Menschen unter Trümmern

Die Reaktionen der populären Kultur auf den 11. September waren vielfältig und widersprüchlich, sie reichten von Tilgungen der Twin Towers in Bildern und Grafiken bis hin zu cineastischen Revanchefantasien. Oliver Stones WORLD TRADE CENTER startet im Kino fünf Jahre nach den Anschlägen, am 28. September. Die Sehnsucht nach einem Trauer-Bild, das Versöhnung, Menschlichkeit, Trauer, vielleicht auch eine Möglichkeit des Abschlusses bietet, ist groß.

Kann dieser Film sie erfüllen?

Was mit der „Endlos-Schleife“ der ersten Katastrophenbilder begonnen hatte, die längst einen Platz in unserem Fundus der Weltbildergeschichte hat, setzte sich in allen Medien in den unterschiedlichsten Formen von Bearbeitung und Auflösung fort: 9/11-Bilder kamen in Superhelden-Comics und Kinderbüchern, auf CD-Covern und Buchumschlägen vor, sie wurden zu Kunstprojekten verwendet. Und sie spukten in den Produkten der Traumfabrik. Die direkte visuelle Erinnerung an den verheerenden Anschlag freilich überließ man zunächst den Fernseh-Dokumentationen, den Berichten von Polizisten und Feuerwehrleuten, die den Einsatz in den brennenden und zusammenbrechenden Türmen überlebt hatten, und kleinen, direkten Filmen, wie sie ein Jahr danach in der Kurzfilm-Kompilation 11’9″01 – SEPTEMBER 11 zusammengestellt wurden.

Die politische Rhetorik, die sich aus der Reaktion auf die Anschläge entwickelt hatte, war für Bilder und Worte der Trauer nicht geeignet. Sie spaltete eher, als dass sie versöhnte, und Michael Moore fand Gehör für seine Angriffe in FAHRENHEIT 9/11, der vom Abbau der zivilen Freiheiten, von Propagandalügen und der Kriegslüsternheit der Bush-Regierung erzählte. Eine noch radikalere Dissidenz zeigt die Amateur-Dokumentation-Montage LOOSE CHANGE, die im Internet mehr Beachtung fand als alle offiziellen Dokumentationen, selbst jene, die durch die Mitwirkung von Hollywood-Stars „aufgesext“ wurden. Die Verschwörungstheorie dieses Internet-Films entzündet sich am Misstrauen gegenüber den Bildern. Wie einst die amerikanische Mondlandung, so wird hier durch eine intensive Bildbefragung das gesamte Ereignis als Fälschung interpretiert; in Wahrheit, so die abgeleitete These, wurden die Twin Towers nicht durch die entführten Flugzeuge, sondern durch einen amerikanischen Raketenbeschuss zerstört. Weniger die Schlüssigkeit einer solchen Gegenmontage der Bilder, sondern ihr Echo erzählt vom verbreiteten Misstrauen an der offiziellen Geschichte zum 11. September: Allein bei Google haben zehn Millionen Menschen das Video angeschaut, die Seite www.loosechange911.com wird 20.000 Mal täglich abgefragt.

Das große Bild der Katastrophe war zugleich überwältigend und unlesbar; nach einer kurzen Phase der Vereinigung in Schmerz und Zorn teilte es eher die Wahrnehmung: Elf Tage nach dem Ereignis erklärte Jacques Derrida bei der Verleihung des Adorno-Preises: „Mein unbedingtes Mitgefühl, das den Opfern des 11. Septembers gilt, hindert mich nicht, es auszusprechen: Ich glaube angesichts dieses Verbrechens an die politische Unschuld von niemandem.“ Diese Empfindung von Zweifel und Misstrauen, nicht nur dem erklärten Gegner, sondern auch der eigenen Regierung gegenüber, setzte sich, wenn auch nicht mit vergleichbarer Schärfe, nach und nach sogar im Mainstream fort. Fatalerweise ging dabei sogar das Mitgefühl mit den Opfern verloren, und man musste, jenseits der patriotisch-sentimentalen Gesten, eine „Unfähigkeit zu trauern“ in der amerikanischen Gesellschaft empfinden, als sich etwa der Streit um die Gestaltung von Ground Zero zu einem unwürdigen Streit um Geld und Einfluss entwickelte, als das Memorial für das abgestürzte vierte Flugzeug nicht zustande kam, weil konservative Senatoren dafür kein Geld bewilligen wollten, und als die Folter-Bilder von Abu Ghraib den Krieg gegen den Terror selber als Terror entlarvten.

Die Bildermaschine läuft

Dass sie dennoch einmal kommen müssten, die großen 9/11 -Filme aus Hollywood, die Erinnerungsfilme, die zugleich eine Form der Versöhnung und ein visuelles Gedenken erreichen würden, das war indes längst beschlossene Sache. Die langsame, aber nachhaltige Bildermaschine war längst angeworfen. Der Termin für diesen Abschluss einer allgemeinen Zorn- und Trauerphase bot sich an: Fünf Jahre nach diesem Ereignis war Zeit für 9/11Filme, die dem Gedenken, der Versöhnung, der Klärung dienen sollten. Das Zauberwort dafür war „nicht politisch“.

Diese Filme sollten weder die Terroristen und ihre Motive erklären noch die Rhetorik der militärischen Gegenschläge oder die Beschneidung der individuellen Freiheiten, sondern sie sollten den Opfern gewidmet sein, den Menschen vor allem, die in der Katastrophe Mut und Menschlichkeit bewahrt hatten. Das große Kino bekam die Aufgabe, den Schrecken nicht nur nachzubilden, sondern nacherlebbar zu machen, soweit dies überhaupt denkbar ist. Eine Identifikation mit den Opfern war das dramaturgische Ziel, die bereits in großen Kriegsfilmen, von Steven Spielbergs DER SOLDAT JAMES RYAN bis zu Ridley Scotts BLACK HAWK DOWN erprobt war: den Zuschauer mit allen Mitteln, über die das moderne Effektkino verfügt, hineinwerfen in die Situation des Grauens, ihn selber zum Subjekt von Terror und Gewalt machen. Der entscheidende Wandel steckt nun in der Perspektive. Das große Wir kommt in den Filmen der Subjekt-Katastrophe gar nicht mehr vor, es geht um das Erleben des Einzelnen und um das kleine Kollektiv. Man durchlebt gleichsam im Kino eine Begegnung mit der terroristischen Gewalt und noch mehr eine Begegnung mit dem Tod.

FLUG 93 (2006), Paul Greengrass‘ Film über den Flug des vierten der entführten Flugzeuge, spielt dies in einem klaren Modell durch. What you see is what you get. Keine Konnotationen, so gut wie keine ideologischen Tricks. Der pure Stoff. Das Leinwand-Revivre einer existenziellen Situation, dem sicheren Tod entgegen. Nach einer Anzahl sehr unterschiedlicher Dokumentarfilme, zum Beispiel THE FLIGHT THAT FOUGHT BACK, der im Discovery Channel am vierten Jahrestag der Tragödie gezeigt wurde, war dies das Werk, das als erster „authentischer“ 9/11Film gelten sollte. Er schildert den Versuch der Passagiere des Fluges United 93, die Entführer und Attentäter auf dem Anflug nach Washington zu überwältigen, und den Absturz der Maschine über Pennsylvania. Greengrass entschloss sich zu einer etwas ungewöhnlichen Geste: Der Film sollte gleichsam einen kollektiven Helden zeigen. Es sollte nicht, wie im traditionellen Katastrophenfilm, um die typischen amerikanischen Heroen gehen, die Tatmenschen und geborenen Führer, die die anderen allenfalls mitreißen, sondern um 40 gleichwertige Menschen, die sich zum gemeinsamen Widerstand gegen den Terror entschließen.

Zur gleichen Zeit wurde ein anderer Film von der Marktpräsenz dieses Films an die Seite gedrückt, nämlich FLLGHT 93 -ES GESCHAH AM 11. SEPTEMBER Von Peter Markle, nur auf DVD herausgekommen. Die Filme benutzen sehr ähnliche Gestaltungsmittel, Schnitte vom Flugzeug zu den Angehörigen und dann zur Flugsicherung, Handkamera, das subjektive Empfinden der Bedrohung. Allerdings ist die Fassung von Greengrass nicht nur um mehr Authentizität bemüht, sondern auch weniger an der Ideologie interessiert, die in Peter Markles Film für das Fernsehen doch sehr deutlich in den Vordergrund gestellt ist.

Die Katastrophe und die Medien

Während alle Welt auf den „endgültigen“ 9/11-Film wartete, reagierten weitere periphere Produktionen auf die Spannungen und Zweifel in der Behandlung des großen Erinnerungsbildes: Beim Fernsehsender ABC entstand eine dokumentarische Miniserie mit dem Titel „9/11 Commission Report“, gleichsam als Antwort auf LOOSE CHANGES und bereits weit entfernt vom Pathos der früheren Zusammenstellungen. Eine ganz andere Möglichkeit wählte Paul Weitz mit AMERICAN DREAMZ, der den Versuch, zugleich eine Fernsehsatire und eine Satire der amerikanisch-irakischen Beziehung zu sein, mit einer gewissen Unverbindlichkeit bezahlt. Richtig böse ist der Film allerdings in der Charakterisierung der Medienleute, die für ihre Karrieren buchstäblich über Leichen gehen, und eines Fernsehens, das selbst gewalttätige Fundamentalisten süchtig danach macht. Weitz‘ Film ist wohl selber ein Stück dieser Kultur oder Unkultur der Medienpolitik, die er zu kritisieren versucht: Es gibt zweifellos einen Zusammenhang zwischen Medien und Terror. Aber so einfach ist er wohl nicht, dafür in Details umso beschämender: Nur zum Beispiel kam nachträglich heraus, dass entgegen der ursprünglichen Verlautbarungen CNN für die 64 Videobänder von al-Qaida nicht weniger als 30.000 Dollar bezahlt hatte. Die Erzählmaschine zahlt also direkt und indirekt auch wieder ins Terrornetz und greift nicht allein durch die mediale Verstärkung in die terroristische Strategie ein. Im Sommer 2002 strahlte CNN in der Sendung „American Morning“ täglich ein Stück der Bänder unter dem Motto „Terror on Tape“ aus, eine Serie, die sich mit den Aussagen von Experten und Journalisten wieder ein journalistisches Kleid gab, formal aber eine Art reality soap darstellte.

Alle Beteiligten des „Krieges gegen den Terror“, der vielmehr einer Terrorisierung des Krieges entspricht, betreiben eine manische Bilderproduktion, in „offiziellen“ und öffentlichen Zirkeln ebenso wie in der subkutanen Produktion der mehr oder weniger privaten Videokameras, die keine Folterung versäumen, keine Schandtat undokumentiert lassen. Auf ihrer Internet-Seite propagiert die „Islamic Army“ nicht nur den internationalen Kampf gegen den Feind Amerika und gibt praktische Hinweise für Herstellung und Einsatz der entsprechenden Waffen dafür, es wird ausdrücklich auch darauf hingewiesen, dass alle Gewalttaten gegen den Feind unbedingt gefilmt werden müssen, denn dies „terrorisiert die Feinde nah und fern“. Zur gleichen Zeit aber strahlt das Fernsehen, Channel 4, in England eine reality show mit dem Titel „Torture: Guantanamo Guidebook“ aus, in der sich Freiwillige einer demütigenden Gefangenschaft und Folter unterziehen, zum Vergnügen der Fernsehzuschauer, wie man sie sich in Amerikas allem Völkerrecht hohnsprechenden Terrorgefängnis vorstellt. „Im Krieg gegen den Terror“, so erklärt die Redakteurin Dorothy Birne, „ist Folter eine entscheidende Waffe. Daher ist es für die Zuschauer wichtig, Formen und Bedingungen der Folter kennenzulernen.“ Es gibt gleichsam keine Barrieren mehr zwischen Fiktion, Propaganda, Dokument, Information, Entertainment. Anders gesagt: Den Markt beherrschen die schmutzigen Bilder, und sie erzeugen eine Sehnsucht nach einer neuen „Reinheit“ des (filmischen) Gedenkens.

Greengrass machte diesbezüglich wohl alles richtig, ganz einfach im Weglassen: kein Pathos, keine überzeichneten Filmschurken als Terroristen, keine Stars und kein body count. Aber das große erwartete und geplante filmische Versöhnungswerk konnte das nicht sein. Es war noch einmal: ein Nullpunkt. Für das „nationale Versöhnungswerk“ dagegen war Oliver Stone ausersehen, der einerseits den Ruf hatte, amerikanische Legenden mit einem kontroversen Blick zu sehen, andererseits aber mit PLATOON genau den Film gedreht hatte, der die Nation nach aller Spaltung in der Erinnerung an den Vietnamkrieg geeinigt und versöhnt hatte: So war es, sagten die Veteranen, sagten die Soldaten, sagten die Kids, die den Erzählungen der Eltern teils fasziniert und teils misstrauisch gelauscht hatten. Und: So war es, sagten auch die, die gegen den Krieg demonstriert hatten, die den Erklärungen der Regierung und den Bildern der Medien nie glaubten, und die an der Geschichtsschreibung zu diesem Krieg zweifelten. Ein filmischer Gedenkstein, auf dem dieses „So war es“ gemeißelt war. Genau so etwas sollte Stone auch zur Erinnerung an 9/11 liefern, einen heftigen, aber unpolitischen Film, der all die brachialen Regietricks dieses groben Meisters in den Dienst dieses allgemeinen „So war es“ stellen sollte. Für einen Film, der zugleich Tränen und Gleichgültigkeit erzeugt.

WORLD TRADE CENTER: Wie unpolitisch ist die Katastrophe?

Auch Stone benutzt das Modell einer „Subjekt-Katastrophe“ in seiner nach authentischen Fällen modellierten Geschichte von den zwei Polizisten, die beim Einsatz im World Trade Center verschüttet werden und erst nach langen quälenden Stunden von Helfern gerettet werden, die voller verzweifeltem Optimismus nach Überlebenden suchen. Aber wo bei Greengrass das vom Terror gepeinigte Subjekt vom Außen abgeschnitten und ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen handelt (und gerade darin zum kollektiven Helden verwandelt wird) konstruiert Stone eine doppelte Heilsbeziehung zwischen Innen und Außen: Die verschütteten Menschen glauben an das Draußen, an ihre Familien, an ihre Freunde, ganz allgemein an ihre Mitmenschen und noch allgemeiner: sie glauben an America, und daher nehmen sie die Kraft, gegen den Schlaf und den Tod anzukämpfen und erleben ihre Rettung. Und umgekehrt wird das Außen, dieses bescheidene, in allen Spannungen Geborgenheit produzierende, dieses gläubige America erlöst durch die Rettung der beiden verschütteten Polizisten.

In den Szenen, die die existenzielle Situation der Todesnähe schildern, erreicht Stone sein „So ist es“, und wie sollte man mit Menschen in solchen Schmerzen und solcher Angst nicht Mitleid empfinden? Alles was sonst zu Erklärungen und Bild-Philosophie bemüht wird, verschwindet in solchem Augenblick: Terror, das bedeutet nichts anderes als die Produktion von menschlichem Leid. So wäre die Reinheit des Bildes gerettet: Der leidende Mensch, der nichts rechtfertigt, nichts erklärt, nichts bewirkt. Nur in seinem Schmerz protestiert gegen die Gewalt. Um diese Reinheit zu erzeugen, nahm Stone eine bemerkenswerte Trennung vor: „Natürlich gibt es eine kollektive Erinnerung an den 11. September 2001. Aber es gibt auch die Erinnerung und die Wahrheit dieser einzelnen Männer“, so verkündete der Regisseur mantrahaft. Die kollektive Erinnerung und die Wahrheit des Einzelnen verhalten sich also widersprüchlich zueinander; das eine muss mit dem anderen versöhnt werden, und ganz direkt macht ein Film wie jener von Stone das, indem er von den Realaufnahmen der Katastrophe zum fiktiven (aber „authentischen“) Drama schneidet, dieses wiederum in der Gegenwärtigkeitsform des Dokumentarischen ausstellt und im Star (Nicolas Cage) eine weitere Versöhnung von Glamour und Dokumentation zelebriert. Wir erleben das Äußere der großen Bilderschleife vom 11. September buchstäblich von innen, der Zusammenbruch des Turms ist da aller Schauspielhaftigkeit entkleidet, es ist sinnlich erlebte Zerstörung. Schmerz.

Da draußen aber sehen wir leidende Familien wie von Norman Rockwell gemalt, durchglüht von einem inneren Licht, das alle Widersprüche überstrahlt, und stabilisiert von einer Ordnung, die „patriarchalisch“ zu nennen noch untertrieben wäre. Wenn Oliver Stone in WORLD TRADE CENTER ein ideales Amerika des unteren Mittelstands gleichsam in Negation erzeugt, dann kann einem Angst und Bange werden. Diese bigotte und sentimentale Spießerwelt scheint in der Tat ein geschlossenes System, in dem nichts von einer Welt verstanden werden kann, in der dieses und jenes zwischen Alltag und Fernsehen geschieht, unter anderem die eigene Ausbeutung. Natürlich ist das Loblied auf den kleinen Mann (und seine noch kleinere Frau) ein politisches Statement, ebenso wie die Betonung der multikulturellen Zusammensetzung von Polizei und Feuerwehr: Alle wollen auf eine fast schon kindliche Weise gute Amerikaner sein, und der Latino-Kollege (Michael Pena) der von Cage gespielten Polizisten-Figur ist sogar so eifrig in seinem Job, dass er auf seinen freien Tag verzichtet und sich natürlich als Freiwilliger meldet, als es zum Einsatz im Turm geht. Wie damals in Vietnam geraten auch hier gerade die besten Amerikaner ins Fegefeuer, die eigentlich viel zu geradlinig, viel zu kindlich sind, um das unübersichtliche Geschehen zu begreifen. Anders als bei Greengrass hat das „gewöhnliche Heldentum“ bei Stone nichts mit Entscheidungen zu tun, es besteht vielmehr in einer offensichtlich natürlichen Bereitschaft zu Hilfe, Beistand und Mitleid. Es ist die Innenwelt des amerikanischen Populismus, der immer wieder die Wärme der nachbarschaftlichen Subjekte gegen Staat und System, Krise und Krieg in Schutz nimmt. Und hier wird buchstäblich bis aufs Skelett reduziert: Die Welt ist so weit, wie man sehen kann – selbst das Fernsehen ist schon Verrat an dieser Dimensionierung des Norman-Rockwell-Amerikas, das nur aus Familie und Arbeit zusammengesetzt sein kann.

Die Erzählrichtung also hat sich noch einmal radikal umgekehrt. Der Tag, von dem an eigentlich nichts mehr so wie früher sein sollte, wird zum Tag, an dem sich offenbart, dass alles im Wesen gleich bleiben wird. Der Tag, an dem Amerika infrage gestellt wurde, wird zum Tag, an dem Amerika seine Schöpfungsgeschichte wiederholt. WORLD TRADE CENTER kann man als propagandistisches Klassenbild lesen, als Apotheose eines urbanen Middle America, das es so unter den ökonomischen Bedingungen der Bush-Regierung gar nicht mehr gibt. Darüber hilft das repetitive Bekenntnis zur geliebten Familie nicht hinweg; im Irak ist die andere Seite dieses kaputten Middle America am Werk zu beobachten. Stone ist offenkundig verliebt in diese Familien mit ihren Ängsten und kleinen Widersprüchen und ihrem inneren Leuchten einer Heiligkeit, die wie aus einer Fernsehserie der Fünfzigerjahre ausstrahlt, mitsamt den absurden Scheinkonflikten.

Stones Unterfangen, dem Geschehen die menschliche Seite zu zeigen, ist zunächst einmal erfreulich – und führt doch in eine furchtbare Maskerade der Indifferenz. Das „Unpolitische“ ist immer das Politische, das sich mit einem Hang zur Tücke realisiert. Während sich Greengrass auf eine existenzielle Ausnahmesituation konzentriert und damit für seine Menschen vielleicht wirklich so etwas wie ein filmisches Denkmal erzeugt, entwirft Stone ein ganzes Gesellschaftsbild. Man könnte vielleicht auch sagen: Oliver Stone kann einfach nichts anderes als Kriegsfilme, Männerfilme, „So war es“-Filme, die im Kern von der großen Sehnsucht des Einzelgängers nach Gemeinschaft handeln. Deswegen missversteht er noch in seinen „kritischen“ Filmen die Gewalt. Er sieht ihre subjektive Kommunikation, er sieht ihre mythische Begründung, er sieht ihre zynische Verbreitung, aber er sieht nicht ihre Struktur. Umgekehrt scheint aber auch WORLD TRADE CENTER, wie alle 9/11-Filme dieser Zeit, von den wahren Schrecken sowohl der Katastrophe selber als auch der militärischen Reaktion abzusehen. Die Katastrophe ist dadurch, mit anderen Worten, in die Binnenstruktur der Erzählmaschine eingebunden worden. Sie ist normal.

Das Post-9/11-Filmbild der Versöhnung und Erklärung wurde offensichtlich nicht gefunden. Vielleicht, weil es dafür weder eine politische noch eine kulturelle Praxis gibt. Diese Praxis dagegen kann man sehr genau in Spike Lees ALS DIE DÄMME BRACHEN: EIN REQUIEM IN VIER AKTEN für die andere Katastrophe sehen, die Folgen des Hurrikans in New Orleans. Dass die beiden Filme auf dem internationalen Bildermarkt gegeneinander antreten, macht vielleicht eine sehr einfache Bilderwahl deutlich wie selten. Die zwischen der Wahrheit und der Lüge.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film