Das Leben, ein Traum

Diese Geschichte könnte man, mit einer Portion Tempo und gutem character acting, als historische Action-Komödie erzählen: Die Einwohner eines jüdischen Schtetl, irgendwo im Osten, erfahren im Kriegsjahr 1941 durch Schlomo, den »Idioten« der Gemeinde, daß die Nazis heranrücken, die die jüdische Bevölkerung ermorden oder deportieren. Die Weisen des Dorfes beratschlagen und kommen auf eine Idee zur Rettung (wieder ist es Schlomo, der sie darauf bringt): Sie kaufen sich einen Zug, tarnen ihn so gut es geht mit den Abzeichen des Feindes und bewegen sich, gleichsam als Fake des ihnen zugedachten Schicksals, mit falschen SS-Männern in falschen, schnell zusammengenähten Uniformen und mit falschen Papieren, als Deportationszug durch die Linien der Deutschen. Nach Palästina soll die Reise gehen.

Was wie eine Schtetl-Komödie beginnt, mit all ihren liebenswerten und eigensinnigen Charakteren, auf der Kippe zwischen leicht meschugge und höchst lebensklug, wird eine Reise ins Abenteuer, nicht zuletzt, weil der Lokomotivführer unterwegs erst einmal die Handhabung seiner Maschine lernen muß. Und auch die kommunistische Gruppe der Gemeinde muß während der Reise erst die Gedanken zum »neuen sowjetischen Menschen« sortieren. Es gibt herrliche Suspense-Situationen in der Camouflage, am Rande des Todes und am Rande von Slapstick, eine Liebesgeschichte gibt es auch – eigentlich sind es gleich mehrere, die alle nicht funktionieren – , und dann ist da noch eine Gruppe echter Partisanen, die immer wieder versucht, den vermeintlichen Transport zu sabotieren (und höchst erstaunt auf die betende Gruppe von SS-Leuten reagiert: Kann sich der Feind tatsächlich so gemein verstellen?). Selbst die internen Konflikte der kleinen Gemeinde, die sich auf den Weg gemacht hat, können in der Situation der Gefahr nicht vollständig zum Schweigen gebracht werden: Die Gruppe der kommunistischen Materialisten, die ihre gottlose Versammlung abhalten will, während die anderen den Sabbath heiligen, bekommt es sogleich mit den Gläubigen zu tun, allen voran mit Mordechai, der den Anführer der Nazis spielt und schon einmal vergißt, daß seine Rolle nur angemaßt ist. Schlomo, der »Idiot«, der am Anfang das Dorf gewarnt und damit gerettet hat, der in blumigen Metaphern spricht und immer ermahnt werden muß, zu der Sache zu kommen, bei der er längst zu sein glaubt, Schlomo schlichtet auch diesen Streit, wenn auch um den Preis, Gläubige wie Materialisten gleichermaßen ratlos zu machen. Dazwischen immer wieder Bilder der schönen, einsamen Fahrt des Eisenbahnzuges.

Als die Kommunisten der Gruppe die Gemeinschaft im Zug verlassen, um sich statt nach Palästina nach Moskau durchzuschlagen, müssen die verbliebenen einen veritablen Suchtrupp, komplett mit deutschen Schäferhunden, bilden. Das nächste Mal werde er seine Männer das Feuer eröffnen lassen, brüllt Mordechai, der offensichtlich immer mehr an die Ideale von Zucht und Ordnung glaubt. Er macht eine furchtbare (und auch wieder furchtbar komische) Geschichte von Identifikation und Entfremdung durch in dieser verhaßten Uniform. Bei all dem Trubel ist Lilienfeld, der Schneider, verlorengegangen und in die Hände der echten Nazis gefallen. Nun muß er durch ein waghalsiges Manöver befreit werden, durch einen dieser Verkleidungs- und Verstellungscoups, wie wir sie aus dramatischen und komischen Filmen, von »The Dirty Dozen« bis »Which Way to the Front« kennen. Vielleicht lieben wir es ja, im Kino jemandem zuzusehen, der einen Nazi spielt, und darauf zu achten, wieviel Mensch-Sein eine Nazi-Uniform verträgt und wieviel Nazi-Uniform ein Mensch.

Schließlich wird der Zug von einer Gruppe motorisierter SS-Leute angehalten, die einen anderen Gefangenentransport begleitet und nun Mordechais Zug requirieren will. Aber dann stellt sich heraus, daß der andere Transport genauso falsch ist: Eine Gruppe von Zigeunern ist auf dieselbe Idee gekommen. Ein großes Fest und ein fröhlicher Wettstreit mit Geigen, Chören und Tänzen zwischen Juden und Zigeunern beschließt den großartigen Abend. Dann haben sie gemeinsam die Front erreicht; die Freiheit, mitten unter einschlagenden Granaten. Das würde ein Lachen gewesen sein, ein großes Lachen. Wenn die Geschichte, die uns Schlomo erzählt hat, wirklich wahr gewesen wäre. Aber sie ist nur so wahr wie die Geschichte von Jakob dem Lügner, wie die Geschichte, die der Vater dem Sohn erzählt in »Das Leben ist schön«.

Die blinden Flecken im Märchen, die Unbarmherzigkeit der Realität, die in »Das Leben ist schön« oder Jakob der Lügner im letzten Drittel der Erzählung verteilt sind, die Erinnerung an die Nicht-Erlösung, die Nicht-Rettung – das ist in »Zug des Lebens« in eine einzige Szene am Schluss gespiegelt, in der wir erkennen – aber gewiss haben wir es anders auch schon gewußt – daß diese ganze Geschichte von der wundersamen und abenteuerlichen Rettung eines Schtetls und seiner Menschen nur ein Traum sein kann, den nur Schlomo, der »Idiot«, hat erzählen können, im Angesicht des sicheren Todes. Darum muß der Film weder didaktisch noch vorsichtig sein, er muß keine Angst davor haben, das Schreckliche in seinen Bildern weniger schrecklich erscheinen zu lassen. Er phantasiert drauflos. Er macht mit dem Kino in einer letzten verzweifelten Geste das, was das Jiddische mit dem Deutschen gemacht hat.

Von den Filmen, die in jüngster Zeit das Komödiantische mit dem Grauen zu verbinden suchten, scheint »Zug des Lebens« die wenigsten Probleme mit der Selbstrechtfertigung zu haben. Er erzählt so lakonisch, wie man eine Geschichte erzählt, die man eben zu erzählen hat. Das macht, vielleicht, daß sie von innen heraus erzählt wird, die Frage nach der Objektivierung stellt sich gar nicht erst. Wir können uns vorstellen, weniger eine Geschichte über Juden anzusehen, als eine jüdische Geschichte. Daß wir ihr nicht einfach als »Realität« trauen können, dafür gibt es Hinweise genug in Radu Mihaileanus Film, ganz abgesehen davon, daß es immer wieder nur Schlomo sein kann, der die rettenden Ideen hat. Schlomo, der seine Rolle, ein »Autor« zu sein, bedingungsloser als Jakob der Lügner annimmt. So total, daß sein Adressat gar nicht mehr erscheinen muß. Wem hat er seine Lügengeschichte erzählt, so wie wir ihn da am Ende sehen, ausgemergelt, in der Sträflingskleidung am Stacheldrahtzaun?

Ich habe keine Ahnung, ob ein Film wie dieser so etwas wie eine Erkenntnis transportiert, ob er möglicherweise gar das Herz eines Zusehers erreichen kann, das sonst hart oder gar den neuen Faschisten nicht verschlossen bliebe. Ich weiß auch nicht, ob es uns erlaubt sein kann, in einem Film über den deutschen Völkermord so viele glückliche Momente zu erleben, so viele schöne Bilder, so viele Kamerablicke einer sehr einfachen Zärtlichkeit. Und ob der cineastische Traum vom Überleben, der Traum vom Überleben in einem inneren Kino, der Traum von der zärtlichen Lüge, Teil einer Utopie des Menschlichen ist oder ein Angebot der falschen Tröstung und Regression – auch das weiß ich nicht. Keine Pointe, keine rhetorische Finte, keine letzte Wendung. Ich weiß es einfach wirklich nicht.

Autor: Georg Seeßlen


Text veröffentlicht in Konkret 04/2000