Ein Ort. Nirgends


Der Rauch der Lagerfeuer,

wenn sich die Dämmrung naht,

wölkt um die Abenteuer

am Indianerpfad.

(Günther Eich: Fährten in die Prärie)

Liest eigentlich noch jemand, jenseits von Nostalgie und Wissenschaft, Karl May? Kaum. Trotzdem rumort dieser sonderbare Traumreiseschriftsteller in den Ecken unserer populären Kultur, wenn auch vorwiegend in Medien-Metamorphosen, durch Kino, Comics, Kinderbuch, Museum und Illustration getrieben. Immer noch auf der Flucht vor sich selbst. Hugh!

Karl May, das war zunächst einmal eine gewaltige Text-Maschine. Man las das nicht, man verschlang es. Genauer gesagt: Man wurde von der Text-Maschine verschlungen, aber zur gleichen Zeit konnte man auch einer Textmaschine beim Funktionieren zusehen, übrigens auch, im Gegensatz zu einer Textmaschine à la „Harry Potter“, auch beim Dysfunktionieren. Denn man las es den großen abenteuerlichen Reiseromanen um Old Shatterhand oder Kara ben Nemsi eben auch an, dass hier etwas vollkommen Chaotisches, Widersprüchliches, vielleicht sogar ein bisschen Verbotenes in zähem Fleiß und mit vielen Rückkopplungseffekten zur Ordnung gebracht wurde.

Das liegt natürlich schon in der Textgeschichte: Als seit 1892 im Freiburger Fehsenfeld-Verlag Mays Texte in traditioneller Buchform zu erscheinen begannen, als „Karl Mays gesammelte Reiseromane“, waren sie noch größtenteils Zusammenstellungen und Varianten seiner in der katholischen Familienzeitschrift  „Deutscher Hausschatz“ erschienen Texte. Und erst langsam entwickelte sich daraus auch jene magische Biographie, die den eigentlichen Reiz seines wachsenden Werkes ausmacht, gelegentliche Brüche inklusive. Ich ist einerseits ein anderer, andererseits auch wieder nicht, und zum dritten ist Ich auch der Leser (und, hier und da, die Leserin) am imaginären oder tatsächlichen Lagerfeuer. Im seltsamen Spätwerk und in einem mehrfachen Akt der Demaskierung in der magischen Biographie, begab sich der Autor auf eine Reise durch die eigene Traumwelt, auf der Suche nach sich selbst, oder eben auf der Flucht vor sich selbst. Wie seine Leser, die beginnenden Bürger in der Bürgerwelt, die versuchten, das Chaos zu ordnen, und ein wenig davon zu bewahren.

Obwohl – da es sich ja um wenn auch gelogene Reiseberichte handelte – eine Verbindung von Text und Bild durchaus geläufig erschien (waren Reisende nicht immer auch Bilderjäger und Skizzen-Lieferanten?), hatten Illustrationen zur Mayschen Text-Maschine immer einen prekären Stand. Kolportage und was in Bücherform daraus wurde, war stets auch wilde Bilderwelt. Und es gehörte sich, dass die Bilder, bis hin in die goldenen Zeiten der Pulp Fiction, immer noch ein bisschen wilder waren als die Texte. Da ist, so versprachen die Bilder von Vulpius zu Verne, immer ganz schön was los. Da sind Körper im Spiel. Da geht es durcheinander.

Aber genau darum ging es ja bei Karl May nicht. Das Durcheinander und der Körper sollen ja gerade gebändigt werden. Und eben so sehen sich die Bilder, zum Beispiel noch in den „Illustrierten Reiseerzählungen“, auch an, nämlich so, als würden sie nicht bloß Ordnung schaffen müssen, das moralische Sinnbild aus dem Abenteuer gewinnen, sondern auch die Vorherrschaft des Textes anerkennen. Bei May sind, zunächst, die Texte wilder als die Bilder. Andrerseits: Auf Dauer sind Bilder schwerer zu bändigen als Texte.

Also stellen wir uns ein Paradoxon vor: Karl May, der sich selber lange genug mit Kara ben Nemsi verwechselt hat, erkennt irgendwann, dass seine Traumreisen tatsächlich sein Leben sind, und die Text-Maschine wechselt radikal vom linearen Abenteuer zum verschlungenen Symbolismus. Möglicherweise mögen ihm nun die Illustratoren bei seiner Traumdeutung geholfen haben, möglicherweise wussten sie mehr als der Autor.

Von der echten Reiseerzählung unterscheiden den Traumreise-Roman, dass Text und Bild nicht aus der selben Feder und nicht aus dem selben Akt der Welt-Aneignung stammen. Karl May-Illustratoren können gar nicht anders: Sie „interpretieren“ das Werk, sie lösen in gewisser Weise das fleißig Amalgamierte wieder auf, sie werden zu mehr oder weniger schönen Verrätern der Texte. Sie zeigen auf, wo das herkommt, und diejenigen, die es in direkter Zusammenarbeit mit dem Autor taten, waren im Allgemeinen schon durch ihren künstlerischen Werdegang prädestiniert. Einigen von ihnen begegnen wir nun wieder, als isolierte Beutestücke in der Auktion, endgültig losgelöst von der Textmaschine:

Peter Schnorr (1862 – 1912), der aus dem Kreis der Zeichner für „Die Gartenlaube“ kam, war ein kleiner Meister der theatralischen Konfrontation. Seine Spezialität waren eigentlich Kinder- und Märchenbücher, und die Illustrationen zu den Orient-Romanen verbinden auf besonders prächtige Art das „Dokumentarische“ mit dem Märchenhaften. Mehr noch als Karl May (der nebenbei auch ein großer Klauer war) koppelte Schnorr sein Werk an das Kunstmärchen der Art von Wilhelm Hauff. So gibt er seinen Bildern einen fast ein bisschen düsteren Sog, immer zieht es da von einem Geheimnis ins andere, und die aufklärerische Pose des Reiseromans hat dagegen keine Chance. Komm näher, sagen diese Bilder, sei verwunschen. (Und unter der Bettdecke ahnte man, die Welt sei endlos.)

Wilhelm „Willy“ Karl Paul Moralt (1884 – 1947) lieferte das Gegenbild. Er war Großneffe von Carl Spitzweg und vom Werk seines Vorfahren einigermaßen besessen. Das romantisch-biedermeierliche hatte nun natürlich seine Selbstverständlichkeit verloren, so entstand etwas so merkwürdiges wie ein manieristisches Biedermeier: Während er die traditionelle Formensprache pflegt, experimentiert Moralt mit der Leuchtkraft seiner Farben, als ginge es ihm darum, den milden Farben des Biedermeier ein neues Feuer zu geben (in späteren Jahren sah Moralts Arbeit freilich eher wie eine Kopie des Vorbilds aus). Aber nirgendwo kann man so genau sehen, dass es bei May auch um den kleinen Ort (in der endlos suggestiven Weite), um das Idyll, oder sagen wir: um die Oase geht. Orte, die von innen leuchten, Körperorte.

Willy Planck (1870 – 1956), ein begehrter Kinder- und Jugendbuch-Illustrator zu seiner Zeit, trifft sich vielleicht am ehesten mit den religiösen Verschlingungen in Karl Mays Werk. Immer wieder tauchen bei ihm biblische Verweise auf, wenn auch nicht so drastisch wie in der Kreuzigungsszene von „Mata Dolorosa“. Drastik, jedenfalls für seine Zeit und für den Anlass, bestimmt seine Bilder, und beinahe unbarmherzig bringt Planck die in der Textmaschine so gut verborgenen Impulse zum Ausdruck: die Angst, und die Beziehung der (männlichen) Bestie zum (weiblichen) Körper. Leicht „impressionistisch“ indes flirrt das Florale, der Raum bleibt stets offen und rätselhaft (aber nicht endlos). Eine Welt für verbotene Blicke.

Claus Bergen (1885 – 1964) war jenseits seiner Illustrationen als Schöpfer einigermaßen martialischer Schlachten- und Marinebilder bekannt. Seine Kontakte zur deutschen Admiralität erlaubten es ihm, bei Übungen der Flotte mit an Bord zu sein und so den militärischen wie den malerischen Blick zu schulen. Der Aufruhr der Elemente, die Dramaturgie der Natur, das Spiel von Wolken, Felsen, Feuer und Wellen, das lag ihm; mit den Menschen hatte er hier und da anatomische Probleme. Aber das ist vermutlich nicht der Hauptgrund dafür, dass er sie gerne von hinten zeigt: es geht vielleicht um den (ein bisschen wild gewordenen) Caspar David Friedrich-Blick des Menschen in die Natur, die nun freilich weniger erhaben als sinnlich und suggestiv wird. Der männliche Körper, kontemplativ oder heroisch, versucht dieses Bild zu bändigen, doch selbst Mauern (von allem Berg und Tal zu schweigen) reichen stets ins Unermessliche. Spalten, Fenster, Gräben und Löcher verheißen nichts Gutes.

Nimmt man diese Illustratoren als Hilfe zur „Lektüre“ des Mayschen Werkes, so lässt es sich wohl trefflich „dekonstruieren“ in Biedermeier und Schlachtentraum, Idylle und Symbol, Suggestion und Ordnung, Körper und Blick usw. Jeder dieser Maler und Zeichner scheint einen besonderen Affekt (und, wenn man’s denn so will, einen besonderen Aspekt der Neurose) herauszustellen. Doch so verräterisch das eine oder das andere Bild dabei auch sein mag: Die Ordnung der Textmaschine wird nicht in Frage gestellt. Dafür sorgten auch Autor und Verleger, indem sie von den Illustratoren eine penible Texttreue verlangten: Wenn Indianer mit Gewehren beschrieben wurden, dann durften keine Indianer mit Lanzen abgebildet werden. Und natürlich wurde auch die vollkommene Auflösung der rationalistischen Reiseerzählung in die Drastik der Körper-Träume verhindert. Karl May durfte sich von seinen Illustratoren ebenso beschützt wie gelesen fühlen.

Aber da war ein anderer, mit dem den Autor eine persönliche Freundschaft verband: Sascha Schneider (1870 – 1927) las Karl Mays Werke ganz im Geiste des Symbolismus als Dialog von Körper und Licht. Und er las sie queer. So wenig seine Bilder verbergen, dass es um den begehrenden und vor allem den begehrten Männerkörper ging, so wenig verbarg der Künstler vor seinem Freund und Auftraggeber seine Homosexualität. Doch der Verleger, Friedrich Ernst Fehsenfeld, erkannte schnell, dass man sich da, mit den lichtbrünstigen nackten Athleten-Gestalten, den faszinierend-dunklen Schurken-Portraits und der definitiv „phallischen“ Organisation der Bildkompositionen womöglich ein „Sittenproblem“ eingehandelt hatte, und verbannte den Schneider-May-Diskurs in „Liebhabermappen“. Ein Karl May maudit also war da entstanden, der heute weniger wegen seiner schwulen Ästhetik als vielmehr wegen einer etwas krausen Verwandtschaft mit der Bildwelt des Faschismus irritiert, gleichgültig, ob man in Schneider nun den einzigen genuinen Künstler als May-Illustrator ansehen mag oder nicht. Schneiders Skulptur „Badende Knaben“ für das Albertinum in Dresden wurde 1912 wegen „Aufreizung zur widernatürlichen Unzucht“ abgelehnt, seine May-Illustrationen durften in der allgemeinen Rezeption keine Rolle spielen. Und doch ist da eine Übereinstimmung, die weit über das bildliche Enttarnen eines im Text verborgenen homosexuellen Begehrens hinaus geht. Bild und Text verbünden sich zur Erfindung eines idealen Körpers. Jenes Körpers, der nicht mehr fliehen müsste, der zuhause wäre in der Welt, dem Suggestion und Sünde nichts anhaben könnten. Eros und Todestrieb.

Wir wollten’s dann doch lieber wieder dynamischer. Und so setzte sich die Historie der Karl May-Illustratoren nach dem Tod des Autors fort. Pferdeliebhaber und -maler, Illustratoren von „Mädchenbüchern“, moderne Aquarellisten mit Vorliebe für giftige Farben, Kenner amerikanischer Western, Comiczeichner arbeiteten an der Textmaschine May. Mal wollte man modernisieren, mal retrofizieren, mal genau sein, und mal verträumt. Meistens blieb die Textmaschine unversehrt; Text und Bild gaben dafür ihre enge Bindung auf. Winnetou wurde metrosexuell. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Text: Georg Seeßlen

Text erschienen in ZEIT

Bild oben: Karl May und Sascha Schneider, 1904 | gemeinfrei