Es geht auch ohne Kunsthalle: Eingang zur 4. Canakkale-Biennale im Doğtaş-Supermarkt in Canakkale. (Foto: Ingo Arend)

Es geht auch ohne Kunsthalle: Eingang zur 4. Canakkale-Biennale im Doğtaş-Supermarkt in Canakkale. (Foto: Ingo Arend)

Kaum jemand kennt die kleine Canakkale-Biennale in der türkischen Provinz. Im Erinnerungsjahr 1914 empfiehlt sie sich als „Plattform der Demokratie“

„Only the Dead have seen the end of war“. Der düster dräuende Satz wird dem Philosophen Platon zugeschrieben. Und er gibt einige Rätsel auf. Wieso haben nur die Toten das Ende des Krieges gesehen? Waren nicht vielleicht doch auch ein paar Überlebende darunter? Oder soll uns die Sentenz des alten Kunstverächters bedeuten, dass die Toten Glück gehabt haben, weil für sie alles Aus und zu Ende ist? Und die Überlebenden nicht zu beneiden sind, weil sie in einem Krieg leben, der niemals endet?

Wie man den opaken Spruch auch dreht und wendet, es gibt wohl kaum einen Ort, zu dem er besser passt, als zu Canakkale und seiner 4. Kunstbiennale, die in diesen Tagen zu Ende geht. Der Provinzort im Westen der Türkei, rund 400 Kilometer südwestlich von Istanbul, lockt als heiterer, für die Türkei ungewohnt lockerer Ferienort: In dem kleinen Hafen an den Dardanellen sitzen Touristen neben unverschleierten Frauen in Fischrestaurants. Durch die Fußgängerzone streunen Gruppen junger Leute. 100.000 Einwohner zählt die als ziemlich säkular geltende Stadt. Gut ein Viertel von ihnen sind Studenten.

Wer an das andere Ufer der Meerenge schaut, erblickt freilich einen gigantischen Friedhof. Dort fielen im August 1915 100.000 türkische, britische, australische und neuseeländische Soldaten während der Kampagne von Gallipoli. Die gleichnamige Halbinsel ist heute ein riesiges Freiluft-Geschichtsmuseum, übersät mit pathetischen Monumenten. Und aus ihr quillt noch immer das Blut des Krieges. Jeder Regenguss spült neue, unentdeckte Massengräber frei.

Im „Jubiläums“jahr des 1. Weltkrieges, kurz vor der 100. Wiederkehr der legendären Schlacht, bei der die Osmanen unter Mustafa Kemal den Durchbruch der Alliierten verhinderten, lag es nahe, dass Kuratorin Beral Madra, die 4. Canakkale-Biennale dem Thema Krieg widmete. Noch dazu, wo dreißig Kilometer südlich von Canakkale das antike Troja liegt.

An der Hafenpromenade steht – quasi als unerklärtes Ausstellungsstück – noch das 12 Tonnen schwere, Trojanische Pferd aus Fiberglas, das entscheidende Requisit aus dem Hollywood-Schinken „Troja“ von 2004. Die Crew um Brad Pitt hatte das Ungetüm nach den Dreharbeiten dem Ort Canakkale geschenkt.

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Das Trojanische Pferd aus dem Hollywood-Blockbuster „Troja“ an der Hafenpromenade von Canakkale. (Foto: Ingo Arend)

So geschichtspessimistisch wie das Motto der Doyenne der türkischen Kunstszene auch klingen mag, kommt die kleine Schau dann aber doch nicht daher. Natürlich findet sich in dem dreiteiligen Biennale-Parcours auch eine Arbeit wie die von Aladdin Garunov. Auf einem großen Keilrahmen hat der russische Künstler Fotomaterial aus dem 1. Weltkrieg montiert. Darüber schwebt ein rostiges, rundes Sägeblatt – Symbol der mörderischen Gewalt, die sich im Krieg in das Leben aller Menschen frisst – bis heute. Man findet aber auch eine Arbeit wie die von Ersan Deveci.

Der türkische Künstler hat Kriegsgerät wie ein Cockpit, eine Mine oder eine Raketenrampe in Spritztechnik auf Aluminium übertragen. Genau so, wie sie auch in der Populärkultur auftauchen: In Computerspielen oder in der Werbung. Wo kein Schmutz oder Blut an diesen Utensilien des Tötens klebt, sondern wo sie zu makellosen Fetischen der Spielleidenschaft oder heroischer Fantasien mutieren.

Kuratorin Beral Madra mag zwar 72 Jahre alt sein. Ritueller Antimilitarismus mit ästhetischen Mitteln liegt der stilbewussten Intellektuellen, die in Istanbul das BM-Contemporary Art Center leitet, fern. Devecis Arbeit zielt genau auf das, worauf Madra hinauswollte. Herauszuarbeiten, wie Bilder in und mit den elektronischen und digitalen Medien den Krieg tief in unsere visuelle Gegenwart und die Köpfe der Menschen einschreiben.

Canakkale ist eine klitzekleine Biennale, fernab der globalen Kunstwelt. Doch in einer Zeit der immer routinierter geölten Biennale-Maschinen, der Kunst-Brands von Venedig bis Sharjah ist sie vielleicht ein Biennale-Modell der Zukunft. So wie hier eine kleine Truppe enthusiastischer Freiwilliger vor Ort mit gerade mal 250.000 Euro städtischen Geldern (zum Vergleich: Berlin-Biennale: 2,5 Millionen Euro) seit 2008 ein staunenswertes Projekt stemmt.

Die nichtkommerzielle „Canakkale Biennial Initiative“ (Cabinin) wird von einer Biennale der Kinder, einer Biennale der Jugend, einer Frauen-Initiative „We are in Biennial“ und einer „Unhindered“ Biennale getragen, die Menschen mit sozialen und körperlichen Barrieren den Zugang zur Kunst ermöglichen will. „Wir wollen die zeitgenössische Kunst wirklich in den Alltag der Menschen bringen“, erklärt Cabinin-Leiter Seyhan Boztepe, ein Universitätsdozent aus Canakkale, das Anliegen der Initiative. Zum abendlichen Gespräch im Hafen kommt er mit einem Schraubenzieher und stellt noch schnell zwei Leuchtstrahler neu ein.

Gerade mal 37 Arbeiten zählt Madras Schau. Unter denen sich Arbeiten von internationalen Stars wie dem schottischen Künstler Douglas Gordon, der Deutschtürkin Ayşe Erkmen oder dem Albaner Anri Sala genauso finden wie solche des jungen Künstlers Erdal Sezer aus Canakkale. Zu sehen ist sie an unspektakulären Orten: In den drei leer stehenden Etagen eines schäbigen Supermarktes in der Innenstadt von Canakkale, in einem gut besuchten Cafèhaus in der Altstadt und einer Bibliothek. Doch die Ausstellung zeigt, dass man auch mit bescheidenen Mitteln ein Höchstmaß an Qualität und kritischer Reflexion leisten kann.

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Verlorene Sprachvielfalt: Eva Beierheimer und Miriam Lauseggers „Shadow Spek You too“ im Mahal Art Center in Canakkale (Foto: Canakkale-Biennale)

„Shadow Speak You Too“ heißt eine Arbeit des österreichischen Künstlerinnenpaares Eva Beierheimer und Miriam Lausegger. Sie haben einen Text des 2007 ermordeten, armenischen Journalisten Hrant Dink über die verlorene Sprachvielfalt von Canakkale des Jahres 1915 in eine Lichtinstallation übersetzt. Wer den abgedunkelten Raum betritt, dem schreiben sich Texte von Autoren der Sprachen, die damals in der Stadt gesprochen wurden, quasi auf den Körper: Solche von Hannah Arendt, Al-Arabi oder Ossip Mandelstam.

Der libanesische Künstler Nigol Bezjian zielt mit seiner Arbeit ins Herz der türkischen Geschichtsdebatte. In einer Installation hat er Porträtfotos der tot geschwiegenen, armenischen Soldaten aufgehängt, die in der ottomanischen Armee vor Gallipoli kämpften. In einem Video läuft einer dieser Kämpfer in historischer Uniform durch das Canakkale von heute und versucht, mit den Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Und selbst im liberalen Canakkale passiert es: Wenige Tage nach der Eröffnung war Bezijans Arbeit vandalisiert.

„Plattform der Demokratie“ nennt Seyhan Boztepe seine Biennale angesichts solcher Arbeiten und der Reaktionen darauf zu Recht. Kritische Ausstellungen wie diese werden, gerade in der Provinz, umso wichtiger bei der Verteidigung der Meinungs- und Kunstfreiheit, je enger die AKP-Regierung in Ankara tagtäglich die Fesseln ihrer Islamisierungspolitik zieht. Das kleine Canakkale ist eine der wenigen Städte in der Türkei, die noch von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) regiert wird. Und hat zum Glück einen progressiven Bürgermeister. Ülgür Gökhan hält die zeitgenössische Kunst für „unglaublich wichtig, damit die Menschen fähig sind, das Konzept der Demokratie zu internalisieren.“

Auf die Frage, ob sie Angst vor einer islamischen Diktatur in der Türkei hat, zuckt Kuratorin Madra resigniert mit den Schultern. Bekräftigt dann aber doch ihren Willen, weiterzumachen mit der Kunst und mit Biennalen. „Was kann ich tun?“ fragt sie. Und fügt hinzu: „Das ist meine Freiheit“. Lässt man sie und hält sie durch, wird sie eines Tages vielleicht doch noch das Ende von Erdogan gesehen haben.

Ingo Arend

 

AUSSTELLUNG

4. Canakkale-Biennale

noch bis zum 2. November

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