Süße Revolution

Bernardo Bertolucci blickt zurück. Sein Film „Die Träumer“ schwelgt in der Kinogeschichte und erotisiert den Mai 68

Bernardo Bertoluccis Privatmythologie ist auf eine gelegentlich groteske Art „ödipal“. Beinahe jeder seiner Filme ist um einen rituellen und symbolischen Vatermord aufgebaut, und beinahe jeder Film ist ein Versuch, sich von den Vätern, dem leiblichen Vater, dem großen Lyriker Attilio Bertolucci, dem filmischen Ziehvater Pier Paolo Pasolini und dem gehassliebten großen Bruder im Geiste, Jean-Luc Godard, zu trennen. Ödipal konstruiert sind auch seine Liebesgeschichten, seine bürgerlichen Milieubilder, seine Sprache, sein Filmen in der ersten Person. Es gibt kaum einen Regisseur, dessen Arbeit man so leicht ein Psychogramm unterlegen kann wie Bertolucci. So eine obsessive Behandlung von Motiven der Neurose kann einem gewiss auch ganz hübsch auf die Nerven gehen. Und dennoch erwarten eine Menge Cineasten einen neuen Bertolucci-Film wie eine Offenbarung, wie einen Fingerzeig, wohin die Reise gehen könnte zwischen Sex, Politik und moving pictures.

Die Träumer ist eine Bertolucci-Darstellung des Mai 68. Das heißt: Der Weg zum Zeit-Bild kann nur durch die pictures of Bernardo führen. Und so wandert Bertolucci in diesem Film nicht allein durch die Zeit- und die Kinogeschichte, sondern auch durch das eigene Werk. Die Geschichte ist geradezu klassisch einfach, auf den ersten Blick. Matthew (Michael Pitt), ein junger Amerikaner, der in Paris studiert, fühlt sich hier fremd. Seine Leidenschaft für das Kino führt ihn regelmäßig in die Cinemathèque Française. Als deren Leiter Henri Langlois entlassen wird, kommt es zu Solidaritätsbekundungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im Tumult lernt Matthew Isabelle (Eva Green) und ihren Zwillingsbruder Theo (Louis Garrel) kennen, die drei werden unzertrennliche Freunde. Es entsteht ein hoch kompliziertes, hoch stilisiertes und hoch gefährdetes Beziehungsdreieck, von dem Matthew zwar fasziniert ist, dem er aber auch immer wieder in eine „Normalität“ entkommen will, die es für Theo und Isabelle nicht gibt. Während deren Eltern in den Ferien sind, zieht Matthew zu den beiden in die Wohnung. Da die Cinemathèque geschlossen ist, kann man ebenso gut auch zu Hause bleiben.

Trance aus Joints und Wein

Die drei ziehen sich immer weiter in ihre erotischen und psychischen Spiele zurück. Sie stellen etwa berühmte Filmszenen nach, und wenn der andere den Ursprung nicht erraten kann, gibt es eine Strafe, die in der Regel in einem erotischen Akt besteht. Bei einem dieser Spiele schließlich verlangt Theo, dass Matthew mit seiner Schwester schläft.

Immer enger wird der Raum; die drei lassen die Wohnung herunterkommen, nicht einmal zum Essen gehen sie noch aus, und als kein Geld mehr da ist, holen sie gar das Essen aus dem Abfall. Die soziale Regression führt im Inneren indes zu einer Konzentration der Gefühle und der Gedanken; die Liebe ist genau so wichtig wie die Debatten über die Politik, die Kunst, die eigene Haltung (zum Beispiel, was den Krieg in Vietnam anbelangt). Der Lebensraum wird weiter reduziert, auf die Badewanne und dann auf ein „Zelt“, wie es Kinder zu bauen pflegen, wenn sie ein intensives Gemeinschaftserlebnis ersehnen. Da sind sie noch einmal so vollständig glücklich, wie man es nur außerhalb der Welt sein kann.

Während die drei, von Joints und vom teuren Wein aus Vaters Keller in ihrem Trance-Zustand verstärkt, in ihrem Weltpunkt schlafen, selig, wie man so sagt, kommen die Eltern zurück, und betrachten verstört, was die Enfants terribles angerichtet haben. Als Isabelle die Spuren der elterlichen Anwesenheit bemerkt, ist sie verzweifelt: Ein Blick hat die Unschuld zerstört. Mit einem Gasschlauch probt sie den kollektiven Selbstmord – aber bevor die drei das Leben verlieren, wird ein Pflasterstein von der Straße durchs Fenster geworfen. Ganz buchstäblich hat da die Revolte den Bürgerkindern das Leben gerettet. Als hätten sie schon lange auf dieses Signal gewartet, werfen sich Theo und Isabelle mit Inbrunst in den Straßenkampf. Matthew versucht vergeblich, sie vor dem Verrat ihrer Ideen durch die Gewalt zurückzuhalten und bleibt allein zurück.

Natürlich ist diese Metapher politisch höchst unkorrekt: Sollten die Studenten ihre Steine etwa einfach so in der Gegend herumgeworfen haben? Wie Kinder, die ihre Murmeln werfen, damit sie irgend etwas Wunderbares finden? Und sollte die Gewalt nicht in den Straßen, sondern nur in der Agonie der Bürgerwohnungen erzeugt worden sein? Das wäre eine reichlich reaktionäre Lektüre! Aber in Wahrheit besteht ja der ganze Film aus solchen Verrückungen: Was Bertolucci definitiv nicht unternimmt, ist eine Untersuchung von 1968 aus der Perspektive des politischen Sinns. (Das furchtbarste Ende dieses Traums: dass er nützlich war und sich als Motor notwendiger Modernisierung eignete. Da könnte man ja gleich einen Film über Joschka Fischer drehen!) Nach den Regeln des Traums aber gibt diese Abfolge sehr viel mehr Sinn als nach den Regeln unseres gewohnten filmischen Behaviorismus. Die Eltern, die den Schlaf der Kinder beobachten, sind die eigentlichen Auslöser der Revolte oder auch ihre Unfähigkeit, eine ödipale Angriffsfläche zu bieten.

„Es ist“, sagt Bernardo Bertolucci, „mein persönlichster Film, er drückt meinen Wunsch nach dem Neuanfang aus.“ Nach dem historischen Neuanfang im Jahr 68? Nein, strikt lehnt der Regisseur jede ricostruzione ab. Es ist der Neuanfang des Jahres 2003. Durch einen Akt der Befreiung von einer Erfahrung, die zum Mythos werden musste, um überhaupt ins Gedächtnis der Gesellschaft einzugehen.

Die Träumer ist schon ein ziemlich unverschämter Film, und das vielleicht macht seine eigene Poesie aus. Einmal mehr hat sich Bertolucci in den drei so miteinander verbundenen Jugendlichen vor allem selbst porträtiert: Isabelles vorbehaltlose Liebe zum Kino, ihre Lust daran, jedes Detail und jede Wendung ihres Lebens zu inszenieren, Theos Lust am politischen und ästhetischen Diskurs (der sich mit der Poesie des Vaters nicht mehr einverstanden erklären kann). Und der pragmatische Matthew, der der schwankenden poetischen Radikalität der anderen nicht folgen kann, der Subjekt werden will in der Welt der Inszenierungen. Man könnte das Spiel gar als eine Beschreibung der verschiedenen Seelen-Instanzen Ich, Es, Über-Ich begreifen, eine jede im heftigen Clinch mit der anderen.

„Wenn wir uns im Jahr 1968 ins Bett gelegt haben, dann haben wir es mit der Vorstellung getan, dass wir am nächsten Morgen in der Zukunft aufwachen. Nicht am nächsten Tag, sondern in der Zukunft“, sagt Bertolucci. Morgen ist zwar vermutlich leider nicht die Zukunft, sondern nur wieder der nächste Tag, aber morgen gibt es auch wieder andere Filme, zum Beispiel solche, die erklären, wie der Staat die Gewalt produzierte oder wie sich die Revolte auch gegen die bessere Gesellschaft richtete. Aber heute wollen wir Bertolucci folgen: Anders als die meisten Filme über die 68er sieht Die Träumer die Epoche nicht von einem tragischen oder trivialen Ende aus. Es ist nicht der Narziss Bertolucci, der sich noch einmal in die süße Zeit vor der Revolution träumt, es ist der erwachsene Künstler, der nach dem Zusammenhang von Narzissmus, Kino und Revolte fragt. Und nicht bereut, mittendrin in der Groteske der tragischen Kinder gewesen zu sein.

Lustvolle Erinnerungen

Der Film verweigert sich dabei der systematischen Denunziation, der Zerknirschung, der Enttäuschung, die offensichtlich zum historischen, kulturellen Projekt in den „betroffenen“ Gesellschaften geworden ist. Für die einen war 68 ein eruptives Geschehen, das seinen Sinn in den ruhigeren Fahrwassern von Sozialdemokratie, Ökologie und Feminismus fand. Für die anderen ein albernes Spektakel, in dem sich verwöhnte Bürgerkinder austobten, bevor sie wieder in die Fahrbahnen der Spießer oder Karrieristen fielen. Es ist, als würde man mit dem Erfolg der Revolte auch die Süße verneinen wollen. Es ist verboten, lustvoll von 68 zu sprechen. Die Botschaft, wenn man denn schon eine suchen will, in Die Träumer liegt in der Offenheit, der Freiheit, der Leichtigkeit, mit der sich der Regisseur zugleich in seinem eigenen Kosmos und in der Geschichte der Revolte bewegt. Vielleicht muss man eben doch einen gewissen Reifegrad haben, um an diesen magischen Ort vor der Revolution zurückzukehren.

Bernardo Bertoluccis Film behandelt nicht den Traum, sondern die Träumer. Der Traum ist vorbei, aber die Träumer sind nicht verschwunden. Wenn sie nicht gestorben sind oder ihren Traum vergessen haben. Der Film ist wie das merkwürdige Duett von Edith Piaf und Jimi Hendrix am Ende. Das passt nicht zusammen oder eben doch: traumhaft.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in Die Zeit