Inside Teenage Angst

Gus van Sant schlägt in „Elephant“ einen anderen Blick auf Highschool-Massaker vor

Der erste Blick dieses Filmes geht in den Himmel. Er ist blau, man sieht einen Strommast und hört die Geräusche Sport treibender Kids. Zeit vergeht, das Licht verändert sich in dieser Einstellung von der Dämmerung bis zur Dunkelheit, bis nur noch die Lampe an dem Mast leuchtet. Schnitt. Immer noch ist der Blick erhoben, in die Kronen herbstfarbener Laubbäume entlang einer Straße, die man mit einem Auto fährt. Diese Einstellung kennen wir aus beinahe allen van Sant-Filmen. Hier allerdings ist der Himmel verdrahtet, die Kommunikation hat sich vor das Wolkenbild geschoben. In der dritten Einstellung hat die Kamera ein Automobil eingefangen, das langsam durch die Straße fährt, und die Kamera ist nun in der Position, die bestimmend bleibt für den ganzen Film, hinter ihren Objekten, in leicht erhöhter Position, in Bewegung mit dem Objekt: ein mitfühlender Verfolger. Das Auto bremst gerade noch vor einem Radfahrer an der Kreuzung, fährt dann in Schlangenlinien weiter; dann verlangt der Junge, dass ihn der Vater fahren lasse. Das ist, so scheint es, schon eine Sache der Gewohnheit. Der Spiegel ist zerbrochen, und man muss nicht daheim sein in der ganz persönlichen Zeichenlehre der Gus van Sant-Filme, um zu erkennen, dass damit der Schrecken nur beginnen kann.

Jeder, der den Film Elephant ansieht, weiß, dass es darin um die Mordtaten einiger Schüler gehen wird, wie wir es von den Fernsehbildern von Columbine und Erfurt kennen. Fiktionalisierung hat in der Regel die Aufgabe, einem chaotischen, unverstandenen Geschehen Sinn, Dramaturgie und gar Erklärung zu geben. Mit den fließenden Bildern des Beginns schon verliert man diesen Vorsatz und lässt sich hineintreiben in das Leben, in einen ganz normalen Tag für die Kids an einer Highschool, jenem Ort, der für manche die schiere Hölle, für andere der letzte Zufluchtsort vor den anderen Höllen der Adoleszenz ist, der Familie und der Straße.

Gus van Sant hat immer Menschen beobachtet, die sich treiben lassen, das macht ihre Schönheit, ihre Gefährdung, ihre Freiheit aus, und die nach genau dem suchen, oder von dem genau gefunden werden, was ihr verantwortungsloses Treiben beendet. Einen festen Ort, einen Standpunkt, eine Beziehung, eine Idee, was auch immer.

Es ist schwer, den „Inhalt“ von Elephant wiederzugeben ohne falsche Erwartungen zu wecken. Es gibt ein schreckliches Geschehen, ein Blutbad, das weiß man. Doch mindestens ebenso sehr geht es in diesem Film um die vielen Dinge, die nicht geschehen. Deshalb zunächst einige Bemerkungen über die Methode: Die Darsteller der Jugendlichen sind Laien, die ihre Charaktere weitgehend nach ihren Lebensumständen gestalten. Der Regisseur erarbeitete mit ihnen gemeinsam die Dialoge; immer wieder wurde improvisiert und verändert. Der Schauplatz ist eine erst vor kurzem aufgegebene Highschool in Portland, der Wahlheimat des Regisseurs und Schauplatz vieler seiner Filme. Die Einrichtung war noch intakt. Man kann den Schweiß und die Kreide noch riechen.

Dem freien Spiel der Darsteller wurde eine besonders strenge Komposition der Aufnahme gegenübergestellt. Andere Regisseure hätten sicher (zumal es sich um eine genuine Fernsehproduktion handelt) einer nervösen Handkamera und High Definition Video-Material den Vorzug gegeben. Van Sant und sein Kameramann dagegen entschieden sich für eine „schwerfällige“ 35mm-Kamera und ruhige Fahraufnahmen. Dadurch verstärkt sich der Eindruck der merkwürdigen Verlangsamung, und die Bilder erscheinen auf eine sonderbare Weise „schön“.

In diesem Widerspruch entsteht eine filmische Essenz der sozialen Situation Schule. Die langen Gänge, der Vorplatz des Gebäudes, der Sportplatz – es ist immer eine große Leere um die Menschen, die hier unterwegs sind. Es ist nicht die Struktur des Klassenraums, es ist dieses Dazwischen, sinnloses Warten oder Eilen aus Furcht vor dem Zuspätkommen, die Einsamkeit und die heftige Begegnung, was die Verlorenheit ausmacht. Die wenigen Begegnungen mit Lehrern sind grotesk und unterstreichen nur die vollständige Verständnislosigkeit. Das Gebäude selbst ist ein Unterdrückungsinstrument, eine labyrinthische Falle des Driftens. Aber es gibt kein manifestes Böses darin, keine Horrorfilm-Enden. Dieser Ort ist ja nicht „finster“, im Gegenteil, immer wieder wird das Licht betont, das durch die Fenster und Gänge kommt. Um die Ecke meint man, müsste immer ein Weg ins Freie sein.

Raum und Zeit sind in Elephant durch einen konstanten Fluss oft schwer einzuordnender akustischer Reize verbunden. Es ist elektronische Musik der vierziger Jahre, immer am Rande zu einem unverständlichen Rauschen, und die konkrete Musik komponierter Alltags- und Naturgeräusche. Die Musik „erklärt“ nichts, schafft weder Emotion noch Identifikation, sie öffnet allenfalls weiter die Räume der Assoziationen, ein Gespür für die Struktur im Chaos alltäglicher oder innerer Wahrnehmung. Immer lauert darin Bedrohung, weht Verheißung und Gewalt. Diese akustische Fülle erklärt dann später, warum es keine konsistente dramatische Reaktion auf das Massaker gibt; man kann hier die Geschehnisse nie wirklich deuten.

Ganz in gelb, mit dem Stier auf dem T-Shirt, sehen wir den blonden John McFarland, mit dem wir die Welt der Highschool, die Welt dieses Films betreten. Er muss den betrunkenen Vater heimbringen, aber der Rektor erwischt ihn zuvor; ohne eine Spur von Verständnis reagiert er. Auch das ein Zeichen: Die Erwachsenen haben sich aus dieser Welt der Jugendlichen weitgehend zurückgezogen, sie sind völlig verantwortungslos. Wenn man daran denkt, wie stark in Gus van Sant die Suche und Sehnsucht der jungen Menschen nach Familie, Geborgenheit ist, dann ahnt man, wie dieser Bruch Teil der Katastrophe ist. Die Hölle, das sind nicht die anderen; die Hölle, das ist die eisige Leere dieser Welt, das Fehlen eines Zentrums, das Fehlen eines Traums (vom Heimkommen), das Fehlen einer Zukunft in dieser endlos gespreizten Gegenwart.

Zwei Formen der Kamera-Einstellungen sind vorherrschend bislang. Jene mitfühlende Verfolgung im tracking shot, die sich ganz einer Person und ihrer Empfindung von Raum und Zeit überlässt, und eine zweite: Die Kamera ist starr auf einen Ort gerichtet, die Personen laufen durch das Bildfeld und verlassen es wieder. Beide Einstellungen scheinen sich, wenn auch auf diametral gegengesetzte Weisen, dem Leben selbst zu überlassen. Nicht nur wird die Kamera vom Spiel der Darsteller (die meisten von ihnen Laien, wie gesagt) vergessen; auch beim Zuschauen vergisst man das Gespielte und ist selber in der Position eines Menschen in diesem Raum, der so fremd und leer oder so eng und überfüllt sein kann wie in einer Aufnahme beim Laufen durch den leeren Gang oder in der klaustrophobischen Situation in der Cafeteria. Eine solche Kamera bewertet nicht. Die tracking shots freilich erinnern nicht nur an die Altmanschen Konstruktionen eines multi character play, sondern definitiv auch an die Videospiele, denen wir später explizit begegnen, so wie die starren Einstellungen an Überwachungskameras erinnern. Zwei Arten von Bewegungsbildern also, die uns ganz alltäglich Angst machen, finden sich hier poetisch überhöht, wenn man so will. Die Kunst des Films und seiner mise en scene dabei ist es, das Menschliche durch diese „kalten“ Formen der Darstellung durchscheinen zu lassen. Ja mehr noch, es gerade als das zu zeigen, was nicht zerstört ist.

Wir sehen den Kids zu, die durch einen trostlosen Raum und absurde Zeit getrieben sind, in Einstellungen, in denen sich Kontrolle und Macht – Entfremdung ausdrücken, und die doch um ihre Individualität kämpfen. Es sind die Farben und die Zeichen, mit denen sie sich bestimmen; Figuren auf den T-Shirts und Sweatern; ein großes weißes Kreuz auf einem roten Anorak. Als gehörte einer zu den Rettern in der rettungslosen Welt. Immer wieder löst sich aus der starren Raumaufnahme eine Figur, und die Kamera folgt ihr dann wie magisch angezogen bei ihrem Gang. Manchmal ziehen sich solche Bewegungen lange hin; es entsteht eine Art Netz, ein Meta-Zeichen: zwischen Gefangenschaft und Einsamkeit, ein Sog ins Zentrum.

Nach etwa einem Viertel des Films haben sich die Bewegungen der zehn mehr oder minder exemplarischen, mehr oder minder zufällig erwählten Highschool-Kids in unserem Kopf zu einer inneren Topografie zusammengesetzt, die Wiederbegegnungen haben die Form des Netzes gezeigt; und gerade als wir hier, nicht gerade glücklich, aber „zuhause“ sind, betreten die Täter das Gebäude: Es ist exakt die Hälfte der Zeit des Films vergangen. Die Ereignisse (und Nicht-Ereignisse) laufen nicht chronologisch ab, man gelangt immer wieder an gewisse Situationen zurück, das eine mal von dieser, das andere mal von der anderen Seite. Wenn sich zwei Personen trennen, folgen wir der einen, kehren aber später zu der anderen zurück; eine Hierarchie gibt es nicht. Diese nichtlineare Erzählweise gehört zu den Elementen, die den Menschen ihre Würde gibt.

Es gibt kaum einen Film, der einen sozialen Ort und die Menschen in ihm so genau, so zärtlich ansieht. Aber Elephant ist ja die Darstellung einer Katastrophe. Der prekärste Augenblick des Films ist der, wo Eric und Alex, die Täter in dieser Katastrophe, zuhause gezeigt werden, vor dem Aufbruch zu ihrem Massenmord. Nahezu alles, was es an Erklärungsmuster für die Amok-Kids gibt, läuft hier en passant durch: das Videospiel mit dem brutalen Ego-Shooter, die Alleingelassenheit im Haus, im Fernsehen läuft ein Film über den deutschen Faschismus und wir sehen Adolf Hitler belfern; die Kids werden mit schweren tödlichen Waffen aus dem Versandhaus nach der Bestellung im Internet beliefert, nichts leichter als das, und als sie sich unter der Dusche küssen, bemerkt Alex „I never even kissed anybody before“. Tatsächlich betont der Regisseur, dass sie nicht schwul sind (und daher auch keine unterdrückten Schwulen, keine „Cyberpunk-Nazi-Homos“, wie es böswillige Kritiker meinten); ihre Berührung unter der Dusche ist ein „verzweifelter Akt“ (van Sant) vor der Tat.

Das Konzept des Films und der Einsatz der Laiendarsteller gerät hier an die Grenze seiner Belastbarkeit. Hier müssen die Jungs „spielen“, hier können sie wieder gar nicht anders, als die Medienbilder zu übernehmen. Es ist, als wäre Elephant in dieser Sequenz dann doch noch in die Falle gegangen, Erst als Eric und Alex dann wieder in der Schule sind, ist ihre Handlungsweise wieder gleich beiläufig und offen; so schrecklich das klingt, sie morden, so wie die anderen ihre alltäglichen Verrichtungen in der Schule erledigten und ihre alltäglichen Katastrophen erlebten: immer neben sich. Rätselhaft bleiben dann die Folgen. Warum ist es gerade John, der von Alex und Eric gewarnt und damit verschont wird? Und warum tötet Alex am Ende auch noch seinen Kumpel Eric? Was immer dahinter steckt, es ist ganz gewiss nicht einfach „Abrechnung“, „Hass“ oder sonst eine Art von negativer Befreiung. Gus van Sant ist der Falle von Sensationalismus, Voyeurismus und Erklärungseifer, in die er getappt ist, dann doch wieder entkommen. Am Schluss aber verlässt er so abrupt den Tatort, als müsste er uns noch einmal mit einem Schlag vor den Kopf klarmachen, dass wir selber nachdenken müssen.

Das Massaker selbst ist eine Abfolge von Bildern der Hoffnungslosigkeit, viel unbarmherziger als man es gewohnt ist, aber viel weniger schrecklich als einige der dokumentarischen Aufnahmen in Michael Moores Bowling for Columbine. Denn auch jetzt noch wird nicht das Drama begriffen, die Bewegungen in dem Ort gehen weiter, Schüler und Schülerinnen gehen hinein und kommen heraus, ein sozialer Organismus begreift nicht, was in ihm geschieht. Der afroamerikanische Schüler, der mutiger als die anderen ist und den Killern gegenübertritt, kann für den Augenblick ein Mädchen retten und wird dann, ohne dass es auch nur eine Identifikation gibt, niedergeschossen; der Fotograf in seiner Dunkelkammer ist so wenig sicher wie die anderen. Und am Ende, wie gesagt, hört das Töten nicht einmal unter den Tätern auf.

Elephant, das schon unterscheidet den Film vom Sensationalismus unseres Medienalltags, ist ein Film der Opfer. Wie schmal der Grat auch sein mag, der die einen von den anderen unterscheidet, es gibt ihn. Gibt der Film eine Lösung, eine Erklärung? Die Antwort liegt zunächst einmal in seiner Perspektive. Er behauptet weder, durch die Augen der Kids sehen zu können, noch aus einer sicheren Perspektive. Man folgt den Mädchen und Jungen an einen Ort, der selber seine Fremdheit produziert. In welchem Verhältnis stehen die Mikrostruktur der Macht zur Makrostruktur der Katastrophen? Die Kamera formuliert diese Frage in mehreren „Sprachen“. Gus van Sant gibt in Elephant nicht die Bedeutung, den Sinn, die Ursachen eines Schreckens, mit dem wir rechnen müssen, wie mit amoklaufenden Steuerzahlern, fundamentalistischen Terroristen, betrunkenen Autofahrern, vergiftetem Lebensmittel. Er gibt das Gefühl eines solchen Geschehens wieder. Und das macht aus ihm ein ganz anderes Experiment: Die Frage nach der Fähigkeit des Kinos zum Mit-Leiden.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in FREITAG