GIUDA BALLERINO! (*)

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Es ist vergleichsweise leicht, der grafischen Erzählmaschine „Dylan Dog“ zu verfallen, jener italienischen Comic-Serie, die gerade die Nummer 300 der regulären Serie erreicht und es mit Nebenprojekten und Einzelveröffentlichungen wohl bislang auf rund 500 abgeschlossene grafische Erzählungen gebracht hat. Seit 1986 erzählt sie monatlich auf 96 in der Regel schwarz/weißen Seiten Geschichten von einem „Detektiv des Unheimlichen“, stimmungsvoll, detailverliebt, so randvoll mit Hypertext, dass man ein paar dutzend Seminare über literarische, filmische und kunsthistorische Nebenlinien füllen könnte, ein bisschen sophisticated einerseits, und dann wieder anrührend naiv. Merkwürdigerweise verliert die „Dylan Dog“-Serie erheblich von ihrem Reiz, sobald man versucht, mit ihr den mediterranen Raum zu verlassen. (**) (Dabei spielt das ganze in einem London, wie es sich nur Leute ausdenken können, die in Rom, Mailand oder Genua leben, komplett mit den cups of tea, Trenchcoats und natürlich Doppeldeckern, London Bridge und älteren Damen, die wie von Agatha Christie erfunden erscheinen, oder ihr selber ähneln.) Und auch die Übertragung in andere Medien, das Computerspiel und den Kinofilm etwa, wollte nie recht gelingen. Selten basiert ein Erfolg auf einer solchen Einheit von Hintergrund, Form und Material – sogar die Lesezeit, die ein „Dylan Dog“-Album benötigt, perfekt für eine Fahrt von Zuhause ins Büro, in die Schule oder zur Uni, oder für einen schläfrigen Nachmittag, gehört zum soziokulturellen Gesamtkunstwerk. Was der giallo, der heftige Thriller-Krimi, in den siebziger Jahren war, was die „fumetti neri“, die Gewalt- und Horrorstrips, in denen endlich das Böse siegen durfte, in den Achtzigern waren, das ist „Dylan Dog“ für die neunziger Jahre und darüber hinaus: Eine sehr italienische Reaktion auf die Kurzschlüsse von Angst und Begehren in den Modernisierungskrisen. Es ist Mystery noir, gewiss, und es kommt das Italienische immer nur indirekt vor (etwa in den kulinarischen Vorlieben des Helden), aber zur gleichen Zeit ist „Dylan Dog“ ein erzkatholisches Schauermärchen um Beichten, Martyrium, Erlösung und Höllenqual. Und Familie.

„Dylan Dog“ ist eine „Erzählmaschine“, für die sehr unterschiedliche Autoren und Zeichner arbeiten. Und doch ist es zugleich Schöpfung eines unverkennbaren Autors, Tiziano Sclavi, eine Gestalt, die selber durchaus bizarre Züge aufweist. Sclavi lebt zurückgezogen in einem einsamen Haus im Wald, will sich weder gern fotografieren noch interviewen lassen, und allenfalls in den Karikaturen seiner Zeichner-Freunde können wir uns ein Bild von einem leicht korpulenten, offensichtlich stets schlecht gelaunten und misstrauischen Mann machen, der in seinen „Dylan Dog“ erhebliches autobiographisches Material gepackt hat. Beide sind Ex-Alkoholkranke, beide versuchen, zugleich ihr „Privatleben“ zu kappen und müssen es doch unentwegt als Alptraum verarbeiten, in schlaflosen Nächten. Sclavi, soviel dürfen wir immerhin erfahren, befindet sich seit zwanzig Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. Beide begegnen jeder Neuerung mit höchstem Misstrauen und benutzen ungern irgendeine Technologie, die jünger ist als fünfzig, sechzig Jahre. Aber was wahrscheinlich von größerer Bedeutung ist: Beide sind hinter der Maske der romantischen Melancholie verkappte, so illusionslose wie unerschütterliche Moralisten, und jede Dylan Dog-Geschichte ist zugleich eine Art Psychotrip und eine moralische Fabel. Trotz seiner offenkundigen Exzentrik und Menschenscheue hat Sclavi wie nur wenige sonst die Szene der italienischen fumetti geprägt, als Redakteur von Magazinen wie Corriere dei Piccoli wie als Autor klassischer Serien wie „Mister No“ und „Ken Parker“, einem der „erwachsensten“ Western der Comic-Geschichte. Daneben hat er Science Fiction- und Kriminalromane verfasst, auch einen um „Dellamore Delalmorte“, der als „Cemetry Man“ verfilmt wurde. Wie der Film bei Dario Argento, zum Beispiel, ist „Dylan Dog“ ursprünglich bei Tiziano Sclavi zugleich Versuch der Selbsttherapie und Ausdruck seines Zornes auf die Menschen im allgemeinen, und die zeitgenössische Gesellschaft im besonderen. Er und sein Held sehen sich um und sehen nichts anderes als Wahnsinn, Verbrechen und Grausamkeit. Die Welt ist von Dämonen durchsetzt, und der Held muss sie weniger „vernichten“, wie es seine amerikanischen Kollegen tun, als ihnen eher einen Weg zurück weisen; er treibt die Dämonen nicht aus, bei solchen Mengen wäre das auch einigermaßen aussichtslos, er weist eher Menschen und Geistern ihre Plätze zu. Dylans Versuche, die Werwölfe, Mumien, Serienmörder und Zombies einigermaßen zu bändigen ist zugleich der Versuch, ein wenig Ordnung im eigenen Kopf zu schaffen. „Dylan Dog“ ist die kultivierteste Form, sich einen paranoiden Schub zu gönnen, am Strand oder im Bus. Und einer Sehnsucht nach Reinigung und Schönheit nachzugeben. Vielleicht hilft eine der kleineren Sclavi-Geschichten um Dylan Dog, den Detektiv des Übersinnlichen, zu verstehen, worum es geht. Sie heißt „Der Alptraum des Detektivs“ und handelt von einem solchen, in dem sich Dylan morgens von einem Wecker wecken lässt, sich wäscht, anzieht, eine Krawatte anlegt, wie andere geweckte, gewaschene, Krawatte tragende junge Männer einem Bürohochhaus zustrebt, dort an einem Bürotisch mit Computerbildschirm Platz nimmt – und glücklicherweise erwacht, inmitten seiner gewohnten Zombies und Monster: Gottseidank, einen Augenblick lang habe ich schon gedacht, DAS wäre die Wirklichkeit. Und tatsächlich: Was sind Geisterpiraten, Untote und Killerpuppen gegen einen Bürotag mit Kollegen, Programmen und Formularen?

Die zunehmende Schrulligkeit von Tiziano Sclavi, sein gelegentliches Verschwinden von der Bildfläche, seine ständigen Selbstzweifel und seine schroffen Umgangsformen hätten ihn wahrscheinlich in anderen Teilen des Pop-Universums zum Scheitern verurteilt. Aber er fand eine  Heimat im Verlag Sergio Bonelli, einem Unternehmen, das eine erstaunliche Lücke zwischen Comics als Kunstform und Comics als Massenprodukt gefunden hat (und dies unter anderem erreichte, indem man eine „familiäre“ Beziehung zwischen den Zeichnern und Autoren, aber auch zwischen Produzenten und Konsumenten entwickelte). Ausgehend vom Erfolg der vermutlich nachhaltigsten Western-Serie der Welt, „Tex“, entwickelte man hier Serien in der stets gleichen Grundform, die 96 schwarz/weiß-Seiten in einem Taschenbuch/Album-Format um Helden, die gerne Macken, Neurosen und biographische Sprünge aufweisen, der Agent „Mr. No“, der Typ mit der Steinaxt, „Zagor“, die Kriminalistin „Julia“, die wie Audrey Hepburn aussieht, „Martin Mystère“ oder „Nathan Never“. Die Bonelli-Bücher, 2 Euro 70 kosten sie derzeit immerhin, sind immer noch ein bedeutender Teil der italienischen Comic-Kultur, und nicht nur durch die Verbindung von Massentauglichkeit und Qualität. Beides übrigens durchaus schwankend: regelmäßig wird der Verlag auch ökonomisch abgestraft, wenn man sich zu sehr aufs Experimentieren verlegt, regelmäßig kehrt er dann zur Konzentration auf die „Klassiker“ zurück. Bonelli-Comics sind eine der wenigen verlässlichen Konstanten im Leben eines italienischen Menschen; man kann sich weder auf die Kirche noch auf die Kommunisten mehr verlassen, Fernsehen sollte man gar nicht erst anmachen, aber auf  Zagor, Tex und eben Dylan Dog ist Verlass. Sind Bonelli-Comics „politisch“? Sie enthalten Politik ein wenig so, wie sie „Kultur“ enthalten, in Form eines offenen Archivs der Bilder, in dem auch die Erinnerung an den Faschismus, an 9/11 und, bei näherem Hinsehen, auch an die Spaltung des Landes Italien durch den Berlusconismus bewahrt bleibt. Die Trostlosigkeit der realen Verhältnisse wird nicht geleugnet. Immer wieder erscheinen in den Bonelli-Comics die Opfer der ökonomisierten Politik: Opfer von Organ- und Menschenhandel, verstörte Kinder aus dem Krieg, gescheiterte Existenzen, Flüchtende und Entwurzelte. Zur gleichen Zeit werden die heilen Bilder aus der Werbung, aus Hollywood-Filmen und vom Fernsehen gebührend dekonstruiert. Es fehlt immer nur wenig, um zu erkennen, dass die Bilder der funktionierenden Gesellschaft Maskeraden sind. Man steht der eigenen Gesellschaft weniger „kritisch“ als entsetzt gegenüber. Und man geht auf hemmungslose Freibeuterzüge durch Kunst, Philosophie, Literatur und Kino. In Bonelli-Comics im Allgemeinen und in „Dylan Dog“ insbesondere werden Bildung und Wissen mit den Mitteln der Pop-Kultur angeeignet und frivol, aber immer voller Zärtlichkeit und Respekt, aufbereitet.

 

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„Ich könnte“, hat Umberto Eco einmal gesagt, „die Bibel, Homer und ‚Dylan Dog’ Tag um Tag lesen“. Damit beschreibt er einerseits die eigentümlich Wirkung dieser Comic-Serie, kommerziellen Erfolg und intellektuellen Zuspruch (zumindest im italienischen Ursprungsland) zu vereinen. Neben Homer und Dante Alighieri wäre „Dylan Dog“ auch das, was Eco einer der üblichen Umfragen zufolge mit auf die übliche einsame Insel nehmen würde. Man kann eben eine ganz hübsche Zeit damit verbringen ohne sich zu langweilen.

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In den besten „Dylan Dog“-Alben steckt

im Horror die Tragödie der radikalen Entfremdung.

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Andrerseits haben die verknüpften Erzählformen des großen Epos, der heiligen Schrift und der Comic-Serie tatsächlich etwas miteinander gemeinsam. Es ist ein „episches“ Erzählen; ein selbstreferentielles Mäandern durch Phantasmen und Phantasien. Es gibt zentrale Motive und beinahe autonome Abschweifungen, eine episodisch verlinkte Struktur, zyklische Fortentwicklung der plots und subplots, narrative Elemente und Systeme, die nie vollständig miteinander kongruent sind oder die Ablagerung der Sub-Erzählungen um einen mythischen Kern. Dabei entstehen auch die unterschiedlichsten Lesarten, und aus der architektonischen Selbstreferenz des gewaltigen Textes entsteht zugleich auch ein wunderbares Durcheinander von Widersprüchen. Man kann so etwas wohl eine „Erzählmaschine“ nennen, eine Sache, an der sehr viel mehr beteiligt ist als am Handwerk von Schreiben und Lesen. Episch wäre dabei eine Erzählung zu nennen, die neben der Heldenreise und der Problemlösung, der Pointen und Happy Endings, der Drei-Akt-Schemen der plots, der Liebesgeschichte und der magischen Biographie immer noch dazu ein größeres Ganzes meint, eine Erzählung, die eine Welt generiert, in der wiederum die klassischen Fragen gestellt werden können: Wo kommen wir her? Wer sind wir? Und wo geht das hin mit uns? Und wo „Harry Potter“ ein wenn auch umfängliches so doch geschlossenes Erzählmaschinen-Epos darstellt, so ist „Dylan Dog“ ein offenes. Es geht nicht um die Metaphysik als solche (wie in anderen heiligen Texten), sondern um Menschen aus Fleisch und Blut, denen die Begegnung mit dem Übersinnlichen Zeichen und Praxen vermittelt, ohne ihre Menschlichkeit damit in Frage zu stellen. Vom „Odysseus“, der Bibel, der „Göttlichen Komödie“ und „Dylan Dog“ ließe sich das Phantastische zwar nicht einfach wegnehmen, aber man hat recht schnell durchschaut, dass es kein Erzählziel ist, sondern ein Spiegel. Es geht im Wesentlichen um die Neugier des Menschen, der erkennen will, was dahinter liegt, auch wenn es ein Blick in die Hölle ist, oder ein Durchqueren der Höllenkreise. Kommt man dem System näher, erweist es sich als Chaos, kommt man dem Chaos näher, erweist es sich als System. Dieses Nietzschesche In-den-Abgrund-Schauen, bei dem der Abgrund zurückschaut, weitet sich zu einem Spiegelsaal aus. Das alles wäre der übliche Angriff der Bildungshuberei auf die Popkultur, wenn die Texter und Zeichner von „Dylan Dog“ sich dessen nicht so bewusst wären und es so trickreich einsetzten. Ganz anders als eine Erzählmaschine wie, sagen wir „Perry Rhodan“, wird die von „Dylan Dog“ nicht einfach der jeweiligen neuesten Stimmung in der Pop-Kultur angepasst, sondern entwickelt sich in einem manchmal durchaus vertrackten Eigenleben immer weiter in die eigene Tiefe. Es ist die angewandte Postmoderne in der grafischen Erzählung. Ganz folgerichtig wird in Nummer 300, „Ritratto di Famiglia“, nicht nur in der familiären Vorgeschichte des Helden gegraben, sondern auch eine Erzählebene um den Zeichner des Albums selbst eingefügt, ineinander verschachtelte Alptraumreisen, die frontal angreifen, was Theodor W. Adorno den „Wahn der Aufklärung“ nannte. Die Welt ist nicht vernünftig. Gut ist sie sowieso fast kein bisschen, besonders schön auch nicht, aber dafür endlos suggestiv, grotesk und verführerisch. Und so wenig man frei sein kann in dieser Welt, so wenig beliebig (wie in den üblichen Fantasy-Welten) ist das, was in „Dylan Dog“ geschieht. Denn es geschieht einerseits in der reichlich kaputten Seele eines hoffnungslosen Romantikers, der über ein paar traumatische Erlebnisse – wie dem Verlust der Geliebten, der IRA-Aktivistin Lilly Connolly – nie hinweg gekommen ist, und der sich als trockener Alkoholiker an zweifellos neurotische Lebensrituale klammert. Andererseits sind Dylan Dogs Alpträume sehr genaue Abbildungen urbaner wie ruraler Ängste: Die Dämonen, Zombies, Geister, Serienkiller, Kettensägenmörder, Freaks und Vampire sind hier nichts anderes als mehr oder weniger präzise Darstellungen dessen, was am Umgang der Menschen miteinander, hier und jetzt, nicht stimmt. Erzählen Sie mir von einer zeitgenössischen Phobie, und ich sagen Ihnen, in welcher „Dylan Dog“-Nummer sie behandelt wird.

Dylan ist, anders als die Repräsentanten des gothischen Horror oder des abstrakten Torture Porn vor allem durchaus ein Zeitgenosse, wenn auch in einer Art der selbstgewählten Isolation. Bestimmten Dingen verweigert er sich radikal, zum Beispiel misstraut er prinzipiell dem Gebrauch von Kreditkarten und anderen elektronischen Segnungen; er ist ein analoger Charakter in einer digitalen Welt, und, natürlich, ein Romantiker in einer materiellen Welt. Bei „Dylan Dog“ hat man meistens Mitleid mit den Geistern, in aller Regel handelt es sich um unerlöste Tote, alte Schuld, die sich ein Bild sucht, Leichen im Keller der Familienromane, ebenso Gespenster der Korruption, der Mafia, der Ökonomie. Dylan Dog ist unser Held, der die Welt nicht verloren geben will, obwohl er selber nie weiß, ob er Teil des Alptraums oder seiner Erklärung ist.

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Die Hauptserie bietet in Gestaltung und Plot einigermaßen verlässliche Wiederkehr der gleichen Elemente mit einem großen Vergnügen daran, sie geringfügig zu verändern oder voran zu treiben. Die Bilder folgen einer eher ruhigen Anordnung der Panels, die Geschichte wird bedächtig entwickelt. Immer wieder gibt es lange Dialog-Passagen, aber auch Sequenzen, in denen nicht gesprochen wird und auch (fast) nichts geschieht, um die Stimmungen und die Orte. Berühmte Eingangssequenzen ohne Worte (wie in „Johnny Freak“, einer der Klassiker der Serie), dazu Rückblenden oder „foreshadowing“, und immer wieder spielt das Geschehen mit der eigenen Bildsprache, indem es Bilder in Bildern erscheinen lässt.

Schockelemente und auch hier und da ein bisschen Sex kommen vor, aber im Großen und Ganzen geht es doch um den mehr subtilen Horror. Und wie in der Bibel, bei Homer oder Dante gibt es auch hier Belohnungen für ein sorgfältigeres Lesen, einen Text unter dem Text unter dem Text, der sich scheinbar selbst entwickelt; der Text als sich selbst generierendes lebendes System. Und es geht immer nicht allein um Horror, sondern auch Melodrama, Thriller und nicht zuletzt Komödie.

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Ein erzkatholisches Schauermärchen um

Beichten, Martyrium, Erlösung, Höllenqual und Familie.

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Auch der Aufbau der einzelnen Geschichten ist nach einiger Lektüre so vertraut wie er neugierig auf die Variationen macht. Es beginnt mit einem Mord, einem Verschwinden, einer seltsamen Erscheinung. Jemand bittet den „Detectivo dell’incubo“ um seine investigative Arbeit. Oft handelt es sich dabei um eine attraktive junge Frau, mit der Dylan eine vorhersehbar tragisch endende Liebesgeschichte erlebt. Dylan selbst ist zunächst einmal höchst skeptisch; er ist keineswegs so besessen vom Übersinnlichen wie Moulder und Scully von „X-Files“. Früher oder später offenbart sich Dylans eigene Verwicklung in den Spuk; er muss nicht die Dämonen bezwingen, er muss herausfinden, welche Rolle sie in welchen Familiengeschichten und Machtverhältnissen sie spielen. Oft ist sein Job erfüllt, wenn er eine Form der Versöhnung mit den Geistern erreicht.

Übrigens hat auch Dylan Dog eine eigenartige Familiengeschichte. Vielleicht „existiert“ er ja gar nicht im klassischen Sinne sondern ist eine Reinkarnation, selber ein Gespenst, das auf seine Erlösung wartet, und sein Vater teilt sich, das kennen wir, in eine helle und eine dunkle Seite, was einmal mehr bei Dylan Dog als weniger manichäisch und komplexreduziert erscheint als anderswo. In den regelmäßigen „Rückblende“-Geschichten erfuhren wir zum Beispiel, dass Dylan einmal eine Liebesgeschichte mit einer Frau erlebt, die eigentlich seine Mutter ist, und schon im ersten Album begegnet er dem Mann, der eigentlich sein Vater ist („eigentlich“, weil es schwer ist, den Realitäts-Status dieser dunklen Charaktere, die einst auf einer Galeone übers Meer segelten, zu bestimmen).

Nach seinem Rausschmiss bei Scotland Yard führt Dylan ein eher bescheidenes Leben als Privatdetektiv (in der Craven Road 7 – die Adresse existiert tatsächlich und wurde zum Pilgerort der Dylan Dog-Fans) mit der Spezialität des Übersinnlichen. Er hat das immer gleiche Outfit, rotes Hemd mit hohem Kragen (so ist es auf den farbigen Titelbildern zu sehen), dunkles Jackett und Blue Jeans. E hat genau 12 Outfits der selben Art; es ist die Kleidung, die er trug als er Lillie Connolly verlor. Er fährt einen alten VW-Cabrio-Käfer mit der Nummer DYD 666. Wenn er zuhause ist, entspannt er sich mit dem Klarinettenspielen und der Arbeit an einer Modell-Galeone, die immer wieder eine Rolle in seinen Erlebnissen spielt und die ihm ein geheimnisvoller Antiquar zuspielte: einer, der unentwegt am Modell seines Familienfluchs arbeitet. Er hat einen Diener/Assistenten, der Groucho heißt und auch so aussieht und eine Vorliebe für sarkastische Sprüche (gern auch zur Unzeit) hat, den er nur schlecht oder gar nicht bezahlen kann und den er bei seinem allerersten Fall, einem Speicher-Spuk, buchstäblich aus einer Kiste zog. Merkwürdigerweise hat Groucho, obschon er im allgemeinen nur die Aufgabe zu haben scheint, ein wenig comic relief beizusteuern, die sonderbare Fähigkeit in Augenblicken höchster Gefahr bei seinem „capo“ aufzutauchen und ihm seinen alten Revolver zuzuwerfen, und in den Tiefen der Backstory ist er es, der Dylan von der Flasche und zur Eröffnung des Detektivbüros bringt, denn die Erzählmaschine verarbeitet im Dylan Dog-Kosmos unentwegt die Frage, wer eigentlich wen „macht“ – und wer, möglicherweise wen „träumt“. Ansonsten ist Dylans einziger verlässlicher – wenn auch schlecht gelaunter – Verbündeter der massige Inspector Bloch von Scotland Yard, auch er schmerzlich und familiär mit der Geschichte des Helden verbunden. Zu den Figuren, die immer wieder auftauchen gehören ein zotteliger Hund, ein gewisser H.G. Wells und der Tod höchstpersönlich. Aber auch die Objekte, wie der alte Revolver, die Türklingel, der Sessel, in dem Dylan den Geschichten der Klienten lauscht, die Hände nach Psychologen-Art gegeneinander gehalten, sind Elemente von Wiederkehr und Variation. „Dylan Dog“ ist, natürlich, auch eine Schule des Sehens.

 

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Ein großer Reiz geht von der Zitierlust der Serie aus, einerseits werden große Roman- oder Filmklassiker als Vorbilder benutzt, andrerseits übernehmen einzelne Panels direkt Filmeinstellungen, und überdies werden immer wieder Nebenfiguren nach Filmstars gezeichnet. Dylan selber trägt (von Zeichner zu Zeichner unterschiedlich ausgeprägt) die Züge des Schauspielers Rupert Everett (der in „Cemetery Man“ seinerseits wiederum die Hauptrolle übernahm); Inspector Bloch ist nach Robert Morley gestaltet; ansonsten hatten Dutzende von lebenden und toten Hollywood-Stars ihren Auftritt in „Dylan Dog“. Die größten Probleme für den angelsächsischen Bereich bereitete die Figur von Dylans Diener Groucho: Die Erben des „echten“ Groucho Marx untersagten das Zitat, so dass man bei englischsprachigen Ausgaben Haare und Schnurrbart des Charakters retuschieren und ihm den nichtssagenden Namen „Felix“ verpassen musste. (Im neuen „Dylan Dog“-Film wurde ein gänzlich neu erfundener side kick eingesetzt, was wahrlich nicht hilft, das Ergebnis der Übertragung erfreulicher zu machen.)

„Dylan Dog“ handelt davon, dass der Alltag von Geistern durchsetzt ist, beinahe selbstverständlich (wie in asiatischen Gespensterfilmen), und in aller Regel erscheinen die lebenden Menschen schlimmer als die toten. In den besten „Dylan Dog“-Alben steckt im Horror die Tragödie der radikalen Entfremdung; der grauenhafte Verfall der Körper wird da immer in Beziehung gesetzt zum Fluss von Macht, Junk, Geld und Ruhm.

Wenn man für „Monster“ einfach „Zeichen“ setzt, dann versucht Dylan Dog die Welt noch einmal zu „lesen“, nach einer offensichtlich stattgefundenen semiotischen und kulturellen Katastrophe. Und dabei will er natürlich sich selber lesen, so wie es sein Schöpfer, Tiziano Sclavi in einer hübschen Variation des „Madame Bovary, c’est moi“ sagt: „Die Monster, das bin ich“.

 Georg Seeßlen, konkret 10/2011

Bilder: Dylan Dog – Dead of Night, USA 2010 © Studiocanal


* Giuda Ballerino! Ist der stets wiederkehrende Ausdruck von Überraschung oder Wut von Dylan Dog. Einen sprachlichen Sinn hat dieser Fluch nicht, wohl aber eine Geschichte. In den fünfziger und sechziger Jahren waren „echte“ Flüche in italienischen Comics streng verboten, selbst so harmlose wie „accidenti“. So pflegte man seinen Helden, in Anlehnung an eine Technik, die Hergé bei „Tintin“ eingeführt hatte, charakteristische Pseudo-Flüche per Sprechblase in den Mund zu legen. Den Hinweis darauf dass es sich dabei in diesem Fall freilich nicht um eine reine Nonsense-Formulierung, sondern eine Abwandlung des geläufigen „Judas-Fluches, also „Tanzender Judas“, handelt, verdanke ich einem aufmerksamen konkret-Leser. Danke.

** Im Jahr 2001 brachte der Carlsen Verlag eine deutschsprachige Edition heraus, die indes nach 20 Folgen mangels Verkauf wieder eingestellt wurde. Seitdem führt der engagierte kleine Verlag „Edition Schwarzer Klecks“ die Serie mit etwa einem halben Dutzend Bänden pro Jahr fort.