Der Ball, der Spieler, der Trainer und ihre Liebhaber

Mitten in die Phase der nationalen Auskühlung nach dem großen Event Fußballweltmeisterschaft, die Fahnen werden langsam ausgeblichen und der Papst ist auch schon wieder weg, bis zum nächsten Fahnenanlass ist es weit, kommt Sönke Wortmanns Film zum Ereignis in die Kinos. Und hast du nicht gesehen, sind die Fernsehprogramme schon wieder im deutschen Vollrausch, trommeln und olaen auf allen Programmen, und nur eines kann ich euch von diesem Film mit dem programmatischen Titel »Deutschland – ein Sommermärchen« versichern: So ekelhaft anschmeißerisch, korrupt und dumm wie der Medienhype ist er nicht, kann er nicht sein, und das schönste Bild in diesem Versuch, die nationale Besoffenheit medial in die Verlängerung zu schicken, war, dass es dem Regisseur selbst wenigstens ein bisschen peinlich war.

So ein Blick von innen, wie ihn der Film zum Ereignis gestattet, hat freilich etwas Befreiendes; all die Medien-Hypes, all die nationalen Symbole und Erwartungen, all das Drumherum zum Fußball kommt hier zwar an, aber doch auch gefiltert, mit einem Hang zum Trivialen und oft genug auch einem zum Surrealen, wie etwa bei den Besuchen der Kanzlerin und des Bundespräsidenten bei den Spielern. Man sitzt mit unseren Jungs eher konsterniert da, wie beim Besuch des Schulrates im Turnunterricht. Man weiß, dass alles, wirklich alles gelogen ist. Fußballspieler sind ja einerseits Stars, andrerseits Schwerarbeiter, die auf eine enorme Vielzahl von Reizen reagieren müssen, und sich auf einigermaßen anstrengende Art darauf vorbereiten, es müssen auch Schauspieler und Geschäftsleute in ihnen stecken. Aber sie sind eben auch dies: spielende Kinder, für die Gewinnen oder Verlieren nicht nur Kalkül und Karriereplanung ist, sondern etwas sehr Fundamentales.

Das Verkindlichen setzt sich fort im Zugriff der Medien; von innen gesehen hat auch der Reporter etwas teils Vulgäres, teils Groteskes an sich, der sofort das vertrauliche »Du« gebraucht, man weiß nicht recht, wie darauf reagieren. Es ist einerseits die Art, wie das Medium den Fußballer als »Kind« adoptiert, aber umgekehrt ist es auch die freche Behauptung des Mediendeppen, sozusagen aus dem Stand heraus Mitglied dieses Männerbundes zu sein. Wenn Fußballspieler nicht auf dem Platz sind, sind sie mit der Verteidigung ihrer Würde vollauf beschäftigt. Gut zu sehen: Es gibt da ein paar sehr unterschiedliche Strategien. Wie damals in der Schule …

Zweifellos: Dieser Blick von innen gibt dem Geschehen einen Teil der verlorenen Unschuld zurück, jedenfalls für 107 Minuten. Auch der Begeisterungsrausch, diese nationale Selbstfeier, wird hier von innen gesehen, etwas, auf das die deutsche Mannschaft reagieren muss, wie sie auf Strategiewechsel gegnerischer Mannschaften reagieren muss. Als Fernsehbild in einer nach den Bedürfnissen einer eher körperlich orientierten Männergruppe umdekorierten Hotellobby, gleichsam zur Nachricht aus einer anderen Welt mutiert, verliert das ganze etwas von der ideologischen Fragwürdigkeit. Immer wieder betritt man mit dem Team den Außenraum einer in Bewegung geratenen Öffentlichkeit. Die »Jungs«, die »Männer«, wie sie beständig angesprochen werden, scheinen hier allerdings weniger als die Nationalhelden denn als die Mitglieder einer sportiven Boy Group, die Mädchen zum Kreischen und Mengen zum Tanzen (oder wenigstens zum Wellenschlagen) bringen.

Die Spiele selber kommen in Wortmanns Film nur in der Form stilisiert überhöhter Traumsequenzen vor (wir kennen schließlich die andere Seite zur Genüge), die so genau mit der Musik geschnitten sind, dass man eine Art Fußballoper sieht, mehr noch aber Clips, bei denen man versäumt hat, das Produkt noch einmal ins Zentrum zu stellen, für das man eigentlich Werbung treibt. Spielzüge und Schweißtropfen in Zeitlupe. Da wird die Grammatik problematisch. Dass Fußball jetzt, praktisch und materiell ist, und dass gerade das das Tolle daran ist, wird ausgerechnet hier verleugnet, wo man doch gerade bereit war, Arbeit und Psyche eher als den Mythos und die Ideologie zu sehen.

Insbesondere die musikalische Aufbereitung, mit einem Hang zum mickey mousing und zum Erlösungsraumklang, erzeugt diese Nähe zum Werbespot, die man fatalerweise auch beim Übergang zu den intimeren und interessanteren Sequenzen nicht mehr ganz aus dem Kopf bekommt. Die Leerstelle des Werbefilms ist wahlweise Fußball oder Deutschland oder einfach: Pop. Man lernt einige der Beteiligten in der Tat besser kennen, auch Nebenfiguren wie den Masseur oder den Fahrer des Busses, und man fühlt sich für eine Zeit in der Tat wie ein Mitglied dieses erweiterten Teams, das von Klinsmann immer wieder mit den kernigen Formeln motiviert wird, die weder besonders intelligent noch besonders sympathisch sind, aber darauf kommt es nicht an.

Eine Art kontrollierter Begeisterungsrausch erfasst auch den Zuschauer, es gibt in diesem Film nur sympathische Menschen. Man könnte den Film als Dokumentation eines mehr oder weniger gelungenen gruppendynamischen Experiments ansehen, und darin eben auch ein politisches Modell erkennen. Fußballfilme sind immer politische Filme, weil in unserer Gesellschaft Fußball sowohl im Inneren wie im Äußeren politisch ist. Es muss ja nicht immer diese Holzhammer-Metaphorik zwischen Bundeskanzlern und Nationaltrainern und ihren jeweiligen Führungsstilen sein, aber zweifellos kann man Deutschland nicht erzählen, ohne Fußball zu erzählen.

Diese Analogie akzeptiert Wortmanns Film, natürlich schon bei dem Titel, der nicht nur eine positive Grundstimmung verspricht (die voll und ganz eingehalten wird, das gehört zur Strategie des Films), sondern auch eine Übermalung: Heines »Deutschland. Ein Wintermärchen« ist ja zum Sinnbild melancholischer Distanz geworden, auch und gerade bei all jenen, die das Versepos nie gelesen haben. Eine Übermalungsaktion ist das also gleich zweimal, einmal durch menschliche Nähe und das andere Mal durch die ästhetische Überhöhung. Was in der Mitte fehlt, ist die Chance kritischer Distanz. Immer wieder kommt es auch im Film zum Ausdruck, und es ist natürlich Klinsmanns Philosophie: nicht jammern, nicht ausruhen – hinlangen, angreifen, Optimismus. Wortmann, so liest sich’s in seinem Tagebuch, will so auch Filme machen.

Das ist denn doch ein wenig zu viel der Ausblendung im Dienst der wieder gewonnenen Unschuld. Denn der Blick von innen, den der Film uns anbietet, ist nur ganz selten auch ein Blick nach innen. Allenfalls in zwei, drei Szenen sieht man nicht nur einen Perspektivwechsel, sondern tatsächlich etwas anderes als in der gewohnten Medienberichterstattung. Neben den Bildern der Niederlage und den Schwierigkeiten, mit ihr fertig zu werden, ist das vor allem eine Szene am Schluss, als man sich darüber verständigen will, ob man zum Abschluss noch zur Fanmeile in Berlin fliegen soll. Wie leer man nach einem solchen Turnier sein kann, davor warnt Ballack und deutet immerhin an, dass es auch einen Dissens zwischen Mannschaft und Betreuern geben kann (und Klinsmann hat intelligenterweise den Raum verlassen, um die Mannschaft zu einem demokratischen Ergebnis kommen zu lassen; schon wieder kommt man sich vor wie in einer Schule).

In solchen Szenen, und in Wortmanns Dramaturgie angelegt, versteht man ein wenig davon, wie in einer Gruppe sich Zwang und Freiheit begegnen müssen, und warum das mindestens so bedeutend ist wie die Taktik und die körperliche Fitness. Zu den ersten Statements des Films gehört es, dass Co-Trainer Löw meint, die »deutschen Tugenden« reichten heute im Fußball nicht mehr aus, die seien längst selbstverständliche Grundlagen. Da ahnt man, was das Innen und das Außen zusammenhält: ein Versuch der Neubestimmung, wenigstens der Erweiterung dessen, was man als »deutsch« begreifen soll.

In manchen Augenblicken sieht man einem Kollektiv zu, das sich in seiner Praxis selbst erfindet. Um das wirklich würdigen zu können, zeigt Wortmann freilich zu wenig von den Schwierigkeiten, die sich einem solchen Prozess entgegenstellen. Verbal zumindest passiert in diesem Film auch nicht viel anderes, als in den Fernsehberichten zu hören und in den Zeitungen zu lesen ist. Klinsmanns Anfeuerungen klingen nicht anders als im »Elf Freunde müsst ihr sein«-Diskurs. Er insistiert zu wenig, und er zerlegt auch wenig analytisch, weder das Spiel (wer erinnert sich noch an Helmuth Costards »Fußball wie noch nie«?) noch den Betrieb eines solchen Turniers, noch das Funktionieren eines Teams. So ist man am Ende so schlau als wie zuvor. Am ehesten ist eine Art von Feelgood Movie für Fußballfans daraus geworden, bei dem Wortmann natürlich der Instinkt für sein Material und seine Menschen zugute kommt. Er weiß genau, welche Situationen und welche Spieler am besten »rüberkommen«, und insbesondere Bastian Schweinsteiger setzt er nachgerade wie einen Schauspieler ein (und der dankt es ihm mit einer »Spielfreude« auch vor der Kamera). Die Frage nach dem einzelnen und dem Kollektiv ist also einmal mehr nach dem Prinzip des Spielfilms entschieden: Stars, Sidekicks, character actors, bit parts, Statisten. Das wichtigste ist der Platz.

Zwei weitere größere Probleme freilich machen einem das Ansehen doch nicht zum reinen unbeschwerten Genuss. Zum einen muss der Aspekt der Überraschung fehlen; nachdem man sich einmal an die Perspektive und an die wiederkehrenden Merkmale der Darstellung (etwa die durchgehende Interview-Situation der Spieler auf einem Hotelbett) gewöhnt hat, kann nichts Neues mehr geschehen. Man weiß nicht nur, wie es ausgegangen ist, man kennt schon die meisten der Sprüche und Gesten. Es ist ein Schatten, ein Echo, ein Gespenst. Im besten Fall hat Wortmann versucht, der Medien-Inszenierung von Fußballdeutschland nachträglich eine Seele zu verleihen.

Das zweite ist vielleicht schwerwiegender. »Deutschland – ein Sommermärchen« hat einen Aspekt von Fan-Enthusiasmus, Wortmann, selber versierter Fußballspieler und als Fußballfilmer durch »Das Wunder von Bern« ausgewiesen, hat sich einen persönlichen Traum erfüllt, aber das Produkt hat auch einen Aspekt eines offiziellen Sportfilms. So sieht man vielleicht die freiwillige oder unfreiwillige Komik mancher Situationen (die Pein der Urinprobe bei der Doping-Kontrolle oder die Flachsereien beim Massieren, Schweinsteigers Spiel mit der Kamera), aber irgend einen Punkt des kritischen Innehaltens oder der Brechung wird man vergeblich suchen. Da, wo es interessant zu werden droht, zum Beispiel bei der Lobby von Bayern München und ihren Versuchen, in die Besetzungspolitik der Nationalmannschaft einzugreifen, belässt man es bei Andeutungen. Dass Wortmann nicht nachfragt, das gehört natürlich zu seinem Konzept: dabei sein, nicht analysieren. Sein Konzept ist aber auch Symptom, da kann man nichts machen.

Das wird dann aber auch über anderthalb Stunden lang, bei allem filmischen Geschick, ein bisschen eintönig. Die Perspektive wird zu keinem Zeitpunkt einmal aufgebrochen. Wortmanns Film akzeptiert den Filter der Wahrnehmung. Auch das ist eine politische Nachricht. Wenn man zur gleichen Zeit den französischen Film über Zinédine Zidane sieht, ohne einen direkten Vergleich zu intendieren, dann wird klar, dass man die Verbindung von Fußball, Menschen und Politik auch anders sehen kann. Nämlich im Bewusstsein des Konflikts, im Bewusstsein einer schwierigen Realität.

Es hilft Dramaturgie, wo der Blick nicht genauer werden darf. Weil Wortmann auch den Bildern Raum gibt, die nach der Niederlage gegen Italien entstanden, dramaturgisch natürlich geschickt schon am Beginn des Films, entwickelt das ganze einen Sog der Wiederauferstehung: Das letzte Spiel um den dritten Platz und die anschließenden Feiern sind eine zweite Erfindung dieser Mannschaft, die einen Sommer lang ein bisschen von dem vergessen ließ, was das Land bedrückt. In der Politik, aber auch im Fußball selbst.

Dieses Innen, aus dem »Deutschland – ein Sommermärchen« immer wieder ganz direkt heraus erzählt, etwa wenn man die Protagonisten hinaus aus dem Tunnel in das gleißende Licht und den Massenjubel des Stadions treten lässt und dabei die Blendung ganz direkt miterlebt, dieses Innen ist eine pure Fiktion (und manchmal hat man das Gefühl, Wortmann und seine Zuschauer wären da mehr an der Kreation eines Zuhauseplatzes interessiert, als es die Protagonisten selber sind). Man kann eben auch auf das Authentische hereinfallen. Und Fußballdeutschland ist die authentische Fiktion am Beginn des nächsten Kapitels im Bürgerkrieg des Neoliberalismus.

Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in Jungle World