Die 11. Manifesta scheitert an ihrem Versuch, das Phänomen Arbeit zu durchleuchten

 

Waschmittel, Sonnenbrillen, Staubsauger. Shopping-Fluchten nennen die Schweizer den kleinen Grenzverkehr zwischen Orten wie Kreuzlingen und Konstanz. Dann kaufen die Eidgenossen Dinge des täglichen Bedarfs im billigeren Deutschland.

Ein Heer eilfertiger Dienstleistern versorgt sie mit Rechnungen, mit denen sie den Zoll umgehen können. Seit die Schweizer Zentralbank den festen Frankenkurs aufhob, hat dieser Nottourismus beachtliche Ausmaße angenommen.

In Krisenzeiten wie derzeit in Europa blühen die informellen Ökonomien. Dann tun Menschen einiges für Geld, was sie sonst nicht tun würden. Doch dieser Aspekt von Arbeit wird nicht verhandelt auf der 11. Manifesta, die vergangene Woche in Zürich begann. Stattdessen können Besucher ihren Hund frisieren lassen. Der belgische Künstler Guillaume Bijl hat dessen Geschäft in eine Kunstgalerie verlegt.

What people do for money. Some joint ventures“, das Motto, das sich Kurator Christian Jankowski für die europäische Wanderbiennale ausgedacht hatte, klingt wunderbar doppeldeutig. Wer denkt nicht sofort an Slogans wie „Sie waren jung und brauchten das Geld“?

30 KollegInnen hatte der Berliner Konzeptkünstler, Jahrgang 1968, zu einer ästhetischen Kooperation mit einem lokalen „Host“ aus allen Berufssparten eingeladen. Und wer die 30 „Satelliten“ der Manifesta abklappert, die aus diesen „Joint ventures“ hervorgingen, lernt die Stadt vom bürgerlichen Villenviertel am Stadtrand bis zum Rotlichtviertel in der City durchaus näher kennen als beim Wochenendtrip. Ihre ästhetischen Ergebnisse sind freilich enttäuschend banal ausgefallen.

Für die Erkenntnis, dass es etwas mit Angst zu tun haben könnte, wenn Zahnärzte Löcher in unschöne Zähne bohren, hätten wir nicht in die Praxis der Dentisten Heller Kübler Truninger in die Stadelhofer Straße kommen müssen. Dieses Signum verpasste der norwegische Fotograf Torbjørn Rødland seinen Bildern aufgesperrter Münder.

Ein riesiger Stapel

Der Maxime, die Realität zu verdoppeln, statt sie zu brechen oder zu hinterfragen, huldigt auch Michel Houellebecq. Am Empfang der, einem Luxushotel zum Verwechseln ähnelnden Privatklinik Hirslanden beispielsweise liegen vier DIN A4 Blätter mit wissenschaftlichen Tabellen kommentarlos auf einem riesigen Stapel.

Kurator Jankowski erklärte die Ergebnisse des schon im Vorfeld werbewirksam hochgejazzten Gesundheitschecks des französischen Schriftstellers zur „Skulptur“. Über die körperliche Verfassung des Maestro oder die Arbeit seines Arztes Henry Perschak sagt sie dem Laien nichts.

Ein Koch, ein Feuerwehrmann, Übersetzer – die Liste der Berufe ist lang. Ausgerechnet für eine, für die Schweiz essentielle Profession interessierte sich die griechische Künstlerin Georgia Sagri dann aber nur peripher. In dem Video über eine Anlageberaterin der Privatbank Julius Bär interessiert sie sich nur für deren Habitus: Gesten, Körpersprache, Bewegungsrhythmen.

Der selten gewährte Blick in das diskrete Bankhaus an der teuren Bahnhofsstraße ist da fast aufschlussreicher. Die Liste der Arbeiten aus dieser Kategorie des halbherzigen Realismus ließe sich verlängern.

August Sanders schöne Fotografie eines Goldschmieds von 1926 hilft auch nicht weiter. Die Parallelschau im Löwenbräu-Areal ist viel zu zufällig zusammengestellt, als das sie das Phänomen Arbeit historisch vertiefen könnte.

An dieser Bilanz änderte auch eine der wenigen, geglückten Werke nichts. Der amerikanische Künstler Mike Bouchet hat alle Exkremente, die die Bewohner Zürichs am 24. März 2016 durch die Toiletten der Stadt ausgespült haben, zu kackbraunen Quadern verdichtet. Die 80 Tonnen schwere Minimal-Shit-Skulptur vermittelt eine Ahnung von der täglichen unsichtbaren Arbeit in Zürichs Untergrund.

Die 1993 gegründete Manifesta hatte Europa stets von ihren Rändern, von der Peripherie oder politisch neuralgischen Punkten her definiert: 2000 in Lljubljana thematisierte sie die Post-1989er Epoche, 2006 scheiterte sie symbolisch im geteilten Zypern. 2012 beleuchtete sie in der belgischen Bergarbeiterstadt Genk Rohstoffs Kohl den Umbruch zum postindustriellen Zeitalter.

Zürich als Standort der 11. Ausgabe war da eine schwer verständliche Wahl. Doch weder lotet Jankowski den Topos Zentrum-Peripherie innerhalb der Schweiz aus, noch ihre paradoxe Zwischenlage als finanzielles Herz Europas, die politisch dennoch Peripherie ist.

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Cabaret der Künstler / Copyright Manifesta11 – Livio Baumgartner

In die Zunft gesperrt

Auch nach Reflektionen der „condition européene“, die sich die Manifesta nach den Worten ihrer Gründerin Hedwig Fijen auf die Fahnen geschrieben hat, sucht man vergebens. Denn Jankowskis Diskurs-„Pavillon of Reflections“ auf dem Züricher See hätte sich das Fremdenverkehrsamt der Stadt nicht besser ausdenken können.

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Das optische Herzstück der Manifesta 11: der «Pavillon of Reflections» / Copyright Manifesta 11 – Wolfgang Traeger M11 by Wolfgang Traeger

 

Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Reinigung für die Züricher Arbeiter errichteten, historischen Flussbäder an der Limmat wären die passendere Kulisse für die „Arbeits“-Manifesta gewesen, als das Holzfloß mit Kino und Debattierarena vor der Postkarten-Kulisse am Touristen-Hotspot.

Jankowskis unkritisches Konzept lässt sich auch daran ablesen, dass er das berühmte Cabaret Voltaire in der Altstadt, die Geburtsstätte der Dada-Bewegung 1916, zu einer Künstler-Zunft umfunktioniert. Beim Stadtspaziergang wollen es ihm, erzählte er gewohnt unbedarft, historischen Zunfthäuser angetan haben.

Anstatt diesen closed shop der helvetischen Wirtschaftselite mit einem alternativen Format aufzubrechen, unterwarf er die Kunstwelt – wenn auch nur symbolisch und für die 100 Tage der Ausstellung – diesem obsoleten Kastenwesen.

In derlei kokett zur Schau gestelltem Unvermögen, eines der brisantesten Probleme derzeit auszuloten, ist die Schau samt ihrem überforderten Kurator paradigmatisch. Kein Wunder, dass diese Problemzone sie am Ende selbst einholte.

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Jewgeni Antufjew / Copyright Manifesta 11 – Wolfgang Traeger M11

Bis zum Schluss konnte die Manifesta Vorwürfe nicht wirklich entkräften, bereits eingestellte Hilfskräfte aus Geldmangel durch unbezahlte Freiwillige ersetzt zu haben. Wenigstens die prekäre Ökonomie kam auf dieser Manifesta dann doch zur Darstellung – unfreiwillig, wie so vieles in Europa.

Ingo Arend

erschienen in: Neues Deutschland vom 18. / 19.06.2016

Bild ganz oben: Installation „The Zurich Load“’ des amerikanischen Künstlers Mike Bouchet im Löwenbräuareal – Copyright Manifests 11 – Camilo Brau

 

AUSSTELLUNG

What people do for money. Some joint ventures

Manifesta 11. Zürich

Noch bis zum 18. September 2016

Katalog, Lars Müller Publishers, 49 CHF