oder: Wie das Raumkino zur Opernbühne wird, und was Liebe und Schiffbruch zur Amerikanisierung der Welt beitragen

Was ich schon immer wissen wollte: Ob man eine Liebesgeschichte eigentlich in 3-D erzählen kann. Bislang nämlich hat sich die räumliche Öffnung des Kinos perfekt für Ländereien, Architekturen und Schlachten bewährt, für das Errichten phantastischer Parallelwelten und die Kreation bizarrer Mischwesen, die den Zuschauer anspringen, um ihn zu verschlingen. Gewiss gibt es auch eine zartere kinematografische Gestaltung der neuen digitalen Räumlichkeit, in der Poesie der Wassertropfen, der Feuerfunken, der Staubpartikel. Auch tänzerische Choreographien und sportliche Betätigungen bieten sich der Veräumlichung an. Wenn es indes um Menschen und ihre Beziehungen geht, dann würde man doch am liebsten die Polarisationsbrille abnehmen. Aber dann verschwimmen die Menschen auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm. Sie finden im Raum, so scheint es, aneinander keinen Halt.

Der Verdacht liegt nahe: Die Liebe ist zweidimensional. Der Raum ist für Maschinen, Massen und Gemetzel. Die Liebenden finden sich nicht im Raum, sondern indem sie diesen negieren. Sie werden zum Tafelbild ihres Begehrens, sie dürfen der Welt nur eine Projektion ihres Glücks zeigen, denn im Räumlichen droht ja alles, noch dahinter zu sehen, oder „einzudringen“. Skulpturen zeigen Helden oder Katastrophen. Aber keine Liebe. Die Teilhabe ist eine andere: Liebende sind Menschen, die die Kunst beherrschen, sich der Welt zu zeigen und sie zugleich auszuschließen. Man darf weder auf die Weise „dabeisein“, wie es die Verräumlichung (als letzte Attacke auf die Privatsphäre vielleicht) verspricht, noch auf die Rückseite gelangen.

James Camerons Film „Titanic“, die perfekte Verbindung von Liebesgeschichte und Katastrophenphantasie, kommt nun, rechtzeitig zum, nun ja, „Jubiläum“ des großen Schiffbruchs, in einer dreidimensionalen Fassung zurück in die Kinos, und wie es sich für ein Projekt dieser Größenordnung gehört, war auch die Konvertierung des Stoffes in räumliche Effekte eine zeit- und kostenraubende Angelegenheit: 13,6 Millionen Euro hat das Unternehmen gekostet, 300 Effekt-Mitarbeiter arbeiteten ein ganzes Jahr an dem Projekt. Wie bei „Star Wars“ verspricht man sich von einer solchen Umwandlung am Ende des Tages ein lukratives Zusatz-Geschäft. Aber vielleicht steckt diesmal doch ein wenig mehr hinter der Umwandlung, nämlich eben die Frage nach Raum, Metapher und Intimität.

TITANIC 3D hat, will man seinem Regisseur glauben, vor allem die Absicht, die Zuschauer von den heimischen Bildschirmen weg und wieder ins Kino zu bringen. Vielleicht ist daher der 3D-Effekt dazu auch nur ein Vorwand, um wieder zurückzukehren ins Gemeinsame, in die wärmende Höhle des Kinos, das für eine plakativ mythische Erzählung wie diese ja ursprünglich gedacht ist. Es ist die Größe und die Gültigkeit der Metapher, nichts ist hier Episode oder Nebensache, nichts ist gesehen, alles gezeigt und bedeutet.

Der Untergang der Titanic ist in diesem Film das Bild der Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft, nicht mehr und nicht weniger. Die „alte“ europäische Bürgerschicht, das alte Geld und die Aristokratie bzw. das die Aristokratie imitierende snobistische englische Bürgertum wird verurteilt oder wenigstens als dem Untergang geweiht geschildert. Das neue Geld, noch mehr aber die Tatkraft des jungen neuen Menschen, des homo americanicus wird gefeiert. Auf der Titanic wird aus der europäischen die amerikanische Gesellschaft. Und von jedem gesellschaftlichen Wandel weiß man: Das kostet Opfer.

Das Herzstück dabei ist die Befreiung der Frau aus ihrer Klassenfalle. Kate Winslet. Leidend schön und von unterdrückter Sinnlichkeit, wie aus einem allegorischen Bild der bürgerlichen Salonmalerei am Übergang zum Jugendstil. Sie empfindet sich als Pfand und Objekt in einem ökonomischen Deal: Weil die Mutter den sozialen Abstieg nicht ertragen würde, soll sie einen ungeliebten reichen Mann heiraten (der arme Billy Zane muss auch hier einen nachgerade comic-haften melodramatischen Bösewicht geben). Und der junge Einwanderer Jack muss sie zuerst vor dem Selbstmord und dann aus ihrem sozialen Gefängnis befreien. Leonardo di Caprio als lakonischer Tatmensch, mit so schlichten und treffenden Lebenserkenntnissen wie der junge Mr. Lincoln. Nur einer von beiden kann überleben, die Liebe aber währet ewig. Aber wem erzähle ich das? Gibt es jemanden, der „Titanic“ nicht gesehen hat? Den Zahlen der verkauften Kino-Karten und DVDs nach nicht. 1998 haben immerhin über 18 Millionen Kinozuschauer den Film gesehen, bislang wurde er 47 mal in verschiedenen deutschen TV-Sendern ausgestrahlt, und die DVD, zunächst von einem nicht-anamorphen Bild heruntergerechnet und dadurch in der Detailschärfe doch (zumindest für Qualitätsenthusiasten) beeinträchtigt, führte lange in den Verkaufslisten. Wir sehen nichts Neues sondern die Transformation des Vertrauten (von Bildern, die beinahe zu Tode zitiert wurden).

Dabei entsteht indes ein verrückter Effekt. Einerseits werden wir direkt in das Geschehen versetzt. Das Wasser zischt uns um die Ohren, feine Stäubungen entwickeln eine ganz besondere Ästhetik, wie wir sie schon aus Cameron „Avatar“ kennen. Es entsteht eine dreidimensionale Ornamentik, alles wird Bühne und Ausstattung. Und was durch die durchaus konventionelle Montage und Kamerabewegung in der „normalen“ Fassung eher Neben-Aspekt war, tritt nun durch die räumliche Offenbarung der Bühne in den Vordergrund: Diese „Titanic“ ist in Wahrheit kein filmischer Roman, sondern eine Oper.

Das legt im übrigen die Komposition des Plots durchaus nahe: So wie jeder Handlungsstrang eine Exposition erhalten hat, so bekommt jede Figur einen Auftritt in einer eigenen „Arie“; Arie, Duett und Massenszene wechseln sich dann auch im weiteren Verlauf ab. Das Geschehen ist deutlich in Akte und Szenen gegliedert, sie haben jeweils eigene Settings und sind um eine visuelle Schüsselwirkung hin inszeniert (das Spiel der beiden am Bug der Titanic bis zum letzten Dialog auf dem schwimmenden Holzstück, dem Floß, in dem Jack Rose das Versprechen abnimmt, weiterzuleben und „Babys zu bekommen“ – ausgesprochen pragmatisch gedacht, nebenbei).

Titanic 3D - Kate Winslet, Leonardo DiCaprio, James Cameron (Bild: Fox)

Titanic 3D - Kate Winslet, Leonardo DiCaprio, James Cameron (Bild: Fox)

Noch mehr als diesen Sog der durch die Verräumlichung von Natur (mikroteilig) und Technik (makroteilig) entsteht, kann man in TITANIC 3D beobachten, wie sich ein Filmgeschehen, das sich vom romanhaften Erzählen zum „world building“ der Räumlichkeit im Kern zurück entwickelt auf die Räumlichkeit einer Opernbühne hin- oder doch. Die Beweglichkeit der Kamera die in der 2D-Fassung noch mehr einen herkömmlichen Plot zu simulieren verstand, macht nun die Bühnenhaftigkeit dieser Titanic noch um einiges deutlicher, und genau so deutlich wird dabei, dass in der Oper, der bürgerlichsten aller Künste, neben der sublimierten Sinnlichkeit stets auch die Politik zum Ausdrück drängt: Das dem Untergang geweihte Schiff ist Schauplatz einer Oper, die in der Liebe zwischen Rose und Jack die Beziehung zwischen Europa und Amerika darstellt.

Noch bösartiger könnte man wohl sagen, es handele sich gleichsam um eine Art Abbruch der Oper, der Kunstform des alten Bürgertums – in dem schon immer seine Melancholie, seine Untergangsseligkeit zu stecken schien: „Titanic“ feiert den Untergang des alten Bürgertums und die Geburt des neuen in der Form der Zerstörung einer besonders gelungenen Bühne dieses Bürgertums. Roses Befreiung, um die es schließlich geht, wäre niemals möglich gewesen ohne diese beiden, paradoxen Geschehnisse: Das Opfer des proletarischen Mannes, der freilich ja „eigentlich“ etwas ganz anderes ist, nämlich ein „Künstler“ (während Rose allerdings Monet und Picasso als trosthaft-rebellische Begleiter in ihrer Kabine hat, für die natürlich den Angehörigen ihrer Klasse jegliches Verständnis fehlt, belassen wir Jacks zeichnerisches Talent freundlicherweise im Zweifelhaften), und den Untergang der Bühne, auf der ihr Drama aufgeführt wurde.

Der Effekt dieser Verwandlung, nämlich die große Schiffbruch-Metapher sowohl zu entfernen vom traditionellen morality play um Opferbereitschaft, Heldentum, Hybris, Schuld und Sühne, wie von der ideologisch bis religiös gefärbten Dramaturgie des „Katastrophenfilms“, hin zu einer filmischen Oper wird durch das 3-D-Format also verstärkt. Und weil es sich um eine Oper handelt, kommt es beim „Libretto“, den Dialogen zwischen Jack und Rose zum Beispiel, nicht auf den psychologisch-realistischen Gehalt an, sondern auf den Klang. Rose und Jack, nur zum Beispiel, nennen sich geradezu inflationär gegenseitig beim Namen. Sie unterhalten sich weniger als sich gegenseitig Sentenzen zu servieren,

Die Seele einer Frau, sagt Rose am Ende, bevor sie das Schmuckstück, um das sich alle Schatzsuche drehte, heimlich in die Tiefen des Wassers gleiten lässt, die Seele einer Frau ist ein tiefer Ozean. Natürlich legt sie damit eine Fährte zu einer Lesart des Films: Diese ganze Geschichte von Untergang und Liebe ist ein Traum, ein Bild dessen, was man so das „weibliche Begehren“ nennt, wenngleich natürlich wiederum eine durchaus männliche Projektion davon. Oder aber eine Verdi-eske Metapher von gesellschaftlichem Wandel. Denn Rose musste, um zu überleben, vom sich opfernden Jack den Pragmatismus, die Tatkraft und den Lebenswillen übernehmen. „Titanic 3D“ ist die Film-Oper von der Amerikanisierung der bürgerlichen Frau.

Kann das Kino also eine Liebesgeschichte in 3-D erzählen? Vorläufige Antwort: Nur insofern das Raum-Bewegungsbild vom realistischen „Roman“ absieht und zur filmischen Oper wird. Und nur insofern sie aus der Liebe ein politisches Gleichnis macht. Kein einfaches, nebenbei. Denn während „Titanic 3D“ vom Überleben als Amerikanisierung handelt, handelt es auch von der großen Sehnsucht der Amerikanisierten nach ihren untergegangenen europäischen Schätzen.

Georg Seeßlen, Neues Deutschland 04.04.2012

Bilder: Fox