Bei manchen Filmen strengt sich Robert Altman an, bei manchen tut er es nicht. Ich bin hoffnungslos verliebt in die Filme, die Robert Altman ohne Anstrengung dreht.

Zu diesen Filmen gehört O.C. AND STIGGS, ein sweet little nothing von Teenager-Komödie, die ganz anders als die Filme des Genres, ganz anders als „normale“ Filme funktioniert. Der Film fängt mehrmals an und hört mehrmals auf; dazwischen wird viel weniger eine Geschichte erzählt, vielmehr verselbständigen sich die Zeichen, die Bewegungen des Kinos, um gegen ihre eigentliche Bestimmung, Träger von und Garantien für Ordnungen, Ideologeme, Übereinkünfte zu sein, zu revoltieren.

Zwei College-Jungen attackieren eine typische Middle-America-Familie mit ihrem bigotten Patriotismus, ihrem Geschäftssinn, ihrer bizarren Zeichenwelt und ihren Neurosen. Daneben träumen sie, von Reisen, von Abenteuern, von Afrika: King Sunny Ade, der unumstrittene Chairman der nigerianischen Juju-Musik, ist ihr Idol, das sich schließlich zu einem Konzert einfindet.

Es gibt noch ein paar Nebenhandlungen, eine von Vögeln zugeschissene Hochzeit, eine Love-Story, einen pensionierten Detektiv und einen betrunkenen Neger usw. Alle Verzweigungen und Figuren wiederzugeben würde mehr Zeit in Anspruch nehmen als der Film selbst (was natürlich für seine Klasse spricht). Und fast jede Szene ist ein eigener Film, manche davon schon wieder aus mehreren Filmen zusammengesetzt. Zwei bekiffte Männer spielen andauernd Vietnam, aber sie spielen mit wirklichen Waffen, und Dennis Hopper drückt dabei auch noch auf den Auslöser seiner Kamera. Die paar Szenen funktionieren in mindestens vier Richtungen: Es gibt die Bewaffnung der Freaks, es gibt Francis Ford Coppolas APOCALYPSE NOW; der amerikanische Militarismus ist ein (Schau) Spiel, aus dem immer aus eigenen Widersprüchen Ernst wird, und es gibt die Bürger, die davon nur auf abstrakteste Weise wissen.

Altmans Amerika hat den Anspruch auf Wirklichkeit aufgegeben, oder wie es der militante Fernsehprediger ausdrückt, die ganze Welt soll wie Amerika werden, wie ein gigantisches Fast Food Restaurant. Das einzig Reale in diesem Amerika, das nur noch aus Zeichen besteht (zum Beispiel aus Kakteen in jeglicher natürlichen, künstlichen oder eßbaren Form oder aus Lobstern, die in diesem Film geradezu obsessiv wiederkehren), ist der Traum der Jungen nach Afrika. Sie haben andererseits gelernt, ungemein souverän mit der Zeichenwelt umzugehen. Zum Beispiel haben sie sich in jeder Szene in ein anderes abenteuerliches Gewand geworfen; sie verwandeln sich nach Bedarf, sind Gauchos, latin lovers, Surfer usw., je nach Bedarf und Gelegenheit. Ihre Integrität besteht darin, daß sie anders als ihre Umwelt sich nicht mit einem festgefügten Zeichenrepertoire definieren, sondern sich beständig verwandeln. Statt zum Fetisch werden ihnen die Accessoires, von der Kleidung bis zum Auto, von der Sprache bis zum Gestus, zum Spielmaterial. Und genauso verfährt der Film, den man weder als eine Satire bezeichnen kann (obwohl er voller Satiren steckt) noch als eine freak-Komödie (obwohl O.C. und Stiggs deswegen „überleben“, weil sie noch um eine Spur verrückter sind als ihre Umwelt, deren Verrücktheit die Verrücktheit der ganzen Struktur ist).

Ganz beiläufig mäandert der Film in die verschiedensten amerikanischen Mythenwelten, O.C. und Stiggs begegnen Nigger Jim, den Mexikanern aus DER SCHATZ DER SIERRA MADRE (die heute Andenken verhökern) Und durcheilen sogar ein paar Altman-Filme. Was sie in der Tat tun, ist eine Festung stürmen (der Schlußkampf findet denn auch im Atombunker der Familie Schwab statt), aber ein wirklicher Sieg ist ebenso unmöglich wie zu sagen, welches Amerika denn nun der Alptraum welchen anderen Amerikas ist. Fest steht jedenfalls, und da ist Altmans Film nicht anders als realistisch, daß die angestrengte Produktion von Mythen früher oder später in eine zweite Wirklichkeit umschlägt, die nur von so beweglichen Menschen wie O.C. und Stiggs (und Robert Altman) als Wunderland erfahren werden kann, während sie allen anderen zur Bühne wird, auf der man als Marionette im Reich der Zeichen agiert und nicht einmal das Alleroffensichtlichste (etwa die ständig sturzbetrunkene Ehefrau, dir alles, was sie findet, zum geheimen Schnapsreservoir umfunktioniert) wahrnehmen kann, wenn es dem einmal gewählten Part widerspricht. Robert Altmans kleine cineastische Reise durch die amerikanische Ikonographie zur Zeit Reagans ist wie mit dem kleinen Finger der linken Hand und vielleicht auch nicht ganz nüchtern gemacht, und doch zeugt sie von einer wunderbaren Beherrschung des Handwerks. Traumhaft sicher und zur rechten Zeit das kleine Stück daneben sind die Anschlüsse; immer wieder erweisen sich die Bilder als Täuschungen, weitet sich der Blick, um eine Inszenierung sichtbar zu machen (und zugleich die Enge dieser Inszenierung, die nur funktioniert, solange die Zeichen „gewaltig“ sind – wie Schwabs motorisierte Postkutsche) und die Inszenierung sozusagen ummauert ist: Das Kinobild selbst ist eine solche Ummauerung. Insofern wäre 0.C. AND STIGGS auch ein Lehrfilm, wenn er nicht in erster Linie ein Spaß wäre.

Zu synchronisieren ist so etwas eigentlich nicht. Aber alles hätte man nicht so verhunzen müssen (zum Beispiel Whirros herrliche Geschichte vom besoffenen Abraham Lincoln, der eines Morgens mit einem ungeheuren Brummschädel autwacht und entsetzt fragt, was er im Suff angestellt hat: Was habe ich getan? Wen habe ich befreit?). Es sei denn, man fände es noch um eine Ecke komischer, wie die deutsche Sprache vergeblich versucht, einen falschen Sinn über das richtige Chaos zu legen.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 1/88