Ein anderer Jahresrückblick: Kriminalliteratur, weitgehend noch unübersetzt

Der beste und wichtigste Thriller des Jahres 2011 stammt für mich von einem Autor, der bei uns seit zehn Jahren unübersetzt geblieben ist: „A Deniable Dead“ des Briten Gerald Seymour. Ganz nah, ganz dreckig,

detailreich und realistisch nimmt Seymour uns mit auf eine Aktion im schmutzigen Krieg gegen den Terror. Der Stoff, aus dem später Historiker unsere Gegenwart rekonstruieren werden. Seymour ist ein ehemaliger Journalist. Jedes Jahr legt er einen zeitgenössischen Stoff vor – auf höchstem Niveau.

Ebenfalls hart an der Realität und gut recherchiert, „The Wreckage“ des Australiers Michael Robotham, das im April 2012 bei Goldmann als „Der Informant“ erscheint. Im Irak werden Banken überfallen, im großen Stil. Folgerichtig, dass die Spur dann an den Finanzplatz London führt. So muss Thrillerliteratur sein: den Schlagzeilen immer ein Stück voraus.

Endlich wieder ein Polizeiroman, der die Jahre überstehen wird: authentisch, klug, ungewöhnlich gut geschrieben. Edward Conlon, Harvard-Absolvent, preisgekrönter Essayist und New Yorker Polizist, vermag in „Red on Red“ nicht nur mit einer komplexen und heftigen Polizeigeschichte zu unterhalten, sondern auch über Detektivarbeit zu sinnieren und das Geschichtenerzählen an sich. Das ist lyrisch, psychologisch stimmig, leidenschaftlich und überraschend.  Ebenso lesenswert – und mit einigen Metaebenen mehr aufwartend als Simons „Homicide“ (das damit keineswegs abgewertet werden soll, um Himmels willen) – sind seine sich selbst nicht schonenden Polizei-Memoiren „Blue Blood“ von 2004.

Leider ein let down: „The Border Lords“ von T. Jefferson Parker, der ein Jahr zuvor im bislang unübersetzten „Iron River“ das Morden jenseits der amerikanischen Grenze mit dem Waffenverkauf in den USA in Beziehung setzte und Furchterregendes zum Drogenkrieg in Mexiko entblätterte. Jetzt hat er den Schwanz ein wenig eingezogen und verliert sich in  einer diffusen Familienstory über einen durchgeknallten, abgetauchten Undercover-Polizisten. Jetzt im Januar 2012 erschein Parkers „The Jaguar“. Hoffen wir, dass er der Realität wieder mehr ins Auge schaut.

Soll das alles gewesen sein? Beim Union-Verlag „weiß man noch nicht“, ob „Whispering Death“, der sechste Hal-Challis-Roman von Garry Disher, auf Deutsch herausgebracht werden soll. Was gibt es denn da zu überlegen? Disher ist seinen südlich von Melbourne spielenden Polizistengeschichten einer der besten Kriminalautoren weltweit. Er schreibt auf der Höhe seiner Meisterschaft.

Eine Schwarte, ein Monster von Buch: „River City“ (844 Seiten) des Kanadiers John Farrow, der hier seine beiden Kriminalromane „Eishauch“ und „Treibeis“ weit hinter sich lässt. Bei der Stadt am Fluss handelt es sich um Montreal, der Roman gibt nicht nur seinem Polizisten Emile Cinq-Mars eine Vorgeschichte, er malt die Geschichte einer kanadischen Provinz auf breiter Leinwand. Die Jahre des Premiers Trudeau und die Separatistenbewegung werfen lange Schatten: Politik, Gier, Mord und Mythen.

Eine noch größere Schwarte, ein noch wilderes Monster von Buch: In a „A Moment in the Sun“ (McSweeny’s Books, San Francisco 2011, 955 Seiten) dreht der Filmemacher und Romancier John Sayles die Uhr auf 1897 zurück – und es ist alles da, was heute Amerika so schrecklich und so hoffnungsvoll macht. Ein panoramisches Zeitgemälde von Kolonialkrieg, Goldrausch, New Yorker Presse, Ostküsten-Establishment, Rassenhass, großen und kleinen Verbrechen. Einer wie Sayles könnte (und sollte) aus diesem Stoff zwanzig Filme machen.

Wie alt ist eigentlich James Lee Burke? Ja, richtig: gerade 75 geworden und bei uns seit sieben jahren nicht mehr übersetzt. Nach dem fulminanten „Glass Rainbow“ von 2010, in dem Dave Robicheaux endlich ein (kleines) wenig reifer und weniger selbstdestruktiv auftreten durfte, gab es auch 2011 ein literarisches Feuerwerk zu einem Feiertag für Narren: „Feast Day of Fools“. Es ist der dritte Roman mit dem staubtrockenen Sheriff Hackberry Holland, der an der südtexanischen Grenze den allgegenwärtigen Wahnsinn im Zaum zu halten versucht. Nach Montana und Louisiana hat Burke sich hier ein neues Territorium erobert.

Immer noch ohne Spur und neues Buch: G.M. Ford aus Seattle. So brutal wie er hat wohl noch kein Autor einen etablierten Helden ins Off geschickt. Sieben Jahre ist es jetzt her, dass der in sechs Büchern etablierte, toughe Frank Corso am Ende von „Blown Away“ (dt. Die Spur des Blutes) auf seiner Recherche nach besonders brutalen Bankräubern am Ende selbst an einem Bankschalter stand, eine Bombe um den Hals und damit zum ferngesteuerten Bankraub gezwungen, und „Please“ sagte. Seitdem kein Wort, kein Buch, kein Lebenszeichen. Ein echtet kill-off.

Wird im neuen Jahr einiges an Wellen schlagen: „The Devil all the Time“ von Donald Ray Pollock, das als „Das Handwerk des Teufels“ im Februar 2012 bei Liebeskind erscheint. Ein rabenschwarzes, überaus brutales Sittengemälde des ländlichen Amerika in den 1960er Jahren – der Erstlingsroman eines Autors, der mit dem rauhen Erzählband „Knockemstiff“ reüssierte. Die Beschäftigung mit Pollock lohnt. Ich bin gespannt, welche Theorien sich finden, warum solche Geschichten gerade heute wieder von solchem Interesse sind. Ein Rückfall in die Barbarei?

Ähnliche Fragen stellen sich auch für „The Outlaw Album“, das zum ersten Mal die Stories von Daniel Woodrell versammelt, dessen „Winter’s Bone“ die Vorlage für einen der besten Autorenfilme des Jahres 2011 geliefert hat. Woodrell, der aus den Missouri Ozarks stammt und auch so schreibt (traumschön schreibt), kann ich mir ehrlich gesagt, nicht gut übersetzt vorstellen. Also, Verlag, wer immer du sein wirst, gibt dem Übersetzer Leine und extra Geld.

Ein wichtiges Buch, das hinter viele Kulissen leuchtet, ist „Top Secret America. The Rise oft he New American Security State“, von Dana Priest und William M. Arkin. Priest hat bereits in “The Mission” die Militarisierung Amerikas nach 9/11 beschreiben, jetzt haben die Journalisten an der Heimatfront  recherchiert. Mehr als 1.200 Regierungsorganisationen und 2.000 Privatunternehmen sind mit hochgeheimen „Sicherheitsoperationen“ befasst, die Krake wächst und wächst. Investigativer Journalismus vom Feinsten.

Er kriegt sie einfach nicht, die Kurve. George Pelecanos schliddert wieder einmal am großen Wurf vorbei. „The Cut“ soll eine neue Serie einläuten, im Washington von hier und heute, der Held aus dem Irak-Krieg zurück und für schmutzige Aufträge zu haben. Die Story bleibt leider vorhersehbar und dünn, und was eh schon immer eine Schwäche bei ihm war, wird hier zur peinlichen Marotte. Zeile um Zeile füllt Pelecanos mit der peniblen Benennung von Markenklamotten, dass es fast parodistische Züge annimmt: „Lucas wore dark blue Dickies pants, a matching blue longsleeved Carhart shirt, and black steel-shanked Wolverine boots“ … usw., als würde so etwas die Handlung voranbringen. Jesus im Frack. Ohne Etikett.

Alf Mayer auf culturmag.de

Alf Mayers „Blutige Ernte“ gehört zu den ältesten deutschen Krimi-Kolumnen überhaupt. Und zu den besten. CrimeMag freut sich, dass sie ab sofort bei uns zuerst zu lesen sein wird.“ (culturmag.de)

 

A Deniable Death
Gerald Seymour
Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
Verlag: Hodder & Stoughton (4. August 2011)
Sprache: Englisch
ISBN-10: 1444705857
ISBN-13: 978-1444705850

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