Grenzüberschreitung

Einen Satz wie diesen kann man ziemlich genau in Film übersetzen:

»Die Klavierlehrerin Erika Kohut stürzt wie ein Wirbelsturm in die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt.« Und auch der hier macht keine Schwierigkeiten: »Sie geht und beschleunigt langsam ihren Schritt.«

Es handelt sich um den ersten und den letzten Satz von Elfriede Jelineks Roman »Die Klavierspielerin«. Dazwischen liegen 280 Seiten, eine Geschichte und sehr viel Sprache.

Die Geschichte ist noch am einfachsten. Besagte Klavierlehrerin Erika Kohut lebt in einer merkwürdigen und doch »normalen« Haßliebe-Symbiose mit ihrer Mutter, die sie kontrolliert, die sie »besitzt«, die Großes mit ihr vorhatte und sie doch nicht zum Leben kommen lässt. Man könnte Erika Kohut wohl als »verhärmt« bezeichnen, wenn das nicht ein so furchtbares Distanzwort wäre. Jedenfalls haben ihre Schüler und Schülerinnen erheblich unter ihr zu leiden. Sie gibt einen Anspruch in Form von Zynismus weiter, den die Zweiheit Mutter-Tochter nicht hat erfüllen können. Eigentlich hasst sie diese Menschen, und ob sie Musik »liebt« ist auch die Frage. Sie ist nur erfüllt von ihr, getrieben von ihr, bestimmt von ihr. Es kann nur Gewalt sein, die die Grenze zwischen dieser Gefängnis-Zweiheit und der Welt überschreitet.

Erika reißt der Mutter ein Büschel Haare aus, weil die ihr das gerade gekaufte Kleid nehmen will. Erika vollzieht ein Glasscherben-Attentat auf eine Schülerin. Erika demütigt einen Schüler, den sie vor einer Sex-Auslage erwischt hat.Und Erika verliebt sich in einen Schüler, wenn man das so nennen kann. Mit ihm, denkt sie, kann sie die Gewalt, die sie braucht, um die Grenze zu überschreiten, kontrollieren, auf ihn will sie gewartet haben. Aber das Spiel mißlingt, muss misslingen. Walter Klemmer kann nicht nach ihren Regeln spielen. Die Gewalt wird gewöhnlich, trivial. Am Ende bleibt Erika nur, die Gewalt, die sie erfahren hat, an sich selbst zu übertrumpfen. Mit einem Messer. Nur so kann sie noch einmal nach Hause gehen.

Man kann diese Geschichte verfilmen als Muster des psychologischen Realismus, als Thriller, als schwarzes Märchen oder Melodram einer »amour fou«. Was verschwinden muss, natürlich, ist die Sprache, auch wenn man Dialogsätze direkt übernehmen kann. Jelineks Sprache ist eine, die Körper werden will, die organisch fließt und schneidet, die sich nicht in einem Subjekt, einem Objekt, einem einzelnen oder einem Kollektiv aufhält, sondern durch alles zuckt. In einem einzigen Jelinek-Satz müßte man, sozusagen, mindestens dreimal die Position der Kamera wechseln. Den Schmerz in dieser Sprache kann man ebensowenig in Einstellungen und Montage auflösen wie die ungeheure Komik. »Gefühle sind immer lächerlich, besonders aber, wenn Unbefugte sie in die Finger kriegen. Erika durchmißt den stinkenden Raum, ein seltener Stelzvogel im Zoo der geheimeren Bedürfnisse.« Im Kinos sind wir die Unbefugten im Zoo der geheimeren Bedürfnisse. Immer.

Das ungeheure Komische hat Michael Haneke wohlweislich aus dem Plot seines Filmes eliminiert. Nichts deutet – auf dieser Ebene – auf etwas, nun ja, Ironisches hin. Und für die ständigen Wechsel der Erzählinstanz hat er eine Kamera-Perspektive gewählt, die wir aus seinen Filmen kennen: eine Art unmögliches »Außen«, einen Blick der ostinat und impertinent ist, aber nie intimistisch, nie zur »Identifikation« einlädt. In Isabelle Huppert hat er eine Schauspielerin gefunden, die diesen unmöglichen Blick (der nicht »wegsehen« kann und nicht »verfolgt«), aushält und wiedergibt. Sie ist Maske und Entäußerung, ganz nackt und ganz entrückt.

Nicht obwohl, sondern gerade weil der Film scheinbar so nahe an der Vorlage bleibt, keinen Augenblick den Respekt vor dem Text vermissen lässt, ist »Die Klavierspielerin« mehr ein Haneke-Film als eine Jelinek-Verfilmung. Er knüpft eher an die »Trilogie der Vergletscherung« an als an das Plansequenz-Meisterstück »Code inconnu«. Auf den ersten Blick macht er es uns hier leichter als in den Multi-Character-Stücken, auch die Konsequenz der Gewalt wie in »Funny Games« scheint narrativ etwas mehr abgefedert. Harte Stilmittel wie die Schwarzfilm-Brüche zwischen den Einstellungen oder Schnitte in der Bewegung erspart er uns. Man meint sogar, Michael Haneke habe seinen Frieden mit der Montage des Films gemacht, der sein cineastischer Furor galt. Sehr zu Recht übrigens. Ohne Montage hätten wir es uns nicht angewöhnen können, im Kino so romantisch zu glotzen. »Die Klavierspielerin« hat sogar einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende – und wenn man Roman und Film vergleicht, hat Haneke die Verhältnisse sogar ein wenig zum »Konventionellen« der Kinoerzählung verschoben. So nah also am Erzählkino war der Regisseur schon lange nicht mehr.

Auf den ersten Blick, wie gesagt. Aber wenn es bei Jelinek so etwas wie eine grausige Komik der Sprache gibt, die immer auch mitspricht: Ich bin Sprache, so gibt es bei Haneke eine grausige Komik des Filmischen, das immer auch mitzeigt: Ich bin Kino. Das Angebot der Konvention (der Star, der psychologische Realismus, die Einheit von Zeit und Raum etc.) erweist sich rasch als Falle, in die er den Zuschauer und die Zuschauerin gelockt hat. Immer stärker, je unerbittlicher man auf die »Ungeheuerlichkeiten« zusteuert, öffnet sich die Schere zwischen dem Sehen und dem Glauben. Es ist nicht so sehr die Frage, ob uns eine zur Kamera hingewendet kotzende Frau schockiert, die zur gleichen Zeit zu ihrem der Kamera unsichtbaren Geliebten zuruft: »Schau weg!« Das Schauen selber ist die Frage, unsere Lust daran, den Schmerz eines Menschen als Krankheitsgeschichte zu begaffen. Daß unser »Dabeisein« nicht stimmt, das zeigt Haneke unter anderem in seiner Behandlung der Zeit: Die Einstellung überdauert auch hier sehr oft den Zeitraum der dramatischen Wahrnehmung; die Kamera stößt uns gewissermaßen in eine Situation, in der sie uns dann zugleich einsperrt und allein läßt. Das Sehen und das Nicht-Sehen (Geschehnisse im off, die uns so verletzen können wie das Bild vor der Kamera) ist wie bei Jelinek das Gesagte und Nicht-Gesagte materiell spürbar. Man kann das als Zwang, als eine Art des aufklärerischen Terrorismus durch die Einstellungslänge ansehen. Aber auch als einen notwendigen Bruch mit der Illusionsmaschine, als Kommentar zu unserem Kino-Blick. In einem Haneke-Film hat man immer wieder das Gefühl, man sei irgendwo, wo man eigentlich nicht sein sollte. Aber wie sind wir hierher gelangt?

Georg Seeßlen