Polnisches Kino kann toll sein und all das bieten, was hierzulande zunehmend fehlt: Filme, die mutig und fantasievoll sind, kraftvoll, authentisch und provokant.
Veritable Filmperlen konnte man auf dem polnischen Filmfestival filmPOLSKA (25.8. – 1.9.2021) entdecken, welches jährlich in Berlin stattfindet und einen guten Einblick auf das aktuelle Filmschaffen unseres Nachbarlandes bietet. Dabei fällt sowohl das breite Spektrum politischer und gesellschaftlicher Themen auf als auch die unterschiedlichsten stilistischen Formen. Besonders sympathisch sind die kleineren Produktionen von jungen vielversprechenden Filmemacher*innen. Sie eint, dass sie wirklich etwas zu erzählen haben, auch wenn manche Metaphern oder kulturellen Codes zuweilen schwierig zu dechiffrieren sind.

Das Herz des Festivals ist neben einer Kurzfilmreihe, einer Retrospektive (Wojciech Jerzy Has) u. v. m. natürlich der Wettbewerb. Hochkarätige Beiträge sind dabei. Darunter beispielsweise Sweat von Magnus von Horn. Der Film verfolgt in quasi dokumentarischem Stil drei Tage im Leben der erfolgreichen Fitness-Influencerin Sylwia. Deren Leben ist jedoch lang nicht so schön und perfekt, wie ihre Auftritte und Posts suggerieren. Denn für die permanente Selbstinszenierung und Selbstoptimierung bezahlt sie einen hohen Preis. Sylwia ist einsam. Außer ihrem Hund ist da niemand in ihrem Real Life. Dem Film gelingt eine schöne atmosphärische Balance zwischen Lebensfreude und tiefer Traurigkeit – was nicht zuletzt an Magdalena Koleśnik liegt, die diese Hauptfigur so verkörpert, dass man glaubt, sie sei Sylwia! Hinzu kommt die spürbare Empathie des Regisseurs für seine Figuren und die in jederlei Hinsicht hervorragende Machart (Kamera und Montage). So wünscht man Sweat vorbehaltlos den großen Kinoauftritt.

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I never cry, © Akson Studio

Ein umwerfendes Rollendebut liefert auch Zofia Stafiej in I Never Cry von Piotr Domalewski. Seit Sandrine Bonnaires Vogelfrei (Agnes Varda) gab es nicht mehr eine so berührende junge Frau, die ohne Wenn und Aber „ihr Ding durchzieht“. Sie spielt Ola, die den Leichnam ihres Vaters von Dublin nach Polen überführen soll. Bei einem schrecklichen Werftunfall kam er ums Leben und war zu allem Unglück nicht versichert. Bei der Odyssee von Polen nach Irland und zurück geht es folglich immer wieder um fehlendes Geld, aber auch um das ambivalente Verhältnis Olas zu ihrem Vater, den sie nie richtig kennengelernt hat. Der Film erzählt jedoch nicht nur die Coming-Of-Age-Geschichte einer 17-Jährigen, sondern er reflektiert präzise die Situation und Problematik von Migration. Hoffnungen, Ängste und Entfremdung, das Auseinanderbrechen von Familien, all dies wird ebenso visualisiert wie die konkreten prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Dabei spielt Domalewski gekonnt mit (schwarzem) Humor, mit Komik, mit der finsteren polnischen Ironie und zeigt dabei, dass es sich bei dem Film nicht nur um ein (Familien)Drama, eine Anklage oder ein nüchternes Soziogramm handelt. Hervorragend auch die Dialoge. Ein in jederlei Hinsicht starker Film!

Auf überzeugende Weise bearbeitet auch Eliza Kubarska ein komplexes Thema. In The Wall Of Shadows geht es um die Diskrepanz zwischen westlichem Kapitalismus und Erfolgsstreben gegenüber östlich-spirituellem Welt- und Naturverständnis. Die Regisseurin, selbst erfahrene Alpinistin, schließt sich einer Sherpa-Familie im Himalaja an. Der Vater hat schon viele gewagte Expeditionen begleitet und soll nun einen „Heiligen Berg“ besteigen. Das Geld wird dringend für die Ausbildung des Sohnes benötigt. Doch die Mutter warnt und versucht ihren Mann zu überzeugen, den Auftrag nicht anzunehmen. Auch unter den Bergsteigern kommt es zu Konflikten. Die Regisseurin fängt in ihrem Dokumentarfilm nicht nur atemberaubende Bilder dieser eisigen Welt ein, sondern sie schafft es, der Sherpa-Familie sehr nahezukommen, deren Ängste und Hoffnungen zu zeigen. Der Film, der stellenweise wie ein Thriller funktioniert, kritisiert implizit die Kluft zwischen verschiedenen Kulturen und das westliche (männliche) Dominanzverhalten.

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SQUARE, © Karolina Bregula

Neben dem Wettbewerbsprogramm gibt es einen weiteren Schwerpunkt Kunst im Kino – das Recht zu sehen. Die Reihe präsentiert Filme bildender Künstler*innen an der Schnittstelle zwischen Kino und Kunst. Hier werden vor allem bestehende Sehkonventionen auf die Probe gestellt. In Square (Karolina Bregula) beispielsweise betört und konfrontiert eine anfänglich angenehm singende, später laut kreischende unsichtbare Skulptur die Bewohner von Taipeh mit ein und derselben permanenten Frage. Der Zuschauer wird dabei komplett aus seiner Komfortzone gerissen. Denn er muss selbst aus den einzelnen Einstellungen – sehr präzisen, durchkomponierten Bildern und Szenografien von großem ästhetischen Reiz – eine Geschichte zusammen setzen. Die Leerstellen und Brüche führen dazu, dass die eigene Fantasie genügend Anknüpfungspunkte zur Interpretation findet.

Gewohnte filmische Narrationen oder dramaturgische Konventionen werden in diesem Film genauso durchbrochen wie beispielsweise in Hurrah, We Are Still Alive !. Agnieszka Polska lässt eine verstreute Gruppe von Schauspieler*innen an einem Film über Rosa Luxemburg arbeiten, bei dem der Regisseur verloren gegangen ist. Ein diskontinuierlicher Film in Fassbinder Atmosphäre, voller dunkler Bilder und Rätsel, der deutlich mehr Fragen als Antworten liefert. In dieser Sonderreihe des Festivals wird auch ein Film von Anna Baumgart gezeigt. Ihre Arbeiten bewegen sich zwischen Fotografie, Installation, Bildhauerei und Video. Conquerors of the Sun ist der semi-dokumentarische Versuch einer historischen Rekonstruktion. Es geht um die Reise eines Kunst/Agitationszugs von Russland über Polen nach Deutschland im Jahre 1920. Die revolutionären Ideen sollten damals qua Kunst und verstecktem Agitationsmaterial in den Westen kommen, um die kommunistischen Bewegungen beispielsweise in Deutschland zu unterstützen. Dieser Film macht auf vielfältige Weise nachdenklich, nicht nur durch den Aspekt, dass in Zeiten von Social Media dergleichen schwerfällige und gefährliche „Informationsströme“ kaum mehr vorstellbar sind.

In der 16. Ausgabe des filmPOLSKA (25.8. – 1.9.2021) gab es viele sehenswerte Filme. Wie schade, dass nur wenige von ihnen auf unsere immer uniformer und langweiliger werdenden Kinoleinwände kommen.

Daniela Kloock

Bild oben: SWEAT, © Natalia Łączyńska und Lava Films