Ein Tier müsste man sein, „ein wirkliches Tier, ohne ein Bewusstsein, das den Willen hemmt.“ Da aber auch Gefühle sich eher störend auswirken, wäre es noch verlockender, als Pflanze zu existieren: Man hätte Blätter, die mit ihrem Chlorophyll Photosynthese betreiben. die Energieversorgung wäre dauerhaft gesichert. Sorgen gäbe es keine mehr, man müsste nicht einmal mehr einkaufen gehen, sondern nur noch in der Sonne liegen. Den Rest besorgt das Blattgrün.

Solche durchaus reizvollen Gedanken macht sich die Biologielehrerein Inge Lohmark in Judith Schalanskys Roman „Der Hals der Giraffe“. Sie folgt damit Fluchtimpulsen, wie sie wohl jeder Gattung eigen sind. Bis zur Rente hat sie vielleicht noch zehn Jahre, doch ihre Schule in einer vorpommerschen Kleinstadt wird wohl schon früher geschlossen. Es gibt nicht mehr genug Kinder in der Region, die von Wegzug, Rückbau, Arbeitslosigkeit geprägt ist. Die Vision, dass die Vegetation bald die Stadträume zurückerobern wird, dass am Ende die Natur stärker ist als alle menschliche Kultur mit ihren flüchtigen Hervorbringungen, ist in dieser Kulisse nicht so leicht von der Hand zu weisen. Auch Inge Lohmarks eigene Tochter ist in die USA gegangen; ihr Mann, der früher in einer LPG Rinder züchtete, züchtet nun Strauße und hat es damit zu lokaler Berühmtheit gebracht. Ob er die Prinzipien der Natur als Stratege der Zuchtwahl erfüllt, oder aber ad absurdum führt, indem er Australische Tiere nach Vorpommern holt, ist ein Unsicherheitsfaktor, der nicht weiter erörtert wird.

Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, kennt diese Gegend und die in der Leere der Perspektivlosigkeit wuchernde Zivilisationsskepsis. Liebevoll versenkt sie sich in ihre Lehrerin und betrachtet die Welt aus deren Augen. Sie schreibt nicht in Ich-Form, aber doch ganz und gar aus deren strenger Perspektive und folgt ihr in drei Kapiteln durch drei über ein Jahr verteilte Tage. So etwas wie Mitgefühl darf es bei ihr nicht geben. Zu den Prinzipien von Inge Lohmark gehört es vielmehr, die Kinder spüren zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert sind. Schule hat wie die Natur dem Leistungsprinzip und dem darwinistischen Konkurrenzkampf ums Überleben zu gehorchen. Wer zu dumm ist, soll durchfallen und rausfliegen, das ist doch ehrlicher, als wenn man die Unfähigen mit immer neuen Ausreden und Tröstungen jahrelang durchs Gymnasium schleppt, wo sie nichts zu suchen haben.

Das Schöne, das Irritierende an dieser Suada besteht darin, dass Vieles davon zwar höchst unkorrekt, aber nicht falsch ist. Wenn in manchen Bundesländern schon die Schreibschrift abgeschafft wird, weil es den Kindern nicht zuzumuten sei, zwei verschiedenen Schriftarten zu erlernen und frühkindliche Traumatisierungen zu befürchten wären, beginnt man, mit einer strengeren Pädagogik zu sympathisieren. „Der Hals der Giraffe“ lässt sich als subtiler Beitrag zur Bildungsdebatte lesen. Der Untertitel des Buches lautet auch „Bildungsroman“ – ein Begriff, der in mehrfacher Hinsicht eingelöst oder vielmehr aufgelöst wird. Denn Bildung ist etwas, das in der Weltsicht der Inge Lohmark zu den Dingen gehört, die der Natur entgegengesetzt und deshalb fragwürdig sind. Tiere brauchen keine Bildung. Sie tun das Nötige mit instinktiver Sicherheit, ohne zu wissen warum.

Andererseits kommt auch die Lehrerin nicht ganz darum herum, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen. Sie müsste ja ansonsten an der eigenen Abschaffung arbeiten. Daran aber arbeiten die vorpommerschen Nachwende-Verhältnisse schon von allein, und ihre Anschauungen sind ja vielleicht nichts anderes als deren melancholische Konsequenz: Die zur Theorie gewordene Überflüssigkeit der eigenen Existenz, in der die „Klasse“ ihre Funktion als schulische Ordnungsgruppe verliert und nur noch als Rubrik im Artenkatalog überdauert. Jede Form von Bildung, Weiterbildung, Entwicklung ist demnach ein Symptom der Unvollkommenheit. Nur was nicht perfekt ist, muss sich verändern. So gesehen sind Bakterien und Viren und primitive Einzeller ohne Gehirn und Nervensystem die gelungensten Lebensformen. Komplexe Arten haben nie lange überlebt, so lehrt die Naturgeschichte. Aber gerade daraus ergibt sich für Inge Lohmark so etwas wie Hoffnung. Der Gedanke, dass alles vorläufig und unvollkommen ist, auch und vor allem der Mensch, tröstet über die Vergänglichkeit der vorpommerschen Kleinstadttristesse hinweg.

Unklar bleibt, ob die vorgeführte Dominanz der biologistischen Weltwahrnehmung sich aus der neuen Erfahrung kapitalistischer Konkurrenz und einem sozialen „Survival of the Fittest“ ergibt, oder ob es sich dabei um ein nachwirkendes Resultat der Dominanz des materialistischen Denkens und der Austreibung des Metaphysischen im Sozialismus handelt. Im Lehrerzimmer gibt es Streit um diese Fragen – Inge Lohmark gilt auch dort als Auslaufmodell – doch die Debatte führt zu keinem Ergebnis. Vermutlich stimmt beides. Das macht die Perspektive auf den Menschen als unvollkommenes Tier derzeit so zwingend.

„Bildungsroman“ ist das Buch aber auch im wortwörtlichen Sinn als bebilderter Roman. Schalansky, gelernte Typographin und Buchgestalterin, hat es mit detailgenauen Zeichnungen von Seekuh, Qualen, Flugsaurier, Fischen und Föten angereichert und es wie ein richtiges Biologiebuch angelegt. Das grafische Element spielte auch in ihren vorigen Büchern, besonders in dem schönen, abseitigen „Atlas der abgelegenen Inseln“ eine wichtige Rolle. Die Kapitelüberschriften für die drei geschilderten Tage, „Naturhaushalte“, „Vererbungsvorgänge“ und „Entwicklungslehre“ sind neben den jeweils abgehandelten Themen als Rubriken im Seitenkopf angegeben, so dass dieser Roman lesbar wird wie von Inge Lohmark am Anfang kommandiert: „Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf.“ Es ist vergnüglich, darin zu lesen, hat aber, wie jedes Lehrbuch, ein Problem: Es wird bald auch ein wenig langweilig. Denn auch wenn es um „Entwicklungslehre“ geht – es entwickelt sich nichts mehr. Wenn man erst einmal begriffen hat, wie Inge Lohmark denkt und wahrnimmt, dann ist der Rest nur noch Durchführung und Variation. Statt Entwicklung ergibt sich Stagnation. Aber vielleicht entspricht das ja der geschilderten Lage, in der Veränderung nur noch als Verschwinden und Abwicklung vorkommt. „Fortschritt“, sagt Inge Lohmark, „war ein Denkfehler.“ Auch darin ist ihr nicht so leicht zu widersprechen.

Jörg Magenau

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe
Bildungsroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 222 Seiten

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