Anrührend und einfach

Alvin Straight ist über siebzig Jahre alt, lebt mit seiner Tochter Rose in einem Städtchen namens Laurens, und gesundheitlich geht es ihm nicht gerade blendend. Seine Augen sind so schlecht, dass er nicht mehr Auto fahren kann, zum Gehen benötigt er wegen eines Hüftleidens zwei Krückstöcke, und dass er seine Zigarren nicht aufgeben will, macht seinen Arzt auch nicht gerade glücklich. Und da erhält Alvin auch noch die Nachricht, dass sein Bruder Lyle einen Schlaganfall erlitten hat. Lyle, mit dem er vor zehn Jahren im Streit auseinanderging. Seitdem haben die beiden sich nicht mehr gesehen. Alvin Straight möchte sich mit seinem Bruder versöhnen, mit ihm zusammen in den Sternenhimmel sehen, wie sie es als Kinder getan haben. Weil er nicht mit dem Auto fahren kann, kein Bus ihn zum Mount Zion bringt, wo sein Bruder lebt, macht er sich mit seinem Rasenmäher auf die Reise. Tagsüber fährt er mit seinem kleinen, langsamen Gefährt, die Nächte verbringt er in einem selbstgebauten Anhänger. Unterwegs macht er ein paar Bekanntschaften, hört ein paar Menschen bei ihren Erzählungen zu und erzählt ein bisschen von sich. Manchmal wird er eingeladen, aber länger aufhalten lässt sich Alvin Straight nur durch einen Motorschaden seines 1966-John Deere. Mehr als sechshundert Kilometer durchs Herzland geht seine Reise, über den Mississippi und dann rechts den Herbstwald hinauf. Am Ende sitzen die beiden Brüder wirklich vor der Hütte und sehen in den Sternenhimmel. 1997 ist Alvin Straight gestorben.

Eine wahre Geschichte, so anrührend und einfach, dass sie auch durch den kleinen Medienrummel nicht kaputtgemacht werden konnte, den Alvin Straights Reise auf dem Rasenmäher auslöste. Eine Geschichte vom letzten Cowboy. Und vielleicht ist der Name des Regisseurs, der Alvin Straights Geschichte verfilmt, nichts weiter als eine zusätzliche kleine Pointe. David Lynch, der Kerl, der mit seinen Filmen »unter die Haut« gehen wollte, der das Grauen hinter den Gartenzäunen der Kleinstadt-Idyllen zeigte, der sich weder um die Ikonographien der Genres noch um die Regeln des Geradeaus-Erzählens kümmerte, der postmoderne Filmautor, der am Ende mit »Lost Highway« das endlos geflochtene Moebius-Band als Erzählmodell benutzte, David Lynch, der Weltmeister cineastischer Mehrdeutigkeit, inszenierte »The Straight Story« schnörkellos mit respektvoll-zärtlichen Blick auf den alten Mann auf seinem Rasenmäher. Keine Rückblenden, keine Lynchschen Traumsequenzen, nur die lakonische Ganzheit eines Mannes, den Richard Farnsworth spielt, ein Stuntman und Pferdespezialist, der erst spät Schauspieler wurde. Er spielte schon vor zwanzig Jahren alte Männer auf letzten Reisen, Outlaws, die ihren eigenen Weg zu Ende gingen. Sissy Spacek gibt ein bewundernswertes Portrait seiner Tochter, eine Frau, die man für »langsam« hält, die mit dem Sprechen ihre Schwierigkeiten hat, der man nach einem Brandunfall die Kinder weggenommen hat. Ein einziger Blick von ihr aus dem Fenster, wenn ein Ball vorüberrollt und ein Kind läuft, um ihn zu holen, reicht aus, um einem das Herz zu zerreißen. Wenn die beiden bei der nächsten Oscar-Verleihung übergangen werden, stimmt etwas mit der Academy nicht.

Was »The Straight Story« von anderen sanften Road Movies mit alten Helden wie, sagen wir, »Harry & Tonto« unterscheidet, ist nicht nur Lynchs künstlerische Meisterschaft: Jede Einstellung eine perfekte Komposition, jeder Übergang ein genau tariertes Wechselspiel, jedes Dialog-Stück ein poetisches Mini-Drama voller Anspielungen (ebenso auf religiöse und historische Motive wie auf Lynchs eigene Filme), Namen- und Wortspiele, komische Verknüpfungen (eine Idee, die in einer Dialogszene geäußert wurde, taucht in einer anderen unvermutet wieder auf). Während die Kamera, was die straighte Story anbelangt, stets auf der Höhe des Helden bleibt, gibt es eine kontrapunktisch wiederkehrende zweite Kamerabewegung: wie ein Vogel, der Alvin Straight auf seiner letzten Reise begleitet, erhebt sich diese Kamera in die Lüfte, kreist über den Feldern, auf denen riesige Erntefahrzeuge ihren Dienst versehen, über den Wäldern und Straßen.

Die Einführung, in der wir das Ambiente von Laurens kennenlernen, ist purer Lynch-Stoff. Diese Stadt ist nicht weniger fremd und seltsam als Lumberton oder Twin Peaks, ihre Einwohner nicht weniger halluzinatorisch. Aber nicht nach innen geht der geheimnisvolle Weg für diesmal, sondern auf die Straße, die Alvin Straight so langsam befährt, dass wir Zeit haben, die Risse im Asphalt zu beobachten. Er begegnet unter anderem einer schwangeren jugendlichen Ausreißerin, einer Schar Bikern, streitsüchtigen Zwillingen, die seinen Rasenmäher reparieren, und einem Mann, der wie er selbst, im Krieg gelitten hat. Die Geschichte, die Alvin ihm erzählt, etwas, das er los werden muss, ist so hoffnungslos wie das Trauma der Autofahrerin, der er begegnet. Immer wieder fährt sie einen Hirsch tot, sie kann machen, was sie will, ob sie mit Aufblendlicht fährt oder »Public Enemy« mit voller Lautstärke spielt. Dabei liebt sie die Hirsche, die sie totfährt auf ihrem Weg zur Arbeit und wieder zurück. Alvin Straights letzte Reise führt durch ein Amerika, das sich bemüht, freundlich zu sein, und das sich doch in absurden Kreisen bewegt.

Ist »The Straight Story« ein Film der Erlösung oder der Unversöhntheit? Es kommt darauf an, wie man ihn sieht. Alvins Reise in den Tod vermittelt manchmal pures Glück. Aber von dem, was er zurückläßt, geht kaum ein Trost aus. Es ist David Lynchs schönster Film, vielleicht auch sein grausamster. »The Straight Story« hat (beinahe) alle postmoderne Frivolität überwunden; das Reale lauert nicht mehr hinter den Kulissen, es ist der Kamera nur allzu nahe in Sprache und Körper. So nahe, dass jede Einstellung zu einer filmischen Überlegung zu Distanz und Intimität wird. Zu einer solchen Einfachheit in der Darstellung der menschlichen Tragödie und ihrer Komödie kommt man nicht auf geradem Weg. »The Straight Story« ist einer jener Filme, auf die das Kino lange Jahre hingearbeitet hat. Das cineastische Kunstwerk der neunziger Jahre, auf das es sich zu warten gelohnt hat.

 

 

 

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht bei strandgut.de