Der Autor als Monster

Der Film hat ein neues Monster entdeckt: den Autor. Er ist es, der die Grenzen zwischen den Bildern und der Wirklichkeit verwischt, er hat die Türen zu den verborgenen Leidenschaften geöffnet, und von Zeit zu Zeit pflegt ihm der Schädel zu platzen, und die Ausgeburten seiner Phantasie ergießen sich daraus über den Alltag. Und bei alledem ist er auch anmaßend, selbstsüchtig und manchmal sogar strohdumm. So wie Friedrich Dürrenmatts Kriminalromanautor, der alle Morde, die er beschreibt, auch selber ausführt, ist der Autor im neuen Film ein Mensch, der paradoxerweise am unzweifelhaftesten Wirklichkeit produziert. Zwischen der Phantasie und dem Werk steht die Schuld des Autors an sich und seiner Umwelt: bei der Heldin von MALINA, für die schreibend die Welt in Flammen aufgeht, bei Barton Fink, dem erst ein Mord die Schreibblockade löst. Der Autor ist das Monster nicht als Schöpfer (wie in den traditionellen Künstler-Biographien), sondern als Geschöpf seiner Schöpfungen, seine Flucht ans Ende der Welt führt nur zu einer Brutstätte neuer Dämonen, der sheltering sky öffnet den Raum in Wahrheit nur nach innen. Es ist sehr heiß in allen diesen Filmen.

Paul Bowles, der inszenierende Autor aus Bertoluccis Film THE SHELTERING SKY und nebenbei auch aus der Literaturgeschichte, trifft in NAKED LUNCH auf William Burroughs, den beobachtenden Autor, den Freund der spielenden Autoren wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg. Die Beziehungen zwischen ihnen bilden vielleicht noch so etwas wie eine trostlose Boheme, ein gemeinsames Wahnsystem, vor allem aber ein Geflecht von Verrat und Erschrecken. „Der Preis des Autors ist die Einsamkeit“, hat Max Frisch gesagt, zu einer Zeit, als es für diese Sätze eigentlich schon ein bisschen spät war. In einer Gesellschaft, die sich nicht mehr um die Identität des einzelnen kümmert, kann dieser nur überleben, indem er sich selbst erfindet, und in einer Gesellschaft, deren Produktivität nur durch synthetische Bildwelten und Drogen daran gehindert werden kann, wieder so etwas Gefährliches wie „Geschichte“ zu machen, gibt es nur eine einzige Möglichkeit, Authentizität zu erlangen, nämlich indem man sie erfindet. Der Mensch als sein eigener Autor, das ist Utopie und Höllenvision der Postmoderne. Und es reicht nicht mehr, die gewohnte bürgerliche Bestrafung des Autors vorzunehmen, ihn von seinen eigenen Geschöpfen töten zu lassen oder ihn, wie in MISERY, dem Menschen zum Opfer zu geben, der seine Erfindungen für die eigene Schöpfung benutzt hat.

William S. Burroughs‘ „Naked Lunch“ aus dem Jahr 1959 ist einer der größten literarischen Skandale unseres Jahrhunderts, eine nackte Literatur, die alles soziale Beiwerk des ästhetischen Prozesses überwindet durch die Hilfe von Drogen, durch die Hilfe einer einfachen Prämisse: „Es gibt nur eins, worüber ein Schriftsteller wirklich schreiben kann, nämlich darüber, was ihm

im Moment des Schreibens in den Sinn kommt.“ Der mythobiographische Ausgangspunkt des Textes ist die Tötung der Frau im Rausch und eine Reise in die Homosexualität. Dieser Mord an der Frau, mißlungenes Ritual zwischen einem waffennärrischen Mann und einer Frau auf der Suche nach der Grenze oder böse Befreiungstat, kommt nicht bei Burroughs, wohl aber bei Cronenberg gleich zweimal vor; jedesmal wird dabei eine neue Ebene erreicht, auf der sich das Geschehen in anderen Dimensionen wiederholen wird. Cronenberg verfilmt dabei nicht so sehr den Text, was in der Tat auch kaum möglich wäre, er setzt ihn vielmehr in eine Bewegung durch unterschiedliche Wahrnehmungsräume, die am Ende auch den Zuschauer ergreift.

Bill Lee ist Kammerjäger; mit ekligem gelbem Pulver geht er auf die Jagd nach Küchenschaben. Sie sind für ihn der wahre Feind: Metaphern für das rationale Denken, das ausgerottet werden muss. Man sieht ihn gleich nach seiner nebelerzeugenden Tätigkeit mit seinen Freunden darüber diskutieren, wie notwendig es ist, keine retardierenden Gedanken beim Schreiben zuzulassen: „Exterminate all rational thought“. Kein Wunder, dass er und seine Frau dieses Vernichtungsmittel auch an sich selbst verwenden, als injizierte Droge gegen den Feind der Rationalität. Joan will immer mehr davon; Dr. Benway, bei dem sich Bill Rat holt, verschreibt eine Ersatzdroge aus dem Pulver zerstampfter Tausendfüßler. Joan schläft mit Bills Freund Hank, nur aus Langeweile, das ist nichts Ernstes, beteuert sie, man sieht es. Aber hat Bill durch seine Vernichtungsarbeit seinen Feind nur stärker gemacht, so erklärt ihm ein großes Insekt, dass Joan Agentin einer feindlichen Organisation ist, die um jeden Preis noch diese Woche getötet werden muß. Es nützt nichts, das Insekt zu erschlagen; bei der nächsten kleinen Wilhelm-Tell-Übung trifft Bills Kugel nicht das Wasserglas auf ihrem Kopf, sondern Joan mitten in die Stirn.

Durch Dr. Benway gelangt Bill nach Interzone, ein arabisches Niemandsland, in dem eine überwältigende Glücksdroge hergestellt wird. Er trifft dort auf den Dandy Yves Cloquet, der ihn in die Gesellschaft von Interzone einführt. Bill wehrt sich zunächst gegen seine Annäherungsversuche, obwohl er die Homosexualität als Wesen seines Besuches in Interzone akzeptiert hat. Er lernt den Schriftsteller Tom Frost kennen und dessen Frau, die Joan gleicht und auch so heißt. Bills Schreibmaschine entpuppt sich als großes Insekt, das durch eine Afteröffnung zu ihm spricht und ihn in ein Agentenspiel mit außerirdischen Mächten zieht. Der Kampf der Agenten und der verwandelten Schreibmaschinen geht weiter, und nebenbei der Kampf Bills darum, den Text gegen seine Schuld und die Erinnerung daran zu verfassen. Aber wie soll man auf einer Schreibmaschine schreiben, die ein Insekt ist und bald darauf von einem anderen Schreibmaschineninsekt angegriffen wird? Wie soll man verhindern, dass es das Schreibmaschineninsekt selbst ist, das schreibt? Bill will mit Joan schlafen; Toms Schreibmaschine hat die Gestalt eines überdimensionalen Penis-Geschöpfs angenommen; es wird von der Haushälterin der Frosts, Fadela, verjagt, die zugleich Chefin der Drogenproduktion ist; Hank und Martin wollen Bill aus Interzone zurückholen, aber sie lassen sich vertrösten: wenn sein Roman fertig ist, dann wird er kommen; Hank und Martin fahren mit dem Bus davon; Bill liebt den sanften Kiki, einen Strichjungen und unschuldig Liebenden; Bill gerät in die Fabrik der Droge, wo die Mugwumps den Menschen ihre Milch spenden, die glücklich und willenlos macht; Fadela ist in Wahrheit Dr. Benway; nur eine neuerliche Flucht kann Bill retten, zusammen mit Joan verläßt er Interzone und gerät an die Grenze zu einem offensichtlich tyrannisch geführten Reich namens „Annexia“; Bill soll sich als Schriftsteller ausweisen; er macht etwas vor, die kleine Wilhelm-Tell-Übung mit Joan. Und wieder trifft die Kugel die Frau in die Stirn.

Cronenbergs Film beschreibt in seiner eigenen obsessiven Bildwelt, in der stets das Innere der Körper nach außen gestülpt erscheinen will und sich das Maschinelle mit dem Organischen, der Panzer mit dem Gedärm vermischt, den ästhetischen Prozeß selber. Er verkürzt dazu den Text und nimmt statt dessen mehr biographische Elemente des Urhebers dazu. So werden wir Zeuge, wie drei oder vier Elemente eines – vielleicht – konkreten Lebens, die immer wiederkehren, einer ständigen Bearbeitung, Verkleidung, Verlagerung und Verknüpfung unterzogen werden. Wie Burroughs kann auch Cronenberg dabei streckenweise sehr kalt sein, um dann wieder eine anrührende Intimität zu erreichen. Er steht diesem Schöpfungsprozeß durchaus mit ironischer Distanz gegenüber, in NAKED LUNCH steckt auch eine Satire über den Kreativitätskult der Beat-Generation. Und auch die Lust am „Perversen“, die Konstruktion eines sexuellen Utopia nach Art der Mugwumps (als „Spezialist für sexuelle Ambivalenz“ stellt sich eine der menschengroßen, mit obszönen Körperteilen übersäten Gestalten vor) erweist sich bei Cronenberg als Bild einer dem Wesen nach prüden und furchtsamen Phantasie: Sexualität ist in NAKED LUNCH eine eher freudlose Angelegenheit, intensiv nur dort, wo die Gespenster der unterdrückten Impulse aufeinander losgehen. Und als Bill wirklich der Liebe begegnet, erkennt er sie nicht.

Die Flucht ins „Kreative“, so scheint der Regisseur zu folgern, der seinem Helden als kritischer Rationalist in die Spirale der Alpträume folgt, ist keine Lösung. Und übersetzen wir für einen Augenblick das, was der Schriftsteller als Rationalität ausrotten will, mit „Bewußtsein“ oder, für die Moralisten unter uns, als „Gewissen“, dann erleben wir in Cronenbergs Film eine Art Hase-und-Igel-Jagd: Der Autor flüchtet in immer neue Räume der kreativen Phantasie und findet dort doch immer schon die Dämonen seines Bewußtseins. Umgekehrt ist NAKED LUNCH aber auch eine Parodie jeder Interpretation; uns wird ziemlich schnell klar, dass Cronenberg die überdeutlichen Hinweise zur Deutung von Leben, Text und Bild wie Fallen aufgestellt hat, in die wir nur am Anfang bereitwillig tappen. Am Ende haben wir die Produktion von Ästhetik und Bedeutung so sehr durchschaut, dass wir ganz glücklich darüber sind, Bill Lee nach Annexia loszuwerden. Bei Cronenberg siegt der Igel, das Bewußtsein.

Wie bei BARTON FINK, so fällt auch bei NAKED LUNCH die Besetzung der männlichen Hauptrolle mit einem Schauspieler auf, Peter Weller, der vordem eher durch proletarische, körperliche Darstellungen bekannt geworden ist (ROBOCOP). Diese Autoren sind eben gewiss keine typischen „Intellektuellen“, es sind Monster wie du und ich.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd film 5/92