Der Affe der reichen Leute
Fritz J. Raddatz, die Feuilletonisten-Legende, beweint sich in seinen „Tagebüchern 1982-2001“

Am 1. Juni 2000 ist Frank Schirrmacher nach Kampen auf Sylt gereist. Der FAZ-Herausgeber besucht Fritz J. Raddatz, den berühmtesten Feuilletonisten der Republik, in seiner Ferienwohnung auf der Prominenten-Insel in der Nordsee. Der Frankfurter Journalist wühlt sich durch zwei Leitzordner, die die Tagebücher von Raddatz bergen und lässt sich zu einem folgenschweren Satz hinreißen. Glaubt man diesem gerade veröffentlichten Konvolut, dann sagt Schirrmacher, von Raddatz während der Sichtungsaktion als „hungriger Wolf“ charakterisiert: „Das ist der bundesdeutsche Gesellschaftsroman, der nie geschrieben wurde“.

Wenn es denn mal so wäre. Gewiss war und ist Raddatz, der 1980 wegen eines peinlichen Fehlers – er hatte Goethe ein manipuliertes Zitat über den Frankfurter Hauptbahnhof zugeschrieben – seinen Posten als umjubelter Feuilleton-Chef der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit räumen musste, eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur wegen seines überragenden Intellekts, seiner Belesenheit, seiner Lust am Streit, seiner glänzenden Essays und seiner funkelnden Leitartikel. Sondern vor allem, weil der Mann, Jahrgang 1931, buchstäblich jede deutsche Geistesgröße nach Bert Brecht persönlich kannte: Von Kurt Tucholsky, dessen Nachlassverwalter er war, bis zu Günter Grass, dem Freund, mit dem er sich oft stritt. Doch das Kunstwerk, als das Frank Schirrmacher es überschwänglich lobte – der von sich behauptete, durch Raddatz‘ Publizistik „sozialisiert“ worden zu sein – ist das Buch nicht geworden. Auch wenn der geschäftstüchtige Raddatz dafür gesorgt hat, dass das in einer privaten Unterhaltung gefallene Wort nun als Verkaufswerbung auf dem Umschlag prangt. Warum?

Von einem „Gesellschaftsroman“ würde man nämlich erwarten, dass er die Gesellschaft auch abbildet, in der er spielt. Doch das ist das hervorstechendste Kennzeichen dieses durchaus besonderen Lebens: Die Perspektive von oben, das Exklusive, das Elitäre. Raddatz notiert quasi jeden Anruf von Rolf Hochhuth. Und jede Begegnung mit Günter Grass. Das Namensregister dieses Buches, eine Enzyklopädie der Weltkultur, füllt allein fast dreißig Seiten. Durch alle 19 Jahre dieser Tagebücher schwebt wie ein roter Faden eine Frau namens „Die Mondäne“. Mit diesem Pseudonym verklärt Raddatz seine enge Freundin, die Düsseldorfer Millionärin Gabriele Henkel zu einem debilen Engel. Doch seine Haushälterin, die ihm in seiner Wohnung den Rücken für die teuren Ausritte in die Welt der Kultur, des Geistes und der Prominenz rund um den Globus frei hält, kommt auf diesen knapp 1.000 Seiten nur ein einziges Mal vor. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit nicht einmal ihren Namen, nur, dass sie weiße Haare hatte.

Der Spesenritter Raddatz fährt und wohnt immer Erste Klasse, ernährt sich von Champagner, Bordeaux und Kaviar, rast im offenen Porsche durch die Pyrenäen. Und frühstückt morgens im Wintergarten seiner Hamburger Wohnung von einer Tischdecke aus weißer Seide unter einem Orchideenbaum zu Mozartmusik. Raddatz beschwert sich über „Pseudorealismus“ in der Kunst. Die „echte“ soziale Realität kommt diesem Edel-Prekarier allerdings selten vor das Genießer-Auge. Eines Morgens etwa, als ein Obdachloser ihm den Weg versperrt, als er den 12-Zylinder-Jaguar (wie er stolz vermerkt) aus der Garage lenken will. Man sieht schon: Ein wirklicher Gesellschaftsroman ist das nicht. Viel eher ergeben diese Notizen ein – durchaus aufschlussreiches – Sittenbild des (west-)deutschen Kulturbetriebs. Oder, noch genauer, der Verkommenheit seiner „happy few“: „Sie können nicht mehr lieben, sie drehen sich um sich selber“ notiert er im September 1987, als die Absagen zu dem Fest zum 60.Geburtstag von Günter Grass eintrudeln, das er vorbereitet.

Der Niedergang dieser Elite wird in diesen Notizen überdeutlich. Gemessen an den Tagebüchern Theodor Fontanes, dem er Banalitäten wie „zu Bett gegangen“ ankreidet, muss man Raddatz‘ Kladde durchaus gehobene Zeitgenossenschaft und (selbst-)kritische Reflexionsfähigkeit bescheinigen. Natürlich bedient er aber auch ausgiebig das Bedürfnis der Leser nach intimen Insidereinblicken und dem Suchtstoff Klatsch. Wir erleben den Niedergang Rudolf Augsteins von einer „enormen Begabung“ zu einem „stets betrunkenen Hühnchen“, dessen Anblick am Ende selbst seine beiden Kinder Franziska und Jakob schreckt. Von der akrobatischen Liebesnacht des bekennenden Homosexuellen mit Rudolf Nurejew hatten wir schon 2003 erfahren, als Raddatz diese Tagebücher schon einmal zu „Lebenserinnerungen“ unter dem Titel „Unruhestifter“ zusammenschrieb. Und alle Schuldigen an seinem – natürlich völlig unverdienten – Sturz vom Feuilletonisten-Thron bekommen mehrmals ihr Fett ab: Marion Dönhoff, die Hamburger Journalistenlegende, schmäht Raddatz als „Inge Meysel des Journalismus“, Helmut Schmidt, Theo Sommer und Zeit-Gründer Gert Bucerius sind nicht viel mehr als spießbürgerliche Wichte mit „dürren Preußen-Ärschen“. Das mag alles so gewesen und immer noch sein, hat in dem idiosynkratischen Furor, in dem er es hier vorträgt, aber auch etwas von nachgetragener Rachsucht.

Nur einer steht inmitten dieser Wüste der Mediokrität aufrecht und groß: Fritz J. Raddatz, der Hüter der Kultur. Natürlich nur der Hochkultur. Nichts dagegen, dass Raddatz eben von der Klassischen Moderne europäischer Prägung „sozialisiert“ ist, um mit Frank Schirrmacher zu sprechen. Und auf dem Weg nach Sylt im Porsche Rachmaninoff hört. Die Verehrung dieser Klassiker hat zwar nichts kunstreligiöses. Dass Raddatz seine Aufgabe als Kritiker nicht mit der des Apologeten oder des Fans verwechselt, kann man am Beispiel Marcel Proust sehen. Dessen „Schmuck-Prosa“ er kühl „parfümierte Passagen“ attestiert. Dem engen Freund Grass schreibt er ins Stammbuch, dass ihm sein Hang zum politischen Leitartikel „das Existentielle“ versehrt habe, das Raddatz immer noch als den Kern jeder Kunst ausmacht. Und sich selbst begegnet er durchaus mit Selbstironie, wenn er einmal zweifelt, ob der rastlose Kultur- und Partygänger im Grunde nicht nur ein „Pausenclown“ und „Affe der reichen Leute“ war.

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Und sich selbst begegnet er durchaus mit Selbstironie,

wenn er einmal zweifelt, ob der rastlose Kultur- und Partygänger im Grunde

nicht nur ein „Pausenclown“ und „Affe der reichen Leute“ war.

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Aber darf man es sich als Feuilletonist leisten, so sträflich wenig neugierig auf zeitgenössische Kunst zu sein, wie Raddatz? Autoren wie Rainald Goetz oder Elfriede Jelinek bucht Raddatz arrogant unter „Plateau statt Niveau“ ab. Den „kleinen Popsänger Michael Jackson“, den er in Hamburg im Hotel absteigen sieht, winkt er als „ungeheure teure Ware“ ab. Aber war der verehrte Thomas Mann, der sich die Honorare für ostdeutsche und sowjetische Ausgaben vom russischen Botschafter in Zürich in bar auszahlen ließ, wie Raddatz geniert notiert, so anders? Es sei auch die Frage erlaubt, was good old raddatz für seine Memoiren bekommen hat, die Frank Schirrmacher dann offenbar doch zu teuer waren. So dass sich der Rowohlt-Verlag des stets klammen Autors erbarmen musste – und sich dadurch mit einem vom Stamm gefallenen versöhnte, den einst sein Chef Ledig-Rowohlt 1969 feuerte.

Und darf man als Kind einfacher Leute so verächtlich auf die Unkultur der Massen schauen? Mehr als einmal mokiert sich Raddatz über die schmerbäuchigen Touristen auf Gran Canaria, „Tankstellenpächter“ und „Vorstadtfriseure“ in Turnschuhen, die dort partout nicht auf den Gedanken kommen, Kafka zu lesen. Oder über die Ossis in Leipzig, die im Mai des Wendejahres 1990 an Naheliegendes denken: „Strumpfhosen satt Kultur, Pornovideos statt Bücher, Bananen statt Bach“. Spätestens da vermag auch ein diesem genialen Kritiker gewogener Geist Raddatz‘ reichlich zelebrierten Selbstmitleid, dass er in seiner „melancholischen Hochmut“ vereinsame und ausgerechnet dieser Götterliebling langsam aber sicher abtreten müsse, nicht zu teilen. Jeder hat eben seine Zeit. Und das ist offenbar auch gut so.

Das traurigste: Ständig konstruiert Raddatz einen Gegensatz von Geist und Macht. Von Politikern weiß er oft demonstrativ die Namen nicht. Bücher zu schreiben „fällt ihnen immer als letztes ein“. Mit Empörung wird Joschka Fischers Satz beim Redaktionsbesuch in Hamburg: „Mit Kultur hab ich nichts am Hut“ zitiert. Bei Günter Gaus, den er nicht für einen Intellektuellen hält, sondern nur für einen intelligenten Politiker, regt er sich auf, dass der nicht über den Verlust der Macht hinweg komme und jeden Satz mit den Worten einleite: „Als ich noch Chefredakteur des Spiegel war“. Und das Elend des begabten Rudolf Augstein sieht er darin begründet, dass das viele Geld ihn zu einem „machtgeilen Wüterich“ herabsinken habe lassen. Doch einem historisch so beschlagenen Mann muss man doch sicher nicht sagen, welche Spuren der „Stilwillen“, den er für die Kunst so apodiktisch einfordert, in Deutschland hinterlassen hat, als die Nazis sich zu dem Ästhetizismus aufschwangen, den Raddatz in der Politik vermisst. „Warum ist Demokratie fast immer so häßlich“ stöhnt er im Mai 1997 ins Tagebuch, als er bei den Schwetzinger Festspielen die Festrede hält

Und doch scheint ein nicht unwesentliches Antriebsmoment dieses Statthalters des Geistes genau das Macht-Gelüst zu sein, das ihm angeblich so fremd ist. So sehr wittert er hinter jedem Interesse an seiner Person und seinem „Werk“ die Chance, doch noch irgendwo wieder zum Chef berufen zu werden. So sehr kränkt ihn die Rolle des „has-been“, und, „nur noch um Rat gefragt“ zu werden. Von Günter Grass‘ „Ich-Ich-Ich-Feier“ ist er mehr als einmal angeekelt. Doch letztendlich unterliegt er derselben Aufmerksamkeits-Ökonomie wie die skurrilen Literaten und die ignoranten Politiker. Wie schreibt er doch einmal ganz richtig? „Man will beachtet werden“. Eben. Und was ist so schlimm daran?


Text: Ingo Arend für getidan



Fritz J. Raddatz: Tagebücher. 1982-2001.

Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2010,

942 S., 34,95 EUR


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