Figlia mia / Daughter of Mine | Italien | Regie: Laura Bispuri

Ein Film, der die konfliktreiche Geschichte eines 10-jährigen Mädchens auf Sardinien erzählt, ist schon eine kleine Überraschung. Denkt man bei Insel-Melodram doch sofort an Liebesgeschichten à la Ingrid Bergman auf Stromboli. In Laura Bispuris Film – die Regisseurin wurde mit ihrem Regiedebut „Vergine giurata“ 2015 auf der Berlinale gefeiert – ist die Heldin Vittoria, ein zierliches 10-jähriges Mädchen, welches durch ihre Schüchternheit, vor allem jedoch durch ihre roten Haare auffällt. Sie wächst überbehütet bei der schönen Tina auf, deren Ehemann Umberto das gemeinsame Schlafzimmer schon lange räumen musste, damit die beiden nächtens beieinander liegen können. Die Symbiose wird gestört als Vittoria Angelica kennenlernt, die einsam und chaotisch in einem heruntergekommenen Gehöft lebt. Sie kann ihre Schulden nicht bezahlen und wird die Insel verlassen müssen. Das Mädchen ist fasziniert von der wilden, charismatischen, aber auf Sex und Drogen programmierten Frau, die als „role model“ das genaue Gegenteil von Tina ist. Bald erfährt Vittoria auch, dass Angelica ihre leibliche Mutter ist, sie aber an Tina weggeben hat, weil sie mit einem Kind nichts anzufangen wusste. Ist „Figlia mia“ also eine Art kaukasischer Kreidekreis, transferiert ins 21. Jahrhundert?

Ja und nein. Ja, weil auch Laura Bispuri beide Mütter mit ihren jeweiligen Anrechten und Ambivalenzen zum Zuge kommen läßt. Nein, weil der Film in weiten Teilen die Perspektive des Mädchens einnimmt, ihre Entwicklung und vor allem ihre Entscheidungen nachvollziehbar macht. Spätestens dann, wenn Vittoria von Angelica heiße Milch mit Orangenbrause und kalte Bohnen zum Frühstück bekommt, merkt das Mädchen, dass hinter der scheinbaren Lebensfreude Angelicas auch viel Ungutes lauert. So zwingt Angelica ihre behütete Tochter permanent über Grenzen zu gehen, fordert sie über die Maßen heraus, beschimpft sie, verflucht sie … Dem hält Vittoria – nomen est omen – nach einigen dramatischen Höhepunkten stand. „Andiamo“ ruft sie am Ende des Films zweimal ihren beiden Müttern zu, die sich für versöhnt haben, und schreitet aufrecht und stolz den staubigen Weg voraus.

Was den Film vor Klischeehaftigkeit rettet – manche Dialoge und Szenen sind zu symbolhaft angelegt, zu überspitzt und übertrieben deutlich – sind die großartigen Schauspielerinnen, allen voran Alba Rohrwacher. Aber auch Sara Casu – es würde nicht wundern, wenn da ein Goldener Bär drin wäre – spielt das Mädchen mit umwerfender Genauigkeit. Dass Udo Kier, ehemaliger Fassbinder-Schauspieler, im Film als brutaler Pferdehändler und Schlächter eine kleine, aber feine Rolle hat, soll hier ebenso erwähnt werden, wie vor allem aber die Kamera von Vladan Radovic! Sie verleiht dem ganzen Film seinen Grundton, seine wunderbare Atmosphäre. Wie Radovic Licht, Farben und Bildkompositionen anlegt, läßt angesichts der vielen, vielen schlampigen, faden, wackligen und HNO-lastigen Bilder dieser Berlinale Hoffnung aufkommen.

Toppen av ingenting / The Real Estate | Schweden | Regie: Axel Petersén / Mans Mansson

So wie die schön komponierten Bilder „Figlia mia“ zu seiner Strahlkraft verhelfen, so grenzenlos grauenvoll kann es sein, wenn man 90 Minuten auf Bilder schauen muss, die mehrheitlich aus der Hand und in Close-ups gedreht wurden. Die Hauptperson des Films, Nojet, eine fast 70-jährige Dame, wird fast durchgängig ganz nah gezeigt, ihre alte, runzlige Haut, ihre manikürten Fingernägel, ihr Körper, bis hin zum Geschlechtsakt – soll das der Trash-Film der Berlinale sein, bloße Provokation? Oder gar Mut beweisen?

Nojet hat Jahrzehnte lang in Spanien gelebt, jetzt ist sie nach Stockholm zurückgekehrt. Ihr Vater ist gestorben und sie hat ein riesiges Mietshaus geerbt. Bald wird ihr klar, dass sie die Immobilie loswerden will. Doch das Haus ist schlecht verwaltet, heruntergekommen, mit Hypotheken belastet, und die Mieter haben keine rechtmäßigen Mietverträge. Der geldgierige und faule Neffe hat hier sein eigenes „Geschäftsmodell“ etabliert, er dealt unter der Hand mit den Verträgen und will sich sein einträgliches Leben durch die Tante nicht verderben zu lassen. Er attackiert Nojet, schlägt sie brutal zusammen. Nojet erhält Unterstützung von ihrem alten Freund Lex, der – das soll witzig sein – gerade ein Musikvideo mit Obdachlosen produziert. Spätestens ab diesem Moment greifen die beiden Regisseure immer tiefer in die Trash-Kiste á la Twin Peaks, beginnen zu überzeichnen und zu karikieren. Nojet wird zu einer Art Rambo, lernt mit dem Maschinengewehr umzugehen, baut Molotow Cocktails mit Hilfe des Internets, und brennt das obere Stockwerk am Ende nieder, um das Haus verkaufen zu können. Wie ein wirrer Traum mäandert dieser Film durch verschiedene Stile und durch ein eigentlich hochbrisantes und hochaktuelles Thema. Er will Intimität und Authentizität suggerieren, seine „Flapsigkeit“ soll laut den Regisseuren dazu dienen, dass man sich den Film auch mühelos auf einem Smartphone anschauen kann. Aha – wozu dann die große Kinoleinwand? Wozu dieser Film im Rahmen des Berlinale-Wettbewerbs?

La Prière / The Prayer | Frankreich | Regie: Cédric Kahn

Ein junger Mann landet in einer klösterlichen Gemeinschaft in der schroffen Natur der Auvergne. Er hat eine Drogenkarriere hinter sich, mehr werden wir nicht über seine Vergangenheit erfahren. Sein Name ist Thomas und mit Religion hatte er bisher nichts am Hut. Entsprechend sind seine anfänglichen Vorbehalte. Zunächst aber muß er alles abgeben was er noch besitzt, und die neuen Regeln lernen, die da heißen, keine Zigaretten, kein Alkohol, schon gar keine Mädchen. Stattdessen Gebet, Arbeit und Gemeinschaft. Anthony Bajon spielt diesen Thomas phänomenal. Seine unterdrückte Wut, seine Aggressionen und Zweifel, vor allem aber der Schmerz und die Qualen eines kalten Entzugs werden unmittelbar nachvollziehbar, das Ganze wirkt fast wie eine Doku-Fiction. Vor allem auch in den Szenen, in denen sich die jungen Männer erklären müssen. Die spärlichen Dialoge wirken authentisch.

Doch dann wird Thomas für eine heimlich gerauchte Zigarette, vor allem jedoch für den Wunsch endlich mal alleine zu sein, bestraft. Er rastet völlig aus, prügelt sich mit den anderen, flüchtet, und lernt die Tochter eines Bauern kennen und lieben. Sibylle kann ihn überreden zurück zu gehen. Der verloren Sohn wird wieder aufgenommen, passt sich langsam an und wird nach einer Begegnung mit Schwester Myriam – Hanna Schygulla spielt die Schwester Oberin mit gütiger, aber harter Hand – und einem Erweckungserlebnis nach einem schweren Sturz in den Bergen gläubig. Er will sogar ins Priesterseminar eintreten, was schlußendlich aber nicht passieren wird. Thomas entscheidet sich dann doch für die weltliche Liebe, für Sibylle.

Leider ist nicht ganz nachvollziehbar wie sich die religiösen Vorbehalte auflösen, auch die Liebesgeschichte ist etwas arg konstruiert, aber die große Stärke des Films ist neben dem Hauptdarsteller die grundsätzliche Haltung des Regisseurs Cédric Kahn. Denn der Film urteilt nicht. Respektvoll wird hier ein klösterliches Leben gezeigt, wird gezeigt wie eine Gemeinschaft und ihr Glaube Schutz und Stärke sein können, wie ein menschliches Miteinander Heilung bringt. Kahn nimmt sein Thema ernst. Ganz ohne pädagogischen Zeigefinger fangen wir vielleicht an darüber nachzudenken, wie spirituell leer unser Leben ist … Ein potentieller Bärengewinner dürfte der Film aber nicht sein.

Daniela Kloock