widmark, das Wort „Trans-Europa-Express“; und zu den Sachen, die er nicht mag, gehören Nasenhaare, sich vorstellen, was im Inneren einer Frau los ist, wenn man mit ihr Liebe macht, die Kadaver von Weihnachtsbäumen auf dem Gehsteig im Januar, der Programmschluss im Fernsehen. Diese absurde Systematik des Subjektiven (sie taucht wieder auf in „Amélie“) hat es darauf abgesehen, endlos zu wuchern (haben wir nicht Menschen nach dem Kinobesuch bei solchen Foutaises/Amélie-Spielen erwischen können?).

Man muss darin, neben dem Vergnügen, auch die Verzweiflung am Werk sehen. Denn der Jeunet-Mensch ist unter anderem das in Auflösung begriffene bürgerliche Individuum. Seine Unvollständigkeit treibt ihn nicht nur zu solchen Riten, nicht nur in den Innenraum des Bunkers, sondern auch zur Symbiose mit Bewegungs-, Illusions-, Kommunikations- und Stabilisierungsmaschinen.

Der Dialog zwischen dem Körper und der Maschine oder zwischen Fleisch und Prothese ist dazu eine Metapher. Jeunets Menschen sind weder in ihrem Familienroman noch in ihrer Geschichte, weder in ihrem Körper noch in ihren Beziehungen zuhause. Im Fragmentarischen, in dem sie leben, ergänzen sie sich durch den Wahn oder durch die Kunst, wie man es nimmt. Ein Teil ihrer Seele wandert in die Dinge, und kommt als Zeichen und Prothese wieder zurück. Die radikale Subjektivierung macht eine lineare Wiedergewinnung der Zeit unmöglich. Proust hat seine Madeleine, um zur verlorenen Zeit zu gelangen, aber für Jeunet ist die ganze Welt ein einziges Chaos der Madeleines, und die Dramaturgie der Filme besteht aus einer Serie von Anläufen, die Spuren der Erinnerung aufzunehmen, reisend, handelnd, fragend: Man wird das Verlorene erfinden müssen.

III.

Jeunet, das bedeutet nun nicht allein den Auteur und totalen Filmemacher, sondern auch ein künstlerisches Kollektiv: der Produzent Claudie Ossard, der SFX-Spezialist Pitof, der Kameramann Darius Khondij, der Designer Jean Rabasse und Aline Bonetto bei der set decoration, Guillaume Laurant, Gilles Adrian und Bruno Delbonnell als Script-Autoren, zu schweigen von den Jeunet-Darstellern, unter denen es allerdings nur Dominique Pino geschafft hat, in wirklich allen Filmen mitzuspielen. Das Entstehende ist die Fortsetzung der Entstehung: eine Gegenwelt, ein Bunker in der Kinematografie ist entstanden. Und schon sehen wir allenthalben Inseln des Jeunetismus entstehen, bis ins Fernsehen, bis in die Werbung hinein: Das kennen wir aus der Kunst. Der semiotische Verstoß taucht früher oder später als Marketing-Pointe wieder auf. Es verdankt sich, nebenbei, einem Prozess der Aufhellung.

Bis zu „Die Stadt er verlorenen Kinder“ und noch in „Alien 4“ hinein ist die Jeunet-Welt düster, mehr oder weniger heillos. Bei „Amelie“ beginnen die melancholischen Schleier sich zu lüften, die Farben werden heiter, man ist mehr im Licht. Die Filme vorher spielten alle an geschlossenen, isolierten und irrealen Orten; zwar kann auch „Amélie“ nicht wirklich fort (aus ihrem Fake-Montmartre), aber immerhin schickt sie Ideen, Nachrichten, Dinge, Zeichen in die Welt. Das weiße Kaninchen erscheint als Wolke aus heiterem Himmel. Im Licht spielt auch „Mathilde“, und wie die Soldaten mit der brutalsten Gewalt daran gehindert werden, ihre geschlossene und tödliche Welt der Schützengräben zu verlassen, so setzt sich Mathilde, hinkend, in eine Bewegung, im Raum und in der Zeit, und bleibt doch gefesselt an den Ort, den man ihr zuweist. In beiden Filmen, beim einen mehr und beim anderen weniger ist ja das Schmutzige unterwegs, liegen die Schatten immer über der Heiterkeit, erweist sich das Kunst-Spiel als Reaktion auf eine Wirklichkeit, die wahrhaft nicht auszuhalten ist. Man sieht ja „Amelie“ durchaus an, dass die Heiterkeit erarbeitet werden musste, dass sie als Kunst-Gestus existiert, und „Mathilde“ ist eigentlich wider alles Wissen dann doch optimistisch und hat doch die Grauen des Ersten Weltkrieges in sich wie die Comics von Jacques Tardi.

Und nun ist „MicMacs“, genau umgekehrt, wieder ein Film, der in der Dunkelheit, in der Unterwelt, in den Labyrinthen der Verlierer spielt, doch jetzt ist es der Schein der beiden vorherigen Filme, der darüber liegt, die Gemeinschaft der Außenseiter diesmal so naiv-verspielt wie Amélie, dem Guten zugewandt. So gewinnt man gegen die bösen Waffenhändler, wie in gewissen Kinderbüchern gegen Umweltverschmutzer und Erbschleicher triumphiert wird. Ein junger Mann (einer, der am besten in Filmen lebte, deren Dialoge er mitspricht) hat eine verirrte Kugel im Kampf der Waffenhändler abbekommen; zurück ins Leben gekehrt hat er seinen Job verloren, findet aber glücklicherweise in einer kleinen Untergrund-Lebensgemeinschaft Aufnahme und neue Freunde, die ihm dann dabei helfen, die beiden superreichen Waffenhändler gegeneinander auszuspielen und ihre Geschäfte zu beenden.

Letztendlich setzt er dabei das Kino als Waffe ein. Und auch bei diesem Gedanken wissen wir nicht, ob er naiv oder raffiniert, Kitsch oder Kunst, verträumt oder boshaft ist. Nur eins ist klar: Es gibt richtiges Leben im falschen. Wo denn sonst?



Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in SPEX #324, Dezember 2009