Beten und Beichten im neuen Film von Ulrich Seidl

Mit jedem seiner Filme und ihren Kompositionen des Inszenierten und des Dokumentarischen, des Fiktiven und des Biografischen, geht Ulrich Seidl unter die Haut seiner Gesellschaft. Die Form, die er in JESUS, DU WEISST für seine Reisen in die sehr seltsamen Empfindungen und Gedanken von sehr normalen Menschen wählt, schaut auf den ersten Blick auch gleich wieder recht skandalös aus: Er lässt seine Menschen-Darsteller die Brüche und Konflikte ihres Lebens in einem persönlichen Zwiegespräch, etwas zwischen Gebeten und Beichten, mit einem sehr persönlichen Jesus formulieren. Und dabei direkt in die Kamera hinein. Wie immer bei Seidl wird auf diese Weise eine Erzählmaschine angeworfen, in der Grotesken und Tragödien entstehen, in der der biografische Ur-Stoff des Erzählens ebenso sichtbar wird wie die Bearbeitung der subjektiven Erfahrung durch die allgemeinen Codes.

Es geht um Entscheidungen, ins Kloster zu gehen oder nicht, ein Mord aus enttäuschter Liebe wird fantasiert, es gilt, eine Beziehung zu retten oder zu lösen, den Idealen einer Mutter zu gehorchen usw. Jeder dieser Menschen findet und erfindet seine Kirche, seinen Gott vielleicht. Sechs Fälle religiöser und sozialer Selbstoffenbarung: Man mag sich durchaus fragen, ob und wie es dem Film gestattet sein soll, in diesen sehr intimen Bereich vorzudringen. Aber die Menschen in diesem Film wussten, worauf sie sich einlassen, dass „der Film etwas zeigt, was man bisher noch nie gesehen hat: wie man wirklich persönlich zu Gott betet“ (Seidl).

Es ist Seidls Kunst der Menschenöffnung, dass dies alles ohne persönliche Verletzung und ohne jeden Rachegedanken an der katholischen Kirche abgeht, an der der Regisseur, wie er bekennt, „viel gelitten hat“. Das Licht solcher cineastischer Aufklärung entzaubert ja weder das persönliche Gebet, noch entwürdigt es seinen hohen Raum. Vielmehr bringt Seidl das Religiöse auf seinen radikal subjektiven Kern zurück: Kirche und Religion lösen hier das Subjekt nicht auf, sondern lassen es im Gegenteil schmerzhaft isoliert hervortreten. Die sechs Betenden haben nicht nur ihre Biografie in die Kirche gebracht, sie versuchen auch, zum Teil gegen große Widerstände, die Religion in ihre Biografie einzuschreiben. Dabei wird umgekehrt auch das Funktionieren dieser Erzählmaschine beschrieben. Vielleicht mag man es ja als Ketzerei ansehen, die Religion als eine Erzählmaschine zu beschreiben, bei der man sehr rasch den Überblick verliert, wer hier eigentlich wen zu täuschen versucht und wer da womöglich wen oder was als Maskierung missbraucht. Entscheidend aber ist, dass Seidl einmal mehr mit seiner Methode gelungen ist, zu zeigen, was man bisher noch nie gesehen hat und was doch Wesen und innere Praxis unserer Kultur ist.

Aber Jesus bleibt stumm in diesen Wortkaskaden voll unterdrücktem Hass, heuchlerischem Moralisieren, maskierter Geilheit und bei alledem: großer Alleingelassenheit. Seidl bringt die Alleingelassenheit aus dem transzendentalen Kino von Bresson bis von Trier zurück in den durch Nähe, Groteske und Wirklichkeit geerdeten Alltag.

Der „Skandal“ des Films also liegt nicht in der Darstellung des Religiösen, sondern in der vollkommenen Abwesenheit einer Antwort. Religion kommt in dem Film nicht anders vor als in einem zentralen Zeichen, einem leeren Raum und repetitiven Handlungen. Das ist die negative Transzendenz aller Seidl-Filme: Dass der Raum, in dem zu zeigen ist, was man bisher noch nie gesehen hat, nur eine weitere Spiegelung ist. Des Göttlichen. Oder des Banalen.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film