Porträt eines selbstmörderischen Rebellen

Der neue „Blade Runner“ hat großen Schauwert. Vor allem fragt er jedoch, ob es gegen einen Diktatur und Religion gewordenen Kapitalismus noch wirksame Auflehnung gibt.

Mit dem Blick in eine erfreuliche Zukunft hat sich das Genre der Science-Fiction selten zufrieden gegeben. In der Regel verwendet man ein kontrolliert apokalyptisches Weltbild: Es muss erst noch einmal schlimmer werden, bevor es vielleicht wieder besser werden kann. Was die Gesellschaftsform anbelangt, so hat die Science-Fiction am liebsten Variationen der beiden Klassiker aus dem vorigen Jahrhundert verwendet: „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley (die Menschen werden durch Drogen und Bequemlichkeit willfährig gemacht) und „1984“ (der totale Überwachungs- und Terrorstaat erfasst den Menschen bis in die Privatsphäre und bis in die Sprache hinein). Unsere Wirklichkeit, derzeit, ist eine ziemlich perfekte Mischung aus beidem. Und wir haben uns daran gewöhnt, an unsere schöne neue Smarthome-, Bespaßungs- und Informationskriegswelt. Um den wahren Schrecken einer allseits sedierten Überwachungsgesellschaft zu sehen mit Terror und Zerfall an allen Ecken und Enden, müssen wir allerdings ins Kino gehen. In Science-Fiction-Filme. Denn Science-Fiction-Filme erzählen nie von der Zukunft, sondern immer von ihrer Gegenwart.

Einer der Jäger, ein gewisser Rick Deckard (gespielt von Harrison Ford), der es an Heruntergekommenheit, Zynismus und verborgener Romantik mit jedem schäbigen Detektiv des Film noir aufnehmen konnte, verliert sich im moralischen, erotischen und politischen Sumpf dieser neuen Welt-(Un-)Ordnung und in dem Grund-Satz seines Namensgebers: „Ich denke, also bin ich.“ Doch in dieser (unserer) Welt ist man mit dem Sein ohne Bewusstsein (Huxley) besser dran, und wer zu denken beginnt, wird bald nicht mehr sein (Orwell). Am Ende, als die Replikanten ihren Schöpfer erreicht und zur Rede gestellt haben, und der Blade Runner seinen letzten Kampf gewinnt oder verliert, wie man es nimmt, ist die Frage, wer hier Original und wer Abbild ist, ohnehin nicht mehr genau zu beantworten. Dass Rick Deckard selbst ein Replikant ist, das ist eine Besserwisser-Lösung. Was wirklich zählt: der Zweifel. 

Science-Fiction noir

Blade Runner war damals an den Kinokassen nur ein mäßiger Erfolg, entwickelte sich aber nach und nach zu einem wahren Kult. Zusammen mit Scotts anderem großen SF-Film „Alien“, der sozusagen nach hinten, an den Ursprung der Evolution, zurückerzählte, was „Blade Runner“ nach vorn, ans katastrophische Ende, unternahm, war eine Neugeburt eines bis dahin hauptsächlich entweder ziemlich kindlichen oder aber formelhaften Genres geglückt: „Science-Fiction noir“ erzählt von einer Zukunft, in der die Dinge nicht „futuristisch“ glänzen, sondern abgenutzt und missbraucht sind, wie im richtigen Leben, und in der die Protagonisten weder Helden noch Opfer, sondern „normale“ Subjekte von Kapital und Arbeit sind. Im Gegensatz zu Stanley Kubricks einzigartigen Werken „2001“ und „Clockwork Orange“ waren Ridley Scotts dystopische Science-Fiction-Filme anschlussfähig und fortsetzbar, nicht zuletzt, weil es immer auch Zutaten-Kino war, Kamera, Dekors, Licht, die Gestalt des Monsters in „Alien“, die Allgegenwärtigkeit elektronischer Werbe-Bilder im öffentlichen Raum bei „Blade Runner“, die Musik. Das alles hatte seinen Eigenwert und konnte, einzeln oder gemeinsam, Grundlagen für ein intelligentes, antikolonialistisches und kritisches Bild der Zukunft unserer Gegenwart jenseits von „Star Trek“ und „Star War“ liefern. 

Das Entscheidende dieser kinematografischen Konstruktion der Zukunft war, und das hatte man wohl von Philip K. Dick gelernt, den Art Spiegelman einen neuen Kafka für das 20. Jahrhundert genannt hat, dass sich das Ungeheuerlichste aus der größten Normalität entwickelte und das Grauen nicht aus einem dramatischen Ereignis, sondern aus der Gewöhnung an Zustände entstand. Monster und Replikanten in der Science-Fiction noir sind nichts anderes als Bilder eines unglücklichen Bewusstseins, und beides, das parasitäre Ur-Wesen des Kosmos und die verzweifelt rebellische Parallelschöpfung, verdanken ihren Auftritt nichts anderem als der Profitsucht des Kapitalismus, der damals, in den achtziger Jahren, seine soziale Maske zu verlieren begann.

Dreißig Jahre später sind die beiden dystopischen Schlüsselwerke Scotts wieder von bemerkenswerter Aktualität. Scott selbst setzte die Alien-Sage, die unterdessen mit sehr verschiedenen Tendenzen und Handschriften variiert worden war, mit einer philosophischen Reise von Prometheus fort; die Fortsetzung zu „Blade Runner“, in sehr unterschiedlichen Fassungen jedem Science-Fiction- und Cinema-du-Look-Fan präsent, legte er in die Hände des jungen kanadischen Regisseurs Denis Villeneuve. Eine kluge Entscheidung. 

Villeneuve nimmt die Vorlage sehr ernst, um dennoch aus den direkten Bezügen zu Ridley Scotts „Blade Runner“ eine ganz eigene Vision zu gestalten. „Blade Runner 2049“ ist kein Remake, aber ein Sequel im eigentlichen Sinne ist es auch nicht, dazu entbehrt die Zeit im Blade Runner-Kosmos zu sehr der linearen Verlässlichkeit. 

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Der wendungsreiche Plot basiert auf sehr einfachen Prämissen. Nachdem sich die Replikanten-Sklaven als zu unberechenbar und gefährlich herausgestellt haben, wurde ihre Produktion eingestellt. Dann freilich geschah etwas, das den Namen eines großen Blackouts bekam. Offensichtlich war das nicht nur ein universaler Strom- und Energieausfall, sondern auch so etwas wie ein Reset des (sozialen) Bewusstseins. Jedenfalls wurden nun neue Replikanten erzeugt, denen jeglicher rebellischer Impuls ausgetrieben wurde. Und wieder entstand eine schöne neue Welt, mit den endlosen Slums auf den Straßen und mit einem neuen Schöpfergott des wissenschaftlichen Kapitalismus in den Türmen darüber. 

Unser Nachbar, der Replikant

Immer noch werden Blade Runner benötigt, denn von den alten Replikanten haben einige überlebt. Sie leben im Verborgenen. Einer von ihnen hat sich als Farmer in trostlosem Land niedergelassen; er züchtet Maden als Proteinlieferanten und pflanzt Knoblauch für den Eigenbedarf. Mit seiner „Eliminierung“ durch den neuen Blade Runner, den Ryan Gosling als Digest-Fassung all seiner einsamen und übermüdeten Action-Helden spielt, beginnt die Handlung, oder mehr noch mit dem Fund menschlicher oder auch wieder nicht menschlicher Überreste unter einem toten Baum, der reichlich tarkowskijhaft in verlorenen Landen übrig blieb. 

Der Replikant hat keinen Namen, aber eine Typenbezeichnung, die man allerdings schlicht auf „K“ reduziert. Das ist natürlich so sprechend wie der Name Deckard zuvor. K erinnert sehr an einen gewissen Landvermesser, der in ein Schloss von undurchschaubarer Organisation und Konsistenz vordringen will oder muss, und nie herausfindet, welche Rolle er selbst dabei spielt. Später wird K doch einen Namen bekommen, genauer gesagt, die Parodie eines Namens, denn wie jeder weiß, der zwei oder drei Western gesehen hat, ist „Joe“ nichts anderes als die Chiffre für Namenlosigkeit. 

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K’s Entdeckung jedenfalls ist so skandalös, dass sie das gesamte Welt- und Gedankengefüge der neuen Gesellschaft zum Zusammenbruch bringen würde, sodass nun erneut aus dem Jäger ein Gejagter werden muss und sich das System mit aller Brutalität gegen die eigene Aufhebung zur Wehr setzt. Hier wird „Blade Runner 2049 zum Umkehrbild des Vorläufers, was die Frage von „Echtheit“ und „Replikanz“ des Menschen anbelangt. Da im Übrigen Replikanten keine Maschinen sind, sondern eine genetisch-organische Parallelschöpfung komplett mit „künstlichen Erinnerungen“ und mit Gefühlen (im Fall K gibt es eine virtuelle Begleiterin, eine Zukunftsform unserer heutigen „Alexa“, die nächste Variation der Parallelschöpfung: eine Seele ohne Körper, ein ausgelagertes Bewusstsein, der Mitmensch als Simulation), ist die Frage nach ihrer technischen Herstellung eher müßig. Der Replikant ist der an seiner Uneigentlichkeit und Versklavung, an seiner Fremdbestimmung und Unvollständigkeit leidende Mensch. Insofern ist es ziemlich wahrscheinlich, dass in unserer Nachbarschaft eine Menge von Replikanten leben. Oder sollte man selbst …? 

K will oder muss das Geheimnis seiner Existenz, das zugleich das Geheimnis seiner Welt ist, aufdecken wollen. Der Weg führt ihn zunächst nicht zum Schöpfergott, sondern zu seinem Vorläufer Deckard (den wieder Harrison Ford spielt). Und dass das alles reichlich komplizierte Beziehungen sind, kann man sich denken, auch ohne dass Einzelheiten der Handlung verraten werden müssten. Jedenfalls führt dieser Weg auch durch eine gewaltige Landschaft von Abfallbergen, eine neue Wildnis, das nächste Abbild schrecklicher Sklaverei. Auf der Suche nach seiner Identität jedenfalls erkennt K immer mehr vom Wesen des Systems, dem er dient. Es ist unmenschlich, wirklich. 

Denis Villeneuve, bemüht, zugleich keine Spoiler zu liefern und doch zu erklären, was seinen Film im Innersten zusammenhält, wies in einem Interview mit einer italienischen Zeitung darauf hin, dass nicht nur Dicks Roman und natürlich Scotts Film die Bezugspunkte bildeten. Sein Lieblingsbuch sei vielmehr Oriana Fallacis „Un Uomo“ (Ein Mann). Das ist ein 1979 erschienener autobiographischer Roman der Journalistin und Schriftstellerin, in dem sie ihre Beziehung zu dem griechischen Widerstandskämpfer, Politiker und Dichter Alekos Panagoulis verarbeitet. Fallaci lernte Panagoulis bei Recherchen und einem Interview nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis 1973 kennen. Die beiden wurden ein Paar und erlebten eine spannungsreiche Beziehung bis zu seinem Tod im Jahr 1976. Die Autorin wählt für ihren Erinnerungstext die ungewöhnliche Form des „Du“: Sie spricht den verstorbenen Geliebten in einer direkten Gegenwart an und erwähnt dabei nicht nur seine angenehmen Seiten wie die Intelligenz, den Humor oder die Tapferkeit, sondern auch seinen Starrsinn, seine Gewalttätigkeit und vor allem seine seltsame Todessehnsucht, die sein Leben zugleich als heroischen Widerstand gegen die Diktatur und als langen Selbstmord erscheinen lassen. 

Projektion sehr realer Bedingungen des Widerstands

Denis Villeneuve war und ist ein ausgesprochen politischer Filmemacher. Es lohnt daher, seinen Film nicht nur als die gewohnte Dystopie mit den grandiosen Schauwerten einer ebenso faszinierenden wie kaputten Zukunftswelt anzusehen, sondern auch als Porträt des Rebellen als Metapher der Selbstwidersprüchlichkeit. Manche Szenen in diesem Film erhalten einen ganz anderen Stellenwert, wenn man sie als Projektionen sehr realer Bedingungen des Widerstands gegen ein totales System betrachtet. Die Totalität besteht nicht zuletzt darin, dass das Politische auch wieder ins Religiöse kippt. Dieser postindustrielle Vatergott spricht nicht umsonst von seinen Geschöpfen als „Engeln“, und was sich als Folge von K’s überraschender Entdeckung abspielt, ist eine Paraphrase auf den Mythos des Kindermordes. (Auch hier wartet der Film im Übrigen mit einer höchst kreativen Wendung auf: Das Echte kann sich nur im Traum bewahren.) 

Wenn man es zuspitzen will, geht es in „Blade Runner 2049“ um die Frage, ob es gegen einen Diktatur und Religion gewordenen Kapitalismus neoliberaler Prägung noch eine wirksame Form der Rebellion geben kann. Und darum, was eine solche Rebellion mit seinen Subjekten macht. Allgemeiner könnte man es indessen auch fassen: Die fundamentale Entfremdung sucht nach einem aufklärerischen Halt. Das wird im Übrigen wunderbar lakonisch durch eine Prügelei und einen anschließenden Drink ausgedrückt, in einem alten Hotel, das sich Deckard als Refugium gewählt hat, eine dieser Raum-im-Raum-Installationen, die die dystopische Science-Fiction als Museum einer untergegangenen bürgerlich-demokratischen Kultur so liebt. Hier gibt’s sogar Bücher. 

Die Welt in „Blade Runner 2049“ ist für Menschen unbewohnbar geworden. Die Überlebenden sind im wahrsten Sinne des Wortes niedergedrückt, drängen sich in den Straßen und in den Wohnsilos, ziehen sich in ihre Höhlen zurück. Von der Liebe ist eine vage Erinnerung geblieben (sehr platonisch, als Erinnerung an eine Ur-Einheit), und eine ebenso vage Hoffnung (darauf, dass das elektronische Trugbild ins wirkliche Leben treten könnte, was vorläufig nur in einer Verschmelzung von Kunst-Seele und Leihkörper geschehen kann). Die Eroberung des Himmels ist ein Traum geblieben. Zwar verfügt man nun über fliegende Automobile, aber offensichtlich sind sie nur wenigen und möglicherweise auch nur Agenten des Systems vorbehalten. Der Himmel über der endlosen Stadt ist bezeichnend leer; es scheint nur noch die Aggregatzustände graues Wasser (als endloser Regen oder gleich als Sintflut) und rostrotes Feuer (wegen der unterirdischen Abfallverbrennungsanlagen) zu geben; der Großteil der Menschheit hat am technischen Fortschritt keinen Anteil. Sie können eigentlich gar nicht wissen, in welcher Welt sie leben, ihr Bewegungsraum tendiert gegen null. Es bleiben nur beständige Illusionen und Simulationen, und, das kennen wir schon aus dem ersten Film, ein allgegenwärtiges, aber unbestimmtes Versprechen auf Ausreisemöglichkeiten zu besseren Orten.  

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Ist das unsere Welt? Nicht einmal besonders satirisch oder dramatisch überzogen? Nur mit noch mehr Tod rings umher. Der Baum ist schön, sagt jemand. Er ist tot, antwortet K. Schönheit und Tod bedingen sich hier, bis zum allerletzten Bild. Dies eben ist Oriana Fallacis Held: Der Kämpfer für die Freiheit und für das Leben ist selbst schon in jeder seiner Bewegungen vom Tod gezeichnet. Fortsetzung, so viel scheint sicher, folgt.

Georg Seeßlen

erschienen: ZEITONLINE | 05. Oktober 2017

Bilder: Sony Pictures

Von Georg Seeßlen

ZEITONLINE | 05. Oktober 2017

http://www.zeit.de/kultur/film/2017-10/blade-runner-2049-denis-villeneuve-science-fiction-filme-ridley-scott