Mädchenblüten und Schatten

3 Skizzen, angeregt durch „Je Vous salue, Marie“ („Maria und Joseph“) von Jean-Luc Godard

„Selig, die da nicht sehen und doch glauben“, sagt Jesus zum ungläubigen Thomas, der seine Wunden sehen will. Der schweizerische Calvinist Jean-Luc Godard hat einen Seh-Film für Männer gemacht, die es müde geworden sind, mit dem anstrengenden Geschlecht, das nicht eins ist, mit den komplizierten Frauen, Liebe zu machen. Noch einmal wird die Frau vom Mann neu erschaffen: als Mädchen, das die Unmöglichkeit seiner Existenz mit allem, was Bilder sagen können, verteidigt. Was bleibt uns, als zu glauben oder Glauben als Eingeständnis zu sehen, darein, daß die Geschichte sich vom Mann entfernt hat, ohne sich der Frau zu nähern. Nicht ihre Privilegien haben sie verloren, sondern die Möglichkeit, sie zu genießen, diese Männer, die an einem unvollendbaren Bild der Frau nach Art der Bastler werken. Jenseits des Sexus seien die Wunden des Mannes, die alle den Namen „Frau“ zu tragen hätten, wenn nicht zu heilen, so doch mit Sinn zu heiligen. Wer an Maries Jungfernschaft glaubt, muß auch an diese Wunden glauben, ohne sie zu sehen.

Godard, dieser humorlose Tropf, gewiß einer der größten der Ton- und Bildschöpfer en ce temps lá, erzählt von einem Ausweg, der keiner ist.

1. Die Dylan-Frau und das Godard-Mädchen

Wenn es derzeit möglich ist, über Gitarrensoli zu sprechen, ohne rot vor Scham zu werden, können wir auch einen Kurzbesuch in den 60er/70er Jahren unternehmen. Sie bestanden aus dem Vietnamkrieg und den Hippies, aus der heimlichsten und perfektesten kulturellen Restauration der Nachkriegszeit und aus der unverstandensten, unwiderrufbarsten Revolution überhaupt. Sie bestanden aber auch aus Worten und Bildern zur „sexuellen Befreiung“, aus Bob Dylan und Jean-Luc Godard. All das hatte den Namen „Politik“ bekommen, und Bob Dylan und Jean-Luc Godard waren politische Künstler, obwohl oder vielleicht gerade weil niemand zu sagen wusste, ob sich Dylan und Godard, jeder auf seine Weise, nicht viel mehr über „Politik“ lustig machten. Jedenfalls gehörten sie zu einer Bewegung, die das Wort „Politik“ auf dem Markt der Sprache zu einer frei konvertierbaren Währung machten. Etwas war politisch, indem man es politisch sah.

Godard sagte, man müsse Filme politisch machen; das war vernünftig und enthob ihn gleichzeitig der leidigen Aufgabe, so etwas Langweiliges wie politische Filme zu machen. Und Dylan war nur ein paar mal dort, wo sich kleine Unkontrolliertheiten ereigneten, was sowohl die Ordnungshüter als auch seine Fans als Politik missverstanden. Ansonsten waren unsere Kulturhelden vereint durch ein trotziges Da-Sein, das nie ohne einen verborgenen Kern religiöser Energie möglich gewesen wäre, und durch eine eigene Kunst des Schneidens sowie die Romantik, die diese Schnitte daran hinderte, alles Blut, das in den „Werken“ und ihrem inneren Fortschreiben steckte, an die Oberfläche zu entlassen. Diese Ästhetik der Schnitte führte zu einer Ästhetik der Unverstandenheit mit so etwas wie einem surrealistischen Dokumentarismus als Arbeitsmethode. LA CHINOISE entlarvt keinesfalls den Maoismus als Mode; vielmehr steckt in diesem Film, den Godard ausdrücklich als besonders dokumentarisch verstanden haben will, die Erkenntnis vom Stil als eigentliche Sprache der Politik. Es ist möglich, die Unterdrückung als Kunstwerk zu überleben.

Natürlich war Godard klug genug, diese Erkenntnis nicht einfach zu feiern, sondern sie mit unzähligen Fragezeichen zu versehen, aus denen sich gleichsam die Dramaturgie seiner (frühen) Filme ergibt. Man konnte sich aus Godard-Filmen stets bedienen. Gesten und Blicke, Details einsetzen als Bausteine für den eigenen Stil, da man sich auf ihre Neu-Heit und ihre eingebaute Dynamik verlassen konnte. Dylan ratterte derweil Neusprachliches und Zitiertes; er packte so viel Worte in einen Song wie möglich, und wie bei Godard tauchten in diesem Meer Parolen, Sätze, „Wahrheiten“ auf, an die sich der eine oder andere klammern konnte, der nicht begriffen hatte, daß das Untergehen der wahre Genuss dieser Droge war. Durch Dylan und Godard wurde die geteilte Kultur in alle Himmelsrichtungen zerhauen und durchschnitten; Kunst, Liebe, Politik, Wissenschaft, Alltag und ihre jeweiligen Kulturen wurden zu Taubenfutter zermahlen und unter uns gestreut, die wir uns daraus pickten, was zum Überleben notwendig war.

Übrigens wage ich nicht zu beurteilen, ob die Belesenheit, das kulturelle Forscher-Bewusstsein Godards „echter“ ist als die so äußerlich scheinende Zitierwut Dylans. Jedenfalls brachten beide eine verwandte Art mehr oder weniger unduldsamer, verzweifelter Exegeten und Eingeweihter hervor, die sich in dem rührenden Versuch, die Scherbenwelt ihrer Meister zu ordnen, stets den eigenen Körper zerschneiden. Beider Welten bestehen zu weit mehr als dem biografisch-notwendigen Teil aus Zitaten, und zu ihrer Wucht gehörte die radikale Konfrontation des Trivialen mit der „hohen“ Kultur. Sie hatten beide in entscheidenden Momenten ihrer Arbeit damit zu kämpfen, daß das Triviale seine prinzipielle Überlegenheit beweist. So konnte es geschehen, dass aus Belmondo/Pierrot, der die „Pieds Nickelés“ nicht nur als Lektüre, sondern auch als aufklappbaren Schutzwall mit sich herumschleppt, der Student wurde, der sich zum „Asterix“-Lesen in der Öffentlichkeit einen Gangsterhut aufsetzt.

Godard und Dylan waren Künstler, die sich von der Hochkultur ausgestoßen oder – was auf dasselbe herauskommt – von ihr losgesagt fühlten. Das Stichwort dafür war vermutlich in beiden Fällen „Amerika“. Dahinter steckt natürlich auch ein politisches, ein soziales und ein religiöses Element – vom mythisch-familiären gar nicht zu sprechen. Sie waren – stellvertretend – Entflohene, einem ordentlichen Hintergrund entkommen durch die Kunst der Unordnung. Und beide schienen sich aus Rache für frühere Demütigungen des Nachts zurückzuschleichen, um sich aus dem Fundus der Mythen, der schönen Sätze und Bilder, der ewigen Romantik und der sicheren Klassik, zu bedienen und ihre Beute dorthin zu schleppen, wo sie nun zu Hause waren. Sie waren Kultur-Helden, weil sie – durch Schnitte! – die Werte verschoben zwischen der Hoch- und Klassenkultur und der Pop-, Trivial- und Alltagskultur, deren Widersprüchlichkeit daran zu hindern drohte, eine eigene Identität, einen kulturellen Stolz, einen romantischen Mantel für unsere Wünsche zu bekommen (und genau das war es, worum es in all dieser „Politik“ ging). Unverstandenes, Widersinniges und Zufälliges mußte dabei eine Rolle spielen, nicht zuletzt um die freiwillige Rückkehr in die Gefängnisse zu verhindern (die Kultur, die Familie, die Religion, die Fabrik etc.).

Diese kulturelle Auflösung, die zugleich ein neuer kultureller Mythos war/ist, wurde mit einem besonderen und besonders eklatanten Frauenbild erkauft, was auch heißen mag, die „Politik“ der siebziger Jahre wurde von „den“ Frauen bezahlt, nicht nur, was Fragen der Macht, sondern auch was solche der Semiotik anbelangt (soweit das voneinander zu trennen ist). Dylan sang über Frauen, als wären sie komische Tiere, die er zur Inspiration brauchte, um sie zur rechten Zeit mit Stiefeln zu traktieren oder verständnislos über sie zu grinsen. Da sie außerhalb seiner waren, gehörten sie zum Material. Während etwas später Mr. Allen (Woody) den Fehler erst einmal bei sich selbst suchte (ohne ihn zu finden), hatte ihn Mr. Zimmerman (Dylan) schon immer bei den Frauen gefunden, bevor er eigentlich recht darüber nachgedacht hatte, wo das Problem lag. Aber mehr noch waren seine Songs durchzogen von einer unauflösbaren Angst vor der Frau. Und diese Angst war, um einen Kreis zu schließen, ganz offensichtlich auch wieder politisch. Immer wieder tauchte die mehr oder minder breit ausgespielte Phantasie auf, dass eine Frau, die ihn lange genug verächtlich und „von oben herab“ behandelt hätte, nun endlich am Boden läge und ihr arrogantes, bürgerlich-intellektuelles Lächeln verlöre. Er kriegte dieses feinsinnige Wesen durch nichts als durch seine auf der Straße und im Leben erworbene Härte klein. In diesen Tieren, die das Unglück hatten, sich verlieben zu können, rächte er sich für einen sozialen Verlust.

Und wie selbstverständlich war da die andere Seite, die Sehnsucht:

„She aches just like a woman She fakes just like a woman She makes love just like a woman But she breaks just like a little girl“. Hinter dem Monster Frau zeichnete sich irgendwo die Verheißung Mädchen ab. Die Dylan-Frau musste gequält werden, um das Mädchen in sich preiszugeben.

Aber dann fiel unser Held vom Motorrad, was, wer wollte, auch als äußeren Abschluss einer Krise deuten konnte. Dylan muss gemerkt haben, daß diese Suche nach dem Mädchen in der Frau ihn früher oder später zum Mörder gemacht hätte. Nach seiner Genesung suchte sich Dylan den strengsten Vater-Gott und begann von ihm zu singen, sowie von Amerika und seiner Geschichte. Seine Gospels waren ähnlich auflösend und kreisend, so zänkisch und kränkelnd wie seine Lieder zuvor; mit diesem Gott konnte er so wenig in Frieden leben wie mit der Frau.

In seinen besten Zeiten, in denen seine Methode und nicht seine Probleme im Vordergrund standen, war Dylan ein fast perfekter Pop-Artist. Nicht die Musik und nicht die Sprache sind Medium, sondern der Zeitgeist, das Nach-, Neben- und Ineinander der Kulturen, die sich nicht mehr einen können. Jean-Luc Godard ist ebenfalls ein Pop-Artist, und, was den Zeitgeist anbelangt, sogar immer eine Spur schneller gewesen als Dylan, zumal er Ehrlichkeit als erstaunliche Größe in diese Methode einbrachte. Einmal hat er sich als einen „Filmemacher für Filmemacher“ bezeichnet (so wie man vom Musician’s Musician spricht), und auch daraus läßt sich vielleicht ableiten, daß Godards Botschaft an uns nicht so sehr in seinen Problemen (und schon gar nicht in seinen Theorien, die nichts anderes als Godard-Filme in Sprachform sind) als vielmehr in seiner Methode liegt.

Sein gesamtes Werk durchzieht ein permanenter Regen von Namen, Sentenzen, Bildern, Versen, Klängen, Erinnerungen und Reflexionen der vergangenen und unvergänglichen Kultur. Er benetzt die heutige, die triviale, die Kultur der Kriege und der sich hassenden Ehepaare. Anders als bei Dylan, diesem Poeten der Mimikry, ist durchgehend Trauer bei diesem Prozess der Auflösung da. In dieser kulturellen Polyphonie ist – so Godard – die Harmonie zwischen Körper und Geist verloren. Und noch einmal ist Godard klug genug, um diesem Verlust nicht platterdings den Namen „Kapitalismus“ anzuheften.

Was die Weiblichkeit betrifft, so hat Godard dafür bis heute kein schlüssigeres Bild gefunden als die Prostitution. In einem Werk, das immer wieder das Ende der Liebe in der Huren-Existenz umkreist, darf man gewiss im Bild der Prostitution ein wenig mehr sehen als die politische Metapher. Godard schwankt zwischen der sprach- und identitätslosen Hure, vor allem, wenn es um die Zukunft geht, wie in ALPHAVILLE oder ANTICIPATION, und der Hure, die wissen muß, daß sie Teil der politökonomischen Textur ist, auf der der Mann so gründlich versagt hat (wie Marina Vlady in 2 OU 3 CHOSES QUE JE SAIS D’ELLE erkennt – übrigens führt mehr als eine Spur von diesem Film zu JE VOUS SALUE, MARIE). Sie gehören zu einem gleichsam überfüllten Alltagsleben, in dem die Rettung nicht aus der Idee und nicht aus der Kultur, sondern aus der „einzelnen konkreten Geste“ (Godard), aus dem wirklichen, nicht bloß zeichenhaften Vorhandensein von etwas kommt. Prostitution ist, unter anderem, für Godard die strukturelle Verhinderung dieser konkreten Geste. Umgekehrt ist die Geste selbst, ende sie auch mit dem Tode, das einzige Mittel gegen die Prostitution. Maries unbefleckte Empfängnis ist nichts anderes als solch eine Geste, die hier nun nicht ein Körperteil, ein Sprachinstrument in gewohnter Form, sondern ein ganzer Körper ausführt, eine körperliche Ganzheit.

Godard, so scheint es, weiß nicht, was eine Frau ist, wenn nicht eine Prostituierte. So erfindet er die Alternative, die zugleich die Seele seiner „Politik“ ist: das Mädchen.

2. La Joven rivistad: Das schöne Gespenst des Untergangs

„Es wird in einem Godardfilm niemals ein Stück Geschichte geben, das für sich steht, ohne eine Assoziation, ohne ein Nachdenken im vorweg, im nachhinein, beiseite, verquer oder indessen“. Hartmut Bitomsky

Es ist die Ganzheit und das Geheimnis. Seit LE PETIT SOLDAT umkreisen Godards Filme dieses, das immer neue Mädchen. Aber von Anbeginn ist damit verbunden, daß das Objekt der Neugier – die Anna Karina, die durch die Kamera „durchdrungen“ werden soll – auch das Objekt der Zerstörung ist. Vielleicht gibt es einen roten Faden durch die kreisenden Filme des Jean-Luc Godard zu verfolgen (ein wenig verknotet womöglich): das Mädchen, die unmögliche Verbindung, genauer gesagt: eine unmögliche, aber endlich stabile Harmonie zwischen Körper und Geist, das heranzitiert und zugleich fortgeschickt wird, das der Film zugleich ersehnt und vor sich selber in Sicherheit bringen will. Erinnern wir uns für einen Augenblick daran, was das Auftauchen des Mädchens in anderen Zusammenhängen bedeutet. Es ist nicht nur Zeichen, sondern auch die konkrete Geste, womit eine Männer-Ordnung zum Einsturz gebracht wird. Der Puritaner fürchtet am ehesten, daß in diesem Wesen schon die Frau steckt, die aber anders als die „fertige“ Frau nicht ausgegrenzt, nicht zivilisiert werden kann. In „Lolita“ allerdings ist die Ordnung selber aufgehoben.

Daß das Mädchen also in den Bildern jener auftaucht, die diesen Untergang gewisser Ordnungen erhoffen, ja durch die Methode ihrer Kunst möglicherweise ihn zu beschleunigen trachten (wenigstens den Zweifel nicht ausgeschlossen sein lassen wollen), scheint nichts als die „richtige“ Umkehrung: das Mädchen als Zeuge und Ziel der „Revolution“. Aber da das Mädchen nicht wissen kann, was es will, mag es soviel offene Zukunft oder die reine Poesie sein wie durch seine Unverständlichkeit Ausgangspunkt der Restauration. Übrigens ist das Mädchen keineswegs davor sicher, Prostituierte zu sein. Wie Nana in VIVRE SA VIE befreit sie sich jedoch, indem sie im richtigen Augenblick die persönliche Geste wiederfindet. Hat sie nicht in LA PASSION DE JEANNE D’ARC geweint, weil sie ihr eigenes Schicksal gesehen hat? Auch die CARABINIERS erschießen ein Mädchen. In BANDE Á PART sagt sie, das Leben ekele sie an. Nein, sie muss das Opfer sein. Für einen Mann endet die Frage, ob das Mädchen/die heilige Jungfrau verbrannt wird, weil sie so unwissend ist, oder im Gegenteil, weil sie zuviel weiß, in einer Sprachkatastrophe: Das Mädchen ist der Beweis dafür, dass Sprache nicht taugt. Und das umsomehr, als es stets und in erster Linie Opfer der Sprache ist.

Wir kennen von Godard die Szene, wo das Mädchen auf den Philosophen trifft. Im Cafe. Er scheint für sie den Widerspruch zwischen Worten und Empfindungen auflösen zu können. Vielleicht weil er so sehr Wort ist wie sie Empfindung. Jedenfalls ist der Philosoph kein Mann, dem Anna Karina entgegenhalten müsste: „Du hast nur Worte für mich, aber ich sehe dich mit Empfindungen an“. Nur da ist der kurze Frieden; ansonsten hat sich das Mädchen zwischen dem Opfer und der Prostitution zu entscheiden, während sich der junge Mann, immer ein kleiner Soldat, immer Pierrot le Fou, unaufhaltsam auf seinen Tod zu bewegt. Das Mädchen war zugleich die Revolte und ihre Unmöglichkeit. Aber was war dieses Godard-Mädchen eigentlich bei näherem Hinsehen? Es bestand vor allem aus Stil. Und wenn es stimmt, dass Stil eine Politik der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker ist, dann war Godards Stil-Mädchen eben nur zum einen Teil ein Baustein aus seiner Privatmythologie. Dieser Stil war zum anderen aber auch eine Methode (wie alle Methoden eine zum Überleben); eine Methode, mit der Macht der Gewohnheiten ebenso fertig zu werden wie mit der der Revolutionäre, die sich ihre neuen Gewohnheitsmächte erlangten. Fast unnütz ist noch zu sagen, daß es das Godard-Mädchen, in Form von Stil und Methode, in den siebziger Jahren wirklich gab.

3. Familienleben und Philosophie, oder Onkel Godard traut sich zu lächeln.

Zum ersten Mal, glaube ich, widerfährt es dann Chantal Goya in MASCULIN-FEMININ, dass sie sich mit der Möglichkeit, ein Kind zu gebären, konfrontiert sieht. Ihre Antwort: „J’hésite“. Dies Zögern soll wiederkehren, in einem Monolog über Verhütungsmittel ebenso wie in den gespenstischen Banlieue-Familien. Marina Vladys Prostitution ist selber ein Zögern gegenüber ihrem Kind und dem Mann „ohne Ehrgeiz“ (eine Eigenschaft, die nach unserem Verständnis auch auf Joseph zutreffen würde). Die Mutter kompliziert die Verhältnisse, und Godard wird in der folgenden Zeit mit neuen Verbindungen experimentieren: Prostituierte/Mädchen – Mutter/Prostituierte – und schließlich Mädchen/Mutter.

Je mehr sich Godard von seiner Romantik entfernt, desto mehr verliert er das Mädchen aus dem Zentrum seiner Mythologie und attackiert die schreckliche Frau. Sie steht am Anfang der Zeitreise inWEEK-END , wo seine Romantik schwarz und schrecklich wird. In AMORE gar ist die Frau die bürgerliche Demokratie und der Mann die Revolution. Und in ONE PLUS ONE spaltet sich Anne Wiazemsky in das Mädchen und in Eve Democracy.

Es ist nun Zeit für Godards Krise. Natürlich waren da politische und filmpolitische Ereignisse maßgebend. Und Godard hat wirklich sehr radikal versucht, einige der Bedingungen und Gewohnheiten des Filmemachens zu verändern. Er hat dazu auf nicht wenige Autoren-Eitelkeiten verzichtet, wozu nur wenige seiner Kollegen und Freunde bereit waren. Aber es war auch noch etwas anderes geschehen. Die blaue Revolution, die Revolte Pierrot le Fous, war nichts mehr wert; die Dritte Welt, insofern sie sich in konkreten Gebärden äußerte, machte aus der Politik blutigen Ernst, und Godard und seine Mitarbeiter versuchten diesem Ernst gerecht zu werden, als sie einen Nullpunkt anstrebten. Für Godard war in der Folgezeit die romantische Hoffnungslosigkeit verboten, deren Begleiter das Mädchen war. Der Tod konnte keine Lösung mehr sein, und die Prostitution war zur leeren Metapher geworden, da die zeichenhafte, die allgemeine Gebärde die individuelle Gebärde in sehr viel größerem Umfang abgelöst hatte.

Daß im großen Drama der Modelle und Mythen die konkrete Gebärde noch immer möglicher ist als in der Mikrophysik der Macht macht die nächste Exkursion Godards aus, durch die „sexuelle Ökonomie bei den Bewohnern des unteren Grenoble“ – so ein Alternativ-Titel für NUMÉRO DEUX. Dort ist, noch einmal, Sex ein Überlebensmittel der Frau. Aber Godards Weg von Paris über die Dritte Welt in die eigene Heimat hat nicht nur die genaue Analyse der Zusammenhänge von Sexualität und Arbeit und ein nicht ganz so genaues Ekel-Gefühl hervorgebracht. Godard hat in gewisser Weise – noch voll fasziniertem Fragen – mit der Sexualität als Hoffnung abgeschlossen. Aber zugleich, wo die Einsamkeit beschlossene Sache scheint, ist in den Kindern auch die Unmöglichkeit zur Einsamkeit erstanden. So lässt sich, für den Augenblick, nur das Bedrückt-Sein voneinander dokumentarisch (und zugleich aufgelöst) festhalten.

NUMERO DEUX hätte ein letzter Film sein können, die „perfekte“ Darstellung von Einsamkeit in den nicht-besitzenden Klassen. Noch ist da nichts von Heimkehr: „Ich betrachte mich als einen Exilierten. Die Exilierten sind weniger entmutigte Leute als andere. Der Film, den ich gemacht habe, ist der Film eines Exilierten“. In der Tat ist die Unerschrockenheit seiner nächsten Filme zu bewundern. Paul Godard (Jacques Dutronc), der Regisseur aus SAUVE QUI PEUT (LA VIE), kann keine Beziehung zu Frauen mehr haben, auch nicht zu seiner geschiedenen Frau, auch nicht zu seiner Tochter. PASSION ist, während die Frauen immer schöner und zugleich immer ferner, unwirklicher werden, schon die Leidenschaft zum Tode im Bild (und es ist natürlich wieder ein Film über das Filmemachen). In PRENOM CARMEN hat Godard sich einfach selbst an den Platz von Godard gesetzt, und er wird, durch Verlust und Trauer hindurch, eine neue Überlebensmöglichkeit finden. Jean-Luc Godard wird sich zum Onkel seines Geschöpfes, des Mädchens, machen. Und schon da darf er auf ihren Körper so schauen wie auf ihren Mythos, darf diesen Körper sogar, da er als Onkel den Gefährdungen entzogen ist, aussetzen, und er hat noch die Musik, die stark und strafend einsetzt, wenn er auf die falschen Gedanken kommen mag. In PASSION gibt es Hanna Schygulla, die sich für den Film nicht ausziehen will. Dem Mädchen gegenüber ist die Haltung sicher ungefährlich, aber Hanna Schygulla ist eine Frau. Sie kann keinen Onkel haben und nicht Film werden.

Da nun die Möglichkeiten ausgeschöpft sind, auch den Körper des Mädchens zu zeigen, ohne ihn disponibel zu machen, und der Filmemacher (ich sollte noch erwähnen, dass Godard ein Liebhaber von Lewis Carroll ist) sich als logischer Onkel in Sicherheit gebracht hat, auch nicht mehr verstehen, nur noch glauben muß, ist der Boden bereitet für die Wiederkehr und die endliche Himmelfahrt des Mädchens. PRENOM CARMEN verbirgt in sich schon JE VOUS SALUE, MARIE. Das Hohe und das Triviale treffen sich nun auf dem Körper des Mädchens, polarisiert vielleicht in den Worten „Unschuld“ und „Arsch“. Ganz anders als in einem Italowestern von Sergio Corbucci die Grundzüge der Revolution auf einem Frauenkörper als Projektionsfläche erklärt werden, beweist das Mädchen, indem es seinen Körper zeigt, dass ihre Unschuld nichts mit der Verleugnung ihres Körpers zutun hat. Bevor der Filmemacher missmutig und verständnislos wird, gilt es die Wurzeln wiederzufinden.

Godard sprach, anläßlich PRENOM CARMEN, davon, in seinem nächsten Film bleibe ihm, das „reine Mädchen“ zu beschreiben. Zu einem Teil ist das gewiss eine Wiederbegegnung; einer der Kreise, in denen Godard denkt und lebt, hat sich am Genfer See, den man in JE VOUS SALUE, MARIE zu riechen meint, geschlossen. Zum anderen aber ist dieser Entwurf, den Godards Film selbst, wie ich glaube, in seinem Fortschreiten wieder verwirft, ein notwendiger Punkt für Weiterungen im kreisenden Denken um Filmen und Frauen. Godard befindet sich, vielleicht, in der Situation, die Jean-François Lyotard beschreibt: „Hier spricht ein Philosoph über die Frage des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen. Er bemüht sich zu vermeiden, was gerade an der Art und Weise, diese Frage zu stellen, männlich ist. Und trotzdem: seine Ausflucht und seine listige Vorsicht bleiben wahrscheinlich männlich. Er weiß, man müßte aufhören zu philosophieren, damit die vermeintliche Frage nach dem Gegensatz männlich/weiblich, und ohne Zweifel dieser Gegensatz selbst, verschwände; denn dieser existiert als Gegensatz nur aufgrund der philosophischen (und politischen) Methode, d.h. infolge des männlichen Denkens.

Angesichts dieser Aporien ist man versucht, die Feder dem zu reichen, was einem fragenden erwachsenen Mann am weitesten entgegengesetzt ist – einem kleinen Mädchen. Aber man wendet ein, daß kleine Mädchen nicht schreiben, daß sie wie die Wilden seien. Und dann sind sie, wie die Wilden auch, zweifellos nur eine Schöpfung ihres vermeintlichen Gegenteils, der ernsten Männlichkeit, die im Grunde auch ihr Richter ist: eine Schöpfung der Eifersucht, die der Mann gegenüber dem empfindet, was er nicht sein darf“.

Für Godard muß Maries Versuch, mit ihrem Körper Philosophie zu treiben, scheitern, da sie die Feder nicht nehmen, nicht schreiben (oder filmen) kann, ohne aufzuhören zu sein, wer sie ist. Die Revolte ihres Körpers und ihre Definition der Liebe bewahren sie nicht vor dem Schicksal der Frau, die sich dem Mann im Alltag angleicht, bis sie gleich ihm versinkt in einer Ordnung, die aus Ängstlichkeiten zusammengesetzt ist. Wir könnten uns angewöhnen, JE VOUS SALUE, MARIE als einen Film über Joseph zu lesen und über die Unausweichlichkeit seines Sieges. Schließlich gelingt Marie, trotz ihres Aufstandes gegen die Ordnung, doch nur wieder, einen Mann zu gebären.

Durch Godard konnte das Mädchen Marie nicht seine eigene Geschichte schreiben. Aber LE LIVRE DE MARIE existiert dennoch. Godard – dürfen wir ihn nun den Fantômas der Film-Ästhetik nennen? – ist wie immer und noch einmal entkommen.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 6/85