Wie das Fernsehen uns die sieben Todsünden ins Haus bringt.
Eine kleine Hasspredigt

Das christliche Abendland – erinnern Sie sich noch daran? – kannte den Begriff der „sieben Todsünden“. Man hörte in den Bußpredigten davon und konnte sie, zum Beispiel, auf den Bildern von Hieronymus Bosch betrachten. Theologisch ist das allerdings nicht ganz korrekt. Die sieben Todsünden sind eigentlich die „sieben hauptsächlichen Laster“ oder auch „Sündenwurzeln“. Das heißt, es sind Charaktereigenschaften oder Impulse, die für sündige Taten anfällig machen und daher eigentlich das, was eher zum normalen und alltäglichen Leben gehört. Eben all das, was man bei anderen Menschen verabscheut und bei sich selber nie entdecken würde: Eitelkeit, Habgier, Neid, Hass, Wollust, Gefräßigkeit, Trägheit.

Dennoch war es Jahrhunderte lang für einen Insassen des christlichen Abendlandes ein durchaus erstrebenswertes geistiges Ziel, sich von diesen Lastern zu befreien oder sie sich tunlichst gar nicht erst anzugewöhnen. Um nämlich das Gegenteil zu erreichen, die sieben „Kardinaltugenden“, – anders gesagt; geistige und moralische Reife. Der olle Bert Brecht schrieb dann, zu Beginn der finstersten Jahre, zur Musik von Kurt Weill „Die Sieben Todsünden der Kleinbürger“ und zeigte ziemlich anschaulich, dass eben diese Todsünden nichts anderes als die Motoren der bürgerlichen Gesellschaft sind. „Antikapitalistische Propaganda“ schrien die Kritiker damals auf, und sie würden es vermutlich heute noch schreien, wenn irgend jemand auf die Idee käme, das Ballett/Oper/Singspiel-Stück aufzuführen. Stattdessen haben wir Fernsehen. Sehr viel Fernsehen.

Das Fernsehen ist eine Maschine zur Erzeugung und Verstärkung der sieben Todsünden des Kleinbürgers. Es verabreicht sie in kleinen Happen, mit diesem augenzwinkernden „Du darfst!“. Es baut ein gewaltiges Programmgebäude darum herum, es tut so, als würde es sich beständig etwas Neues einfallen lassen und wird doch nur ungenierter in dem, was es im Inneren zu bieten hat: Nämlich den Genuss der sieben Todsünden. Und das äußert sich vor allem darin, dass es für jeden sündigen Impuls die richtige Sendung – und dann in der Werbung auch die richtige Ware gibt.

Eitelkeit? Bitteschön: Im Fernsehen wirst du Star für einen Tag. Habgier? Wenn du dich zum Affen machen kannst, gibt es viele schöne Preise, Geld, Autos, Häuser. Wer nichts gewinnt, hat morgen wieder eine Chance. Neid? Nirgendwo kann man Leute so wundervoll in die Pfanne hauen wie im Fernsehen. Hass? Zählen Sie die Anzahl der Gewalttaten an einem gewöhnlichen Programmtag. Wollust? Bitte sehr, vom Erotikfilm am Abend bis zum Dirndl-Ausschnitt der jodelnden Erfolgsmusikanten haben wir alles im Programm. Gefräßigkeit? Unsere Fernsehköche verderben keinen Programmbrei. Trägheit? Ihr Lieblingssender nimmt Ihnen nicht nur das Denken, sondern auch das Sehen ab. Wenn das Fernsehen mich ansehen könnte, dann würde es einen zusammengekauerten einsamen Menschen sehen, der sich seine Todsünden vorbuchstabiert, halb wie in einem Beichtstuhl, halb wie in einer Peepshow-Kabine.

Ursprünglich hatte man in der BRD wie in der DDR ein etwas behäbiges aber durchaus menschenfreundliches „Bildungsfernsehen“. Nicht dass es keine „Unterhaltung“ gegeben hätte. Aber man machte sich doch stets Gedanken darum, es damit nicht zu übertreiben. Das Geschmackloseste am westdeutschen Fernsehen in seiner Frühzeit war das Jackett von Peter Frankenfeld, und im „Kessel Buntes“ auf der anderen Seite lag gewiss keine Schweinerei. Aber dann, so will es die Medienlegende des mittlerweile mehr oder weniger vereinigten Deutschland, kamen die Privatfernsehsender. Laut dem einstigen RTL-Chef Helmut Thoma half das Privatfernsehen der Wiedervereinigung und die Wiedervereinigung dem Privatfernsehen. Von da an ging’s bergab; da kann man nichts machen, das ist das Gesetz des Marktes: Der Kunde ist König, und der Kunde, nicht wahr, hat vor allem seine todsünderischen Impulse im Kopf. Und deswegen gibt’s Volksmusikhumterä, Schmuddeltalkshows, Tutti Frutti und Serienkiller auf mindestens einem Dutzend Kanäle, deswegen werden anspruchsvollere Sendungen in die späten Nachtstunden verschoben und politische Kritik programmbereinigt. Die öffentlich rechtlichen Sender, für die wir unsere Gebühren bezahlen, tun so, als wären sie vollständig unschuldig. Erst kürzlich konnte man etwa im NDR eine medienkritische Sendung namens „Zapp“ sehen, in der anschaulich gezeigt wurde, wie entsetzlich das „Privatfernsehen“ ist. Ein Zapp-Salat von Obszönem, Banalem und Geschmacklosem. Vorsorglich vergaß man dabei zu überlegen, was sich denn in den letzten Jahren auch in den öffentlich rechtlichen Sendern getan hat an „Quotengeilheit“ und Niveaulosigkeit. Je mehr Sender wir bekamen, desto weniger Wahl hat das Publikum. Denn alle wollen immer nur das eine: die „große Mehrheit“ in der Mitte. Eine Mehrheit von Menschen, die nicht ausschalten können. Auch wenn sie mit dem Programm todunglücklich sind. Schlimmer noch: Um die Perlen im Programm zu finden, und es gibt sie ja immer noch, die Kultserien und Spötter, die Kritiker und Selbstkritiker im Programmbrei, muss man einer Menge Schweinen begegnen.

Die mediale Maschine zur Verstärkung der sieben Todsünden ist für sich genommen weder etwas besonders böses noch etwas besonders gutes. Sie verurteilt ihr Publikum allerdings dazu, sich selber nicht mehr ganz geheuer zu sein. Das Kreativste am deutschen Fernsehen sind die Ausreden, die man sich dafür einfallen lassen muss: Ach, nur weil alle davon reden… so beim Bügeln nebenbei…zufällig beim Zappen… Es gibt nur wenige Fernsehsendungen, über die man so offen und so begeistert reden kann, wie man über einen Film im Kino oder auf DVD reden kann. Nicht, dass es da nicht auch „guilty pleasures“ gäbe. Aber in der Todsünden-Maschine Fernsehen wechseln sich dauernd Sensation, Langeweile und schlechtes Gewissen ab. In einer kleinen Studie hat George Gerbner schon im Jahr 1978 nachgewiesen, dass Viel-Fernseher nicht etwa besonders aggressiv oder besonders kaufmotiviert werden, sondern vor allem besonders ängstlich. Im Zweifelsfall zu ängstlich, um noch das Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Die erste Todsünde wird die Superbia genannt; man versteht darunter die Eitelkeit, den Stolz und den Hochmut.

Dass das Fernsehen ein Medium zur eitlen Selbstdarstellung von Promis und Normalos ist, ist hinreichend bekannt und geht uns in der Regel entsprechend auf die Nerven. Die Frage, die das Medium an seine Opfer stellt, ist freilich die: Wie weit wirst du gehen, um deine Eitelkeit und deinen Stolz zu befriedigen? Nehmen wir die Auftritte unserer Politiker in den Unterhaltungssendungen, so bleibt, sagen wir, wenn Kurt Beck bei Dieter Thomas Heck auftritt, nur eine Antwort: Mehr oder weniger alles werden sie tun, um von der Eitelkeitsmaschine zu profitieren, so wie die einen sich in einem Container einsperren lassen und die anderen in den Dschungel gehen. Darum funktionieren die Casting Shows so prächtig: Jemand versucht mit allen Mitteln, seine Eitelkeit ins Bild zu setzen; der Preis freilich ist, dass die Wahrscheinlichkeit eher für das Gegenteil spricht, nämlich dafür, dass man sich gehörig blamiert.
Das Fernsehen hat sich mittlerweile so wichtig gemacht, dass niemand mehr Öffentlichkeit herstellen oder empfinden kann ohne eine Fernsehkamera. Fernsehen bedient also nicht nur die vorhandene Eitelkeit. Vielmehr muss jemand, der Eitelkeit empfindet, unbedingt ins Fernsehen. Man könnte andersherum auch sagen: Jemand, der nicht eitel ist, kann bei uns auch kein Politiker mehr werden. Das beißt sich übrigens keineswegs mit den schlecht sitzenden Kostümen unserer Kanzlerin. Eleganz ist es nicht, was unser Fernsehen vermittelt.

Die zweite Todsünde wird die Avaritia genannt; man versteht darunter Habgier und Geiz.

Spiele, bei denen es etwas zu gewinnen gibt, gab es immer, das ist keine Erfindung des Fernsehens. Die Frage ist, was man als Belohnung aussetzt und was man als Wettbewerb verlangt. Es gibt da wohl so etwas wie ein eingebautes Gesetz der Habgier-Steigerung: Die Frage „Wer wird Millionär?“ und die Inszenierung ihrer Beantwortung hat nichts mehr mit dem fröhlichen Klingeln eines 5-DM-Stückes in einem „Schweinderl“ bei „Was bin ich?“ zu tun. Das Fernsehen imitiert und verschärft die soziale Konkurrenz.
Der Trick der neueren Sendungen ist es, Habgier und Geiz unter den Mitspielern und -spielerinnen so stark anzustacheln, dass sie nicht mehr kontrolliert werden können. Aus dem spielerischen Umgang wird erbarmungsloser Ernst. Im Fall von Verlust und Gewinn fährt die Kamera dann so nah an die Protagonisten, dass man die blanke Gier ebenso wie den furchtbaren Zorn beim Verlieren sieht.
Die Frage, die das Medium an seine Opfer stellt, ist die: Wie weit wirst du gehen, um deine Habgier und deinen Geiz zu befriedigen? Und jede neue Show-Konzeption führt uns näher an die Antwort: Mehr oder weniger alles wird getan, wenn die Welt am Leitfaden der Gier erklärt wird. Dabei vermittelt die normale Rate- und Spieleshow noch die Illusion, jeder könne hier sein Glück machen. In Wahrheit sind die Teilnehmer aber „gecastet“; es sind Darsteller ihrer selbst. Die Maschine hat sie schon im Griff, bevor sie ihre Gier vor dem Abfragen nutzlosen Wissens oder verschärften Kindergeburtstagsspielen offenbaren.

Die dritte Todsünde wird Invidia genannt; man versteht darunter Neid, Missgunst und Eifersucht.

Die meisten Spiele, vor allem aber auch die meisten Talk Shows sind hauptsächlich auf die Erzeugung und Kontrolle von Neid und Eifersucht hin konstruiert. Wenn es in einer Game Show darauf ankommt, die anderen abzuhängen, dann in einer Talk Show darum, die anderen bloßzustellen. Verzeihen kann man dann immer noch. Das Nachmittagsprogramm eines deutschen Fernsehsenders besteht in etwas, das man eine mediale Form von Klatsch, übler Nachrede, Einmischung in anderer Leute Intimsphäre und Denunziation nennen könnte. Man zwingt andere Leute, seien sie erfunden oder echt (der Unterschied ist immer schwerer festzustellen), ihre „schmutzige Wäsche“ vor unseren Augen zu waschen. Und das Menschenbild dieses Programmsegments ähnelt einer Freakshow.

Die vierte Todsünde wird Ira genannt; man versteht darunter Zorn, Rachsucht und Vergeltung.

Natürlich ist die Erzeugung von Zorn und die Befriedigung von Rachsucht der Stoff, aus dem die Endlos-Krimis und soap operas sind. Aber seit den Zeiten der behäbig freundlichen Shows eines Hans-Joachim Kulenkampff oder Wim Thoelke sind auch in den Game Shows und Quizsendungen nicht nur die erhofften Belohnungen, sondern auch die Aggressionen der Teilnehmer gestiegen. Der Zorn wird im Fernsehen in der Regel in Sadismus verwandelt; wir schauen, seit dem „Spiel ohne Grenzen“ gerne Menschen zu, die sich körperlich quälen und die ihre Würde verlieren. Wir sehen aber auch allen möglichen Formen der Aufstiegskämpfe und der sozialen Konkurrenz zu. Sagen wir in „Hausfieber“, wo zwei junge Paare um den Besitz eines Eigenheims und damit um eine mehr oder weniger gesicherte bürgerliche Existenz antreten. Eine Aufgabe, zum Beispiel, besteht darin, eine knifflige Rechenaufgabe zu lösen, während man den Kandidaten mit unerträglichem Lärm malträtiert. Was Menschen Menschen antun können, das wird in unserem Fernsehen durchgespielt, wenn auch stets in einer juristisch und medizinisch kontrollierten Weise.
Besonders neu ist das nicht. In der „100.000 Mark Show“, die uns vor einem Jahrzehnt den Feierabend versüßte, wurden junge Frauen buchstäblich ans Kreuz gebunden und mit Messern beworfen und damals, immerhin, regte sich noch Widerstand gegen „den neuen Sozialdarwinismus“ und die „Brutalisierung der Spiele“ (so hieß es im „Spiegel“). Die Überlebensshow als wahrhaftes Bild einer brutalisierten Gesellschaft hat sich seitdem nur um ein paar Umdrehungen gespannt. Man gewöhnt sich dabei an die gegenseitige Rücksichtslosigkeit in der Situation eines ökonomischen Bürgerkriegs.
Die leere Sensationsgier zeigt sich in Serien wie „Ihr seid wohl wahnsinnig“ (RTL, 2000), als „die gefährlichste Show der Welt“ angepriesen. Ungeübte Mitmenschen werden dabei dazu animiert, gefährliche Stunts auszuführen. Vor mehreren laufenden Kameras muss die Mutter zweier Kinder etwa einen Jeep über zwei Platten über eine 35 Meter tiefe Schlucht steuern, und wir sehen in Nahaufnahme ihr Entsetzen, als das Gefährt in den Abgrund donnert (sie selber ist dann doch gesichert). Man karrt Prominente in den Urwald und lässt sie dort mit Insekten und Schlangen allein; man setzt Menschen auf einer einsamen Insel aus usw. Ein Höhepunkt der Perfidie erreicht das amerikanische Fernsehen derzeit mit einer solchen Sendung, in der verschiedene Gruppen nach „rassischer“ Zugehörigkeit gegeneinander antreten: Afroamerikaner gegen Asiaamerikaner gegen Latinoamerikaner gegen Euroamerikaner (und wir warten auf das deutsche Pendant: Türkischdeutsche gegen Russischdeutsche gegen Deutschdeutsche…). Das Fernsehen hat sich in der Vergangenheit einen Ruf als „Konsensmaschine“ erworben, und das ist natürlich nicht ganz falsch, schließlich haben wir durch unseren Apparat mehr oder weniger alle die selben Bilder im Kopf. Und eine Serie wie „24“ kann man als ein ziemlich ungeschminktes Bild der Gesellschaft im „Krieg gegen den Terror“ sehen, man kann die „Echtzeitserie“ aber auch als Gewöhnung an Folter, Mord und Abschied vom Rechtsstaat sehen. Nicht zufällig im Jahr 1999 bekam auch das deutsche Fernsehen mit „Jets“ seine turbogeile Wehrertüchtigungsserie. Die Konsensmaschine verwandelt sich nach Bedarf sehr rasch auch in eine Konflikt- und Hassmaschine.

Die fünfte „Todsünde“ wird Luxuria genannt; man versteht darunter Wollust und Unkeuschheit.

Noch die netteste Form, in der uns diese „Todsünde“ serviert wird, ist das Spiel von „Tutti Frutti“, „Schloss Pompon Rouge“ oder Lederhosen-Filmen; man muss da, um den Anblick von ein paar nackten Brüsten zu ergattern, sich freiwillig auf das Niveau eines Jungen beim Einsetzen der Pubertät zurückbegeben. Längst aber sind die Grenzen zwischen solchem „Schmuddelfernsehen“ und dem normalen Programm fließend geworden. Längst geht es nicht mehr um das bescheidene Glück der Augenlust, sondern vielmehr darum, der sogenannten Intimsphäre den Garaus zu machen.
Merkwürdigerweise wird ja, wenn von „Fernsehen und Moral“ die Rede ist, eher selten davon gesprochen, wie sich Sender und Prominente kaufen lassen, unsere Moral besteht vielmehr darin, dass Filme mit sexuell freizügigen Bildern in Deutschland erst ab 23 Uhr gesendet werden, in Großbritannien und Holland aber schon ab 21 Uhr, während es in Dänemark überhaupt keine Zeit-Beschränkung für Sex-Programme gibt. Da seht Ihr mal. Dass das Wort „blasen“ in einer Folge von „Sex And The City“ geschnitten wird, gehört zu den Reaktionen auf Angriffe unserer Saubermänner und –frauen, und ändert prinzipiell nichts daran, dass jede Serie, in deren Titel das Wort „Sex“ vorkommt, satte zehn Prozent mehr Zuschauer anlockt als ein vergleichbares Angebot.
Aber neben den sexuellen „Tunnelblick“ ist ja längst ein umfassenderes wollüstiges Sehen getreten. Fernsehen, das heißt, anderen Menschen beim Essen, beim Streiten, beim Leiden, beim Sterben und eben auch beim Ficken zusehen. Entweder in einem Container bei „Big Brother“ oder beim „Dschungelcamp“, beim Sex in der Stadt und bei den verzweifelten Hausfrauen.
Eine besonders ekelhafte Abart des Trash-Fernsehens sind die nachmittäglichen sogenannten Talk Shows, bei der sich irgendwelche gecasteten Menschen wegen Seitensprüngen, unaufgeräumter Küchen, abartiger Sexualphantasien oder Beziehungszoff vor einer Moderatorin oder einem Moderator anbrüllen, die wahlweise sadistisches Vergnügen oder heuchlerische Anteilnahme spielen. Nicht viel besser sind die Gerichtsshows, in denen der Alltagszoff, all das, was so schief gehen kann im Straßenverkehr, im menschlichen und nachbarschaftlichen Miteinander verhandelt wird. Die Wollust verbirgt sich hier schon wieder in der Empörung. Unser Big Brother ist eine Kamera in der Wohnung des Nachbarn.

Die sechste Todsünde wird Gula genannt; man versteht darunter Gefräßigkeit, Völlerei und Unmäßigkeit des leiblichen Genusses.

Was das anbelangt, versorgt uns unser Fernsehen, während draußen die wechselseitige Avaritia zum Verzehr von Gammelfleisch mit Geschmacksverstärkern lockt, mit Koch-Shows, perfekten Dinners und „Schmeckt nicht, gibt’s nicht“, als wäre die Küche der letzte kulturelle Rückzugsort. Freilich ist auch hier die Erzeugung von geschmacklich vermutlich halbwegs genießbarer Nahrung mit einer rabiaten Zunahme an visueller und rhetorischer Geschmacklosigkeit verbunden. Auch hier haben sich die Formen erheblich verändert seit den Zeiten von Clemens Wilmenrodt und seiner „Bruderschaft Marmitte“, die uns den Hawai-Toast bescherten. Ein Koch-Show-Mensch ist jemand, der mit Töpfen und Pfannen hantiert, während er alles daran setzt, sich zum Affen zu machen oder Kollegen zu hänseln.
Den Rest, natürlich, besorgt die Werbung. Das Auge isst mit, hieß es früher, heute gibt es kaum noch ein Essen ohne Fernsehen. Entweder muss man beim Essen fernsehen (die Werbung weiß genau, was man dazu für eine Zwischendurch-Nahrung für den gewaltigen kleinen Hunger braucht), oder das Fernsehen muss einem beim Essen zuschauen.

Die siebte Todsünde wird Acedia genannt; man versteht darunter die Trägheit sowohl des Herzens wie des Geistes, aber auch den Überdruss der Ignoranz.

Das, natürlich, ist die TV-Todsünde, die alle anderen noch einmal zusammenfasst. Wer emotional nur noch auf die Tränendrückerei der soap operas reagiert (und dazu auch noch Schokoladentröster braucht) wird zum eigenen Gefühl so wenig noch in der Lage sein wie jemand, der sich mit „Brisant“ oder ähnlichem medialen Brei das Gehirn auflöst; als kritischer Zeitgenosse kann dieser der Welt wohl nicht mehr gegenüber stehen.

Natürlich gibt es im deutschen Fernsehen auch noch anderes als die Erzeugung und Bedienung der sieben Todsünden. Denken wir an Schleichwerbung, an mehr oder weniger versteckten Wahlkampf, an schlechte Musik oder die Letztvermarktung von „Künstlern“, die sich schon selbst kaum mehr ertragen. Und es gibt eine Form des „reaktiven Journalismus“, der zu allem in der Welt einerseits Bilder erbeutet und andrerseits „Experten“ ins Studio holt, aber keine Zusammenhänge mehr sehen und keine Kritik mehr üben will. Und am Wochenende redet eine Schwätzerrunde Frau Christiansen nach dem Parteibuch und zum Wohl ihrer Produktionsfirma.

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist mittlerweile nicht nur kommerzialisiert sondern auch weitgehend privatisiert, „ausgelagert“ nicht nur an Erzählmaschinen wie die Degeto, sondern auch an die Stars selber, die ihre eigenen Medien-Imperien errichten. „An den Schaltstellen in den Rundfunkräten sitzen“, so der Medienwissenschaftler Horst Röper, „stets die Parteistrategen“. Die Fernsehmaschine verstärkt also nicht nur unsere sieben Todsünden, sie produziert selber ihre eigenen sieben Todsünden: Quotengier, politische Einflussnahme, interne Zensur, Abhängigkeit von Werbekunden, Verflechtung mit Lobby-Gruppen, Unbeweglichkeit. Die größte Todsünde des Fernsehens freilich ist in all seiner Sensationsgier und Vulgarität das Prinzip der Wiederholung. Die Maschine zur Verstärkung der Todsünden ist zugleich eine Recycling-Maschine. Obszönität, Gewalt, Vulgarität, Geschmacklosigkeit, all das Schrille und Sensationelle verbirgt ja nicht, dass es sich um eine Wiederkehr des Immergleichen handelt. Und ganz nebenbei, wer da kommerziell seinen Fuß in der Tür hat, der nimmt ihn so schnell nicht wieder raus.

Nur eines ist, was das Fernsehen anbelangt, sicher: Es kann immer noch schlimmer kommen.

Zur gleichen Zeit, zu der man bedenkenlos Aggression und Zwietracht sät, versorgt man sein Publikum auch mit hoffnungslosem Harmonie-Kitsch: Utta Danella, Rosamunde Pilcher und dergleichen in endlosen Serien, die Volksmusik bläst und singt wie nichts gutes, und das Fernsehen schickt auf „Traumreisen“ und zu „Traumhochzeiten“. Das Fernsehen inszeniert sich selbst als großen Wohltäter: Es erfüllt Wünsche („Lass dich überraschen“), es richtet die Traumhochzeit aus, es verkuppelte Paare in „Geld oder Liebe“. Tückischerweise spielt man im Fernsehen aber auch gerne einmal die Brutalität des Systems durch, etwa wenn man in einer Rateshow unbarmherzig Mitglieder seines eigenen Teams hinauswerfen muss. Wie wäre es übrigens mit einer fröhlichen Mobbing Show? Oder einem Entlassungsspiel: Je mehr Leute man entlassen kann, desto stärker steigen die eigenen Aktien.

Die geschmacklose Heftigkeit der „Jackass“-Spiele wurde im deutschen Fernsehen in den neunziger Jahren gern immer in Affektshows mit hoher emotionaler Bindung versteckt. In der „Glücksspirale“ zum Beispiel mussten Menschen ihre ganz speziellen Angst- und Ekelgefühle vor den Kameras überwinden, und sich mit Blutegeln, Spinnen oder Orang Utans zusammensperren lassen. Das Dschungelcamp war nur die logische Konsequenz solcher Spiele. Unser Fernsehen macht uns fit für soziale Kälte: Ein Löffel Kitsch und ein Löffel Brutalität.

Dabei gibt es zwei Strategien. Die eine versucht die geschmacklose Grenzüberschreitung möglichst sensationell zu vermarkten. Wenn sich dann die „Moralisten“ oder auch die Kritiker furchtbar aufregen, dann kommt das gerade recht. Tue Böses und lass darüber reden. Ohne das würden die der „Big Brother“-Containershow folgenden neuen Sensationen nicht funktionieren. Die zweite Strategie ist das Etablieren der Schweinereien im gewohnten Programmablauf. Immer mehr von dem selben, man wird sich schon daran gewöhnen, so wie man sich an die Vulgarisierung der Sprache gewöhnt hat.

Das Fernsehen erzählt nicht. Es wird zu einer medialen Parallelwelt, in der es nicht mehr um Erkenntnis sondern nur noch um die Illusion von Teilhabe geht. Schlimmer vielleicht: Es geht nicht einmal mehr um „Unterhaltung“, sondern vielmehr um die Steuerung von Zuständen der Hysterie (man kann einfach nicht wegschauen) und der Langeweile (man ist zum Abschalten zu müde). Die Idiotenmaschine, wie sie der amerikanische Regisseur Spike Lee nennt, will, wie jeder andere Diktator auch, nur einerseits geliebt sein. Sie will andrerseits einfach überall sein. Und gefürchtet.

Natürlich kann man das alles auch anders sehen. Das Fernsehen, so zum Beispiel sieht es Hans Magnus Enzensberger, ist ein taoistisches Nullmedium, in dem alles und nichts geschieht. Es hat von allem, was es bietet, auch das Gegenteil im Programm, es widerspricht sich so sehr selbst, dass aus der Mischung von Kitsch und Gewalt, aus Information und Anti-Information, aus Ranschmeißen und Abstoßen unterm Strich eben das wird: Nichts, Zero, Null. Das Fernsehen kann ja nicht besser sein als die Menschen, die es gucken wollen, wäre man nicht sonst, im besten Fall, „pädagogisch“ und im schlimmsten Fall „totalitär“? Man kann es also betrachten wie ein Arzt einen Patienten: Alles voller Symptome! Wir haben das Fernsehen, das wir verdienen, einerseits. Und andrerseits verrät nichts und niemand so viel darüber, wie es wirklich zugeht bei uns. Die Idiotenmaschine lügt so schamlos, dass sie immer mal wieder die Wahrheit sagen muss. Oder es ist eine perfekte Schule des Sehens, bei der man frühzeitig lernt zwischen den Bildern zu lesen. Und in der Tat: Der subversivste, intelligenteste und aufklärerischste Teil unseres Fernsehen ist noch allemal das Kinderprogrogramm.

Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffetnlicht im filmspiegel 11/ 2006