Mit dem Film Tetsuo – The Iron Man, den man mit „Bodyhorror“ umschreiben könnte, wurde der japanische Regisseur und Theatermacher Shinya Tsukamoto bei uns zunächst von den Splatter-Aficionados adoptiert. Der versatile Künstler kann aber auch anders. A Snake of June ist ein Projekt, das ihm seit langem am Herzen lag.

Shinya Tsukamoto ist einer der bedeutendsten Filmemacher unserer Tage. Man kann seine Arbeit in die Reihe der Körper-Bild-Philosophen des postmodernen Kinos stellen, David Lynch, Atom Egoyan, David Cronenberg; man kann sie in der Tradition japanischer Leinwand-Kalligraphie über Sexualität, Gewalt und Neurose sehen, und natürlich haben sie vor allem anderen ihren ästhetischen Eigensinn. Tsuikamotos Filme sind poetisch, vertrackt und vieldeutig. Sie sind vor allem heftig, körperlich. Daher ist der Regisseur mit Filmen wie Tetsuo (1989) auch eher von der Mitternachts-Meute der Genre-Aficionados und Splatter-Freaks (der anti-feuilletonistischen Avantgarde unseres Mediums) entdeckt worden als von Liebhabern des Kunst-Kinos.

A Snake of June sieht man am besten, wenn man sich von der Vorstellung befreit, Filme funktionierten am ehesten wie Romane, die es zu verbildern gelte. Filme wie dieser gleichen eher Gedichten. In Zeichen, die Schrift und Bild zugleich sind. Es ist ein einzelnes Bild, aus dem sich die Komposition entwickelt; Tsuikamoto hat es in seiner Schulzeit gemalt. Es zeigt eine Schnecke auf den Blättern einer Hortensie. Das Bild ist in klaren Linien über durchscheinendem Blau gehalten. Die Schulzeitung hat es veröffentlicht, es war Tsukamotos erste künstlerische Veröffentlichung, der Ursprung seiner Ikonographie. In A Snake of June, dem Projekt, auf das der Regisseur zehn Jahre lang hin gearbeitet hat, ist aus der Schnecke ein Paar geworden, und aus dem Bild ein Film.

In ihm geht es, wie beinahe immer bei Tsukamoto, um die Verwandlungen von Wahrnehmung und Körper in der Megalopolis, dort, wo die Menschen, wie der Autor sagt, „in ihrer Isolation heimlich vertrocknen“. Wie sein Debüt um Tetsuo – The Iron Man, den Mann, der sich unter Schmerzen in ein eisernes Monster verwandelt, wie Bullet Ballet (1998), eine Variation der Geschichte von den „schrecklichen Kindern“ in der Megacity, ist auch A Snake of June weniger schwarzweiß als monochrom, zwischen Luftblau und kühlen Nachtfarben liegt die Palette dieses Films. Die Monochromie ist eines der ästhetischen Hauptmotive Tsukamotos, ein anderes ist die Suche nach dem Körper-Bild hinter den Maskierungen und hinter dem Pornographischen. „Mitten in einem Extrem der Vulgarität wollte ich etwas Reines sehen.“ Das gilt für die meisten seiner Filme, in A Snake of June aber ist es in jeder Einstellung gegenwärtig. Und auch darin ist der neue Film verbunden mit dem Debüt, als er gerade den umgekehrten Vorgang der Verwandlung zeigt: das Zerbrechen eines Panzers um den Körper.

Wenn wir für diesen Film einen Plot rekonstruieren, ähnelt er irreführenderweise einem erotischen Suspense-Thriller. Rinko Tatsumi ist eine ruhige, zurückhaltende Frau in den Mittdreißigern, die als Telefonberaterin beim Notruf eines psychiatrischen Zentrums selbstmordgefährdeten Menschen hilft. Sie tut ihre Arbeit so gewissenhaft wie ihr Mann Shigehiko, der als einflussreicher Geschäftsmann ein rigides Leben führt: Manisch besessen ist er von Reinlichkeit und Körperpflege, alles ist ihm zuwider, was die Grenzen zwischen dem Körper und der Welt unklar macht, der Schmutz, die Flüssigkeit, der Geruch. Die beiden haben keine Kinder, ihre Beziehung ist nach außen hin auf ruhige Weise zufrieden, im inneren resigniert vertrocknet. Es ist Juni, die Regenzeit in Japan (und die „Schlange“ dieses Monats ist, roh übersetzt, eine gefährliche Melancholie dieser Zeit). Eines Tages bekommt Rinko einen Umschlag mit der Aufschrift „Die Geheimnisse Ihres Ehemannes“, doch in den Briefen des möglichen Erpressers findet sie Bilder, die eher eigene Geheimnisse zu offenbaren scheinen: Es zeigt sie selbst, wie sie einen Minirock anprobiert, wie sie vor dem Bildschirm ein Internet-Angebot von Vibratoren prüft, wie sie sich selbst befriedigt. Sie ist Opfer eines „Stalkers“, und die Bedrohung durch den kalten Voyeur wird immer dramatischer, der nichts anderes (also etwas Ungeheuerliches) verlangt, als dass sie sie sich zu ihren Wünschen bekennt. Das Drama kulminiert, als der Ehemann involviert wird, und eine zweite, innere Krise ergreift den Körper Rinkos, dessen Subjekt davon so wenig wissen soll: Sie hat Brustkrebs und muss operiert werden. Aber der Biss der Schlange des Junis muss trotzdem nicht tödlich sein.

Ursprünglich hatte Tsukamoto die Geschichte einer rätselhaften Erpressung, ein Psychodrama zwischen drei Menschen und ihren jeweils kranken Beziehungen zur Sexualität im Sinne gehabt. Dass er selbst den Stalker spielt, weist noch darauf hin, dass überdies eine Reflexion über das Kinomachen neben der Handlung läuft. Aber dieser Regisseur hat sich in seiner mittlerweile beachtlichen Filmographie so weit entwickelt, dass er sehr viel tiefer gehen kann. Wohin? Darüber könnte man ein paar Stunden reden. Oder auch schweigen.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht  in epd film 3/2004