Mitte März wird die Biennale von Sharjah wieder zu einem ästhetischen Fixpunkt der arabischen (Selbst-)Aufklärung. Eine kleine Prä- und Preview zum zehnjährigen Jubiläum

Wenn in diesen Tagen in den Medien die Karte der nordafrikanischen und arabischen Staaten aufgefaltet wird, die demnächst wie Dominosteine um- und der „Arabischen Revolution“ zum Opfer fallen, fehlt meist ein winziger Teil dieser umsturzgefährdeten Gegend. Genauer gesagt: Jene Staatengemeinschaft, die zwischen Saudi-Arabien und dem Sultanat Oman liegt, in der UNO unter dem Kürzel VAE geführt wird und beim breiten Publikum vor allem deswegen bekannt ist, weil hier mit dem Burj Al Arab das höchste, teuerste und exklusivste Hotel der Welt steht. 15 Kilometer vor Dubai-City, auf einer künstlichen Insel, ragt dieses Wunderwerk in Form eines geblähten Segels in den arabischen Himmel. Bei Tag strahlend weiß, wandelt es sich zur Nacht in einen berauschenden Traum aus Licht und Farben. Am Persischen Golf ist Arabien noch ein schillerndes, luxuriöses Märchen aus 1001 Nacht.

Die Abwesenheit der Vereinigten Arabischen Emirate aus allen geostrategischen Umbruchszenarien hat seinen guten Grund. Zwar zählt das Auswärtige Amt in Berlin das Land keineswegs zu den lupenreinen Demokratien. Sondern nennt sie vorsichtig „patriarchalisches Präsidialsystem mit traditionellen Konsultationsmechanismen“. Was nur ein anderes Wort für Autokratie ist. Dass der Außenminister dieser Staatenföderation vor ein paar Tagen zwecks Lagesondierung mit dem ägyptischen Noch-Präsidenten, Husni Mubarak, zusammengetroffen ist, zeigt zwar die Nervosität der Regierenden am Golf. Trotzdem wirken an dem schmalen Landstrich Faktoren, die womöglich verhindern werden, dass es auch hier zur massenhaften Flucht und Austreibung diverser Emirs kommt, den traditionellen „Herrschern“ dieser Länder.

Die VAE erstrecken sich zum einen über nichts als Wüste. Und zwar über die besonders berüchtigte Wüste Rub‘al-Khali, dem berühmten „Leeren Viertel“, das so viele Schriftsteller zu großartigen Epen inspiriert hat. Und dem sandigen Reich mangelt es mit dem, was Experten „eingesessene Bevölkerung“ nennen, deutlich an der kritischen Masse, die eine Revolution erst formen könnte: Von den gerade mal 5 Millionen Menschen, die dort leben, sind nämlich nur knapp eine Million „Araber“. Die restlichen vier Millionen sind Leiharbeiter, zumeist aus Indien und Südostasien. Hier liegt tendenziell das größere Protestpotential. Doch die Emirate haben vorgesorgt: Denn diese Gastarbeiter, die kommen, bauen und putzen dürfen, müssen auch in ebenso regelmäßigen Intervallen wieder gehen. Und die VAE sind reich: Ihnen gehören die siebtgrößten Ölvorkommen der Welt. Das Bruttoinlandsprodukt gehört zu den höchsten der Welt.

Das Geld, dass ihnen das Schwarze Gold einbringt, stecken die sieben Staaten im Staat nicht nur in achtspurige Autobahnen, Wolkenkratzer und künstliche Inseln vor dem Winde, auf denen Prominente ungestört von Paparazzi ihr Privatleben genießen können. Sondern sie investieren so massiv in Bildung, Wissenschaft und Kultur wie Ägypten und Tunesien es unterließen. 34 Prozent ihres Budgets geben die schwarzbärtigen Emire dafür aus. Ein gewaltiger Entwicklungsplan für diese Bereiche reicht bis ins Jahr 2020. Von daher wundert es nicht: So old fashioned die VAE in Sachen Demokratie auch sind. So gehören sie doch zu den Ländern mit der höchsten Lebensqualität. Auf dem Human-Development-Index, einem multifaktoriellen Wohlstandindikator der Vereinten Nationen rangieren die VAE immerhin auf Platz 35. Dergleichen Lebensverhältnisse minimieren natürlich die Gründe zur Unzufriedenheit.

Eine dieser – im weitesten Sinne – herausragenden Bildungsinstitutionen ist die Biennale von Sharjah. Der Name des Staates, der übersetzt so viel heißt wie „Von der Sonne beschienen“ ist nicht nur ein klimatischer Fakt. Sondern trifft die Sache auch metaphorisch. Denn ausgerechnet Sharjah, das zwar das zu den ärmsten und konservativsten der sieben Emirate gehört, die die VAE formen – man darf dort keinen Alkohol trinken oder verkaufen – fiel die Rolle des „Kulturzentrums“ der Staatenföderation zu. In der gleichnamigen Hauptstadt des alten Perlenfischerreichs kündet seit ein paar Jahren ein „Heritage District“ mit 17 Museen davon, wie ernst Seine Hoheit, Dr. Scheich Sultan bin Mohammed Al Qasimi, diese Selbstverpflichtung des emiratischen Fleckens nimmt, dem er alleinherrscherisch vorsteht. 1998 wurde Sharjah deshalb mit der Auszeichnung „Kulturhauptstadt Arabiens“ belohnt.

Die Sharjah-Biennale gehört zweifellos zu den „Leuchttürmen“ dieser Kulturlandschaft. 2003 von der vom Londoner Kunstgeschichtsstudium an den häuslichen Golf zurückgekehrten Tochter des Emirs, Sheika Hoor Al-Qasimi, von einer lokalen Malerei-Ausstellung zu einem anspruchsvollen Kunst-Event aufgepeppt, hat sich die Sharjah-Biennale nach Venedig, Sao Paulo und Istanbul zu einer der attraktivsten Ausgaben dieses beliebten globalen Wanderzirkus entwickelt. Wenn heute in der Champignon-Plantage der Biennalen von einer besonders innovativen Spezies dieser überall aus dem Boden schießenden Kunst-Pflanzen die Rede ist, dann zu allererst von der Sharjah-Biennale. Eine augenfällige Parallele übrigens zu dem einen Sandwurf entfernten Staat Qatar. Wo auch der weibliche Teil der Herrscherfamilie Al Thani seine Zeit der Förderung von Bildung und den Künsten widmet. Dort steht eine riesige „Education City“. Gerade eröffnete in Qatar das erste Museum für arabische Kunst – Mathaf. Sicher nicht so gedacht, könnten sie sich eines Tages als intellektuelle Zeitbomben erweisen.

Schon die Entstehungsgeschichte der Biennale in Sharjah weist dieses Kunstevent als eine Mischung aus Tradition und Moderne und Ergebnis eines interkulturellen Dialoges zwischen Orient und Okzident aus. Denn Sheika Qasimi geruhte, so von der Documenta 11 des Jahres 2002 in Kassel begeistert gewesen zu sein, dass sie und ihr damaliger Chefkurator, Peter Lewis, das regionale Kunst-Pflänzchen fürderhin nach dem westlichen Vorbild zu formen gedachten, das das kuratorische Wunderkind aus Nigeria, Okwui Enwezor, gerade von Nordhessen aus in die postkoloniale Umlaufbahn katapultiert hatte.

Seither hat es die Sharjah-Biennale auf zehn Ausgaben gebracht. Die sich – was nicht ganz unwesentlich ist – schon strukturell von der autokratischen Struktur des Landes unterscheidet. Denn seit die Biennale unter der Leitung ihres neuen Chefkurators, des Kunstvermittlers Jack Persekian steht, wird die auszustellende Künstlermischung nicht von oben dekretiert. Sondern rekrutiert sich – mittels eines open call – auch aus den Reihen der Künstler. Schon 2003 beispielsweise sichteten die Kuratoren, ebenso akribisch wie demokratisch, 2.000 eingereichte Arbeiten und Projekte. Und 2009 waren 36, also genau die Hälfte der 62 Teilnehmer, weiblich. Ein denkwürdiger Vorgang in dem traditionell patriarchalischen Land, in dem die Frauen immer noch im schwarzen Chador zwei Schritte hinter ihren prächtig gekleideten Männern zu gehen haben.

Die besondere Funktion der Sharjah-Biennale liegt zum einen darin, dass sie beweist, dass das angelsächsisch-diskursive Kunstsystem mit seinen Begleiterscheinungen: Performances, Meetings, Panel-Discussions, Round-Tables, Symposien, kulturwissenschaftlicher Jargon inklusive, einem mit 30.000 Dollar dotierten Art Prize und einer neu eingerichteten Art Foundation, die die Biennale organisiert, sich in der malerischen Kulisse Sharjahs zwar einigermaßen bizarr ausnimmt. Aber durchaus kompatibel mit der Kultur eines gerade eben zur Moderne aufgeschlossenen Landes ehemaliger Fischer und Piraten, Beduinen und Nomaden ist. „Still Life-Art, ecology and the politics of change“(2008) oder „Provisions for the future – Past oft he coming days“(2009) – die anspruchsvoll-kritische Themenpalette der Biennale straft damit all diejenigen Lügen, die die Biennale nur für eine besonders raffinierte Methode wechselseitiger Katalyse von ökonomischer und kultureller Entwicklung gehalten haben könnten.

Darüber hinaus hat sich die Sharjah-Biennale zu einer Plattform von „emerging artists“, insbesondere aus dem arabischen Raum, entwickelt. Die mit anderen als den sattsam aus dem Biennale-Zirkus bekannten Namen der transatlantischen Moderne aufwartet. Und diese Künstler demonstrieren eine erstaunliche Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik, mithin Tugenden, die in den autokratischen System Arabiens nicht eben zu den üblichen Tugenden gehören, aber unerlässlich sind, wenn sich dort jemals eine Zivilgesellschaft herausbilden soll, die diesen Namen verdient.

Die ästhetische Solidarität mit den Palästinensern steht natürlich immer wieder im Fokus in Sharjah. Nicht umsonst berief Sheika Qasimi mit Jack Persekian einen Chefkurator, der selbst aus Palästina stammt. Diese Parteinahme zeigt sich auch immer wieder in der Kunst: 2003 führte die in Jerusalem lebende Künstlerin Rula Halawani mit einem zerschnittenen Reisepass die Identitäts- und Gewaltpolitik der Israelis vor. Solche Arbeiten gibt es in jeder Ausgabe. Gleichzeitig greifen viele Künstler aber mit genau derselben Schärfe immer wieder die negativen Seiten der rasanten Transformationsprozesse der letzten 30 Jahre in den Golfstaaten auf.

Schon 2003 wies die Künstlerin Rana al-Kamiri aus Bahrain mit ihren Fotografien von Industriemüll in den weiten Wüsten- und Meereslandschaften der Region künstlerisch auf die Umweltzerstörung hin, die Kehrseite der forcierten Modernisierung am Golf. 2009 durfte der türkische Künstler Halil Altindere ein Porträt des Sharjah-Potentaten in einem Goldrahmen in eine sanft ironische Schwingbewegung versetzen. Im selben Jahr kritisierte der junge Künstler Rem al-Ghaith aus Dubai mit seiner Arbeit „Dubai – What’s left of her land“ die rigide Urbanisierung seines Landes. Im selben Jahr präsentierte der dänische Künstler Nikolai Bendix Skyum Larsen Videoporträts der indischen Leiharbeiter in den Emiraten in ihren Büros und Werkstätten, kombiniert mit Porträts ihrer daheim gebliebenen Familien in Indien.

Man kann davon ausgehen, dass auch in diesem März, beim zehnjährigen Jubiläum der Biennale, dieses kritische Soll erreicht wird. Auch wenn sie in diesem Jahr unter dem etwas formalistisch-ratlos klingenden Motto steht: „A Plot for a biennial“ steht. Die dahinter stehende Idee eines „Skriptes für einen Film“, in dem „Schlüsselwörter wie „Verrat, Unvermeidlichkeit, Auflehnung, Eingliederung, Korruption, Hingabe, Enthüllung“ eine Rolle spielen, wie die Veranstalter schreiben, klingt einigermaßen verwirrend. Ebenso die von dem „Netz etymologischer Ermittlungen“, das sie nach sich ziehen sollen. Spannender werden könnte es bei der Frage nach der „Behauptung individueller Subjektivität innerhalb von Kultur, Religion und Staatlichkeit“. Und unter den Künstlern, die die KuratorInnen Susanne Cotter, Rasha Salti und ihr assoziierter Compagnon Haig Aivazian eingeladen haben, kommen uns nur die französische Malerin Sophie Calle, der deutsch-amerikanische Konzept-Kunst-Oldtimer Hans Haacke aus New York und der chilenische Architekt und Filmemacher Alfredo Jaar allzu bekannt vor.

Man sieht schon: Die Sharjah-Biennale ist also keineswegs bloß die Spielwiese für eine höhere Scheichs-Tochter. Sondern ein erstrangiges, hochklassiges Kultur-Event, Modernisierungsleistung und Modernisierungsmotor in einem. Zwar macht die Schwalbe einer Biennale noch keinen Frühling der Demokratie am Golf. Und sie ersetzt nicht den arabischen Habermas, den Mohamed Waheed, Vizepräsident der Malediven, kürzlich im Gespräch mit FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in den islamischen Ländern für nötig hält. Doch wer in diesen Tagen nach Instanzen Ausschau hält, von denen eine reflexive, intellektuelle Erneuerung in den arabischen Ländern ausgehen könnte, sollte an Sharjah mit seiner Biennale nicht vorbei sehen.

Selbst wenn ihr Programm immer noch von den Widersprüchen des streng islamischen Landes kündet. Die beiden Ausstellungsorte verdeutlichen architektonisch den Standort des Landes zwischen Tradition und Moderne. Das Sharjah-Museum in der Altstadt erinnert mit seiner Nischenstruktur an die alten Souks, die Markthallen der arabischen Staaten, das neue Expo-Centrum am Hafen ist der sichtbare Ausweis der globalisierten Investitionsarchitektur, die auch den Alltag der winzigen Staaten an dem früher ärmlichen Küstenstreifen zunehmend bestimmt. In diesem Jahr sollen erstmals auch „Meilensteine emiratischer Architektur“ bespielt werden: das historische Kricketstadion und traditionelle Häuser.

Israelische Künstler durften in diesem aufwändigen Ambiente noch nie ausstellen. Und auch wenn die ästhetische Letzt-Instanz der Biennale, Sheika Hoor, immer wieder mal ein Zensur-Auge zudrückt: In ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte ist es mehr als einmal vorgekommen, dass nackte Hintern, Busen oder sonstige Genitalien auf Kunstwerken mit schwarzen Tesastreifen überklebt werden mussten. Die Präsentation dessen, was seit dem Biennale-Relaunch von 2003 „new art practises“ heißt, kommt immer noch etwas kurz. Und zu den überlebensnotwendigen Aufgaben der Biennale gehört noch immer das, was Kulturwissenschaftler „audience building“ nennen.

In der bevölkerungsschwachen Region kommen nämlich nach der feierlichen Eröffnung durch den Emir und seinen Hofstaat – wenn man einmal von den Schulklassen absieht, die später hierher geführt werden – in der Regel nur sehr wenig Besucher. Die Öffentlichkeit, die Kunst genießt und sich in der gemeinschaftsbildenden Kunst des Urteils übt, wächst also nur sehr langsam. Der langfristigen Wirkung des (Selbstaufklärungs-)Mittels Kunst dürfte diese verzögerte Rezeption keinen Abbruch tun: Wer sich den Virus der Freiheit erst einmal eingefangen, beziehungsweise wer sich diesen Floh selbst ins Ohr gesetzt hat, der dürfte ihn so schnell nicht wieder los werden. Arabische Revolutionäre: Schaut auf dieses Emirat! Auf zur 10. Sharjah-Biennale…

Ingo Arend für getidan

Bilder: http://www.sharjahart.org

Sharjah Biennial 10, Plot for a Biennial, 16.03.11 – 16.05.11