Es lohnt sich, die Kunst von Throbbing Gristle wiederzuentdecken: Die Band geht an die Ursprünge der Musik, also dahin, wo es das menschliche Subjekt nicht gibt

Throbbing Gristle „Discipline“ (Brooklyn Masonic Temple 04/16/09) gesehen bei YouTube

Industrial? Ist das nicht diese komische Musik, in der es pockert, hämmert und lärmt, bis die Ohren bluten oder sich der Sound ins Geräuschnirwana verabschiedet hat? Akustischer Terror, so gut wie nie tanzbar und fern der Mühelosigkeit anderer elektronischer Musik? Industrial ist immer Schwerstarbeit und klingt auch so, und Industrial Music ist so ziemlich das Gegenteil von industrieller Musik – die Musik des auch körperlich industrialisierten Menschen. Es gibt sie in einer affirmativen und einer rebellischen Form; Throbbing Gristle gehören definitiv zum rebellischen Segment.

Das Urmodell des industrialisierten Menschen ist die Todesfabrik. Death Factory nennen Throbbing Gristle ihr Atelier, Auschwitz ist ein zentrales Motiv: Wenn andere Bands zu dieser Zeit ihr frivoles Spiel mit Nazi-Symbolen beginnen, Throbbing Gristle meinten es ernst. Ihre Musik und ihre Performances versuchten zu verdeutlichen, dass die industrielle Welt Europas Auschwitz nicht überwunden hat – nur übertont. Folter, Mord und Mechanik kommen in der Musik zusammen, um auf die alten wie die neuen Todesfabriken zu zeigen. Das heißt: Als Musik wird es gar nicht bezeichnet, was TG machen. Nennen wir es akustische Information.

Gebrauchte Tampons und unausstehlicher Lärm

Throbbing Gristle (man darf das als „pulsierenden Knorpel“ oder einfach als „steifen Schwanz“ übersetzen) haben der Industrial Music entscheidende Impulse verliehen; manche behaupten, sie hätten sie erfunden. Als eine Art Konzeptkunst der Pop-Avantgarde oder des Pop-Zerfalls, wie man es nimmt. Der Ursprung der Band liegt in der „Aktionskunstgruppe“ COUM Transmissions (CT), die mit allen medialen Mitteln Punk in die Kunst brachte oder Kunst in den Punk. Das meint die Geste; die Musik war von Anfang an etwas anderes. Zwischen Neo-Dada, Fluxus und Antonin Artaud hieß das Ziel, die Grenzen nicht nur in der Kunst, sondern zwischen Kunst und Leben niederzureißen. Gegründet im Jahr 1969 hatte die Gruppe ihre beste Zeit in den mittleren siebziger Jahren.

Throbbing Gristle waren zunächst nichts anderes als der musikalische Ableger des Kunstprojektes. Dass es sich um eine Einheit handelte, zeigte die Ausstellung unter dem Titel Prostitution im Londoner Institute of Contemporary Arts im Jahr 1976, die die derbe Seite der Sexualität präsentierte und zu einer Debatte über die staatlich finanzierte Kunstszene führte, die mit dem Geld von Königin und Steuerzahler gebrauchte Tampons ausstellte und unausstehlichen Lärm dazu bot. Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Prostitution war die Geburtsstunde von Throbbing Gristle, und nichts konnte die Band so ehren wie der Tory-Politiker Nicholas Fairbairn, der in der hitzigen Kunst-Debatte im Parlament von den Veranstaltern der Ausstellung und den beteiligten Künstlern als „Wreckers of Civilization“ sprach.

Wreckers of Civilization wurde der Titel einer Monografie des Kunsthistorikers Simon Ford über die einzigartige Künstlergruppe, die es unternommen hatte, Alltagskultur, Porno, den akustischen und visuellen Dreck der Wirklichkeit zwischen Lust und Brutalität auf die Bühne zu bringen. Damals war man Marcel Duchamps noch näher als dem Orgien-Mysterien-Theater der Wiener Aktionskünstler.

Bei Prostitution handelte sich um nichts anderes als eine Darstellung dessen, was ist – keine Ausflüge in durchgeknallte Fantasien, sondern vielmehr in die sexuelle und in die akustische Alltagswelt. Alles, was Prostitution ausstellte, war Teil des unsichtbaren Teils des Normalen, und alles, was Throbbing Gristle an Lärm produzierte, war Teil des unhörbaren Sounds der Industrie- und Mediengesellschaft.

Kunst als „Schlachtfeld“ der zeitgenössischen Gesellschaft

Skandale pflasterten die Band-Geschichte von Genesis P-Orridge (voc), Cosey Fanni Tutti (git), Peter „Sleazy“ Christopherson (Tapes & Drum Machines) und Chris Carter (Tasten). Sie gaben ihren Konzerten fixe (nicht-musikalische) Vorgaben; so dauerte jeder Auftritt exakt 60 Minuten (beim Ablauf der Zeit wurde einfach der Strom abgestellt). Mit United hatten Throbbing Gristle für Underground-Verhältnisse so etwas wie einen Hit; schließlich waren sie dabei richtiger „Musik“ nähergekommen als je – auf dem Album D.O.A. – The Third and Final Report wurde er fachgerecht zu einer 17-Sekunden-Version demontiert. Death Threat enthält die Beschimpfungen und Drohungen gegenüber der Band auf dem Anrufbeantworter. Alles konnte Throbbing Gristle werden. Das Schlüsselwort für die Künstlergruppe und die Band ist „Information“. Kunst ist hier weder Musik noch Bild an sich, sondern Information, Zeigen/Nicht-Zeigen, Hören/Nicht-Hören als „Schlachtfeld“ der zeitgenössischen Gesellschaft.

Der nächste Schritt war die Gründung eines eigenen Plattenlabels (Industrial Records), das erste unabhängige englische Label, das in den Jahren darauf erstaunlich erfolgreich sein sollte. Hier war im Jahr 1977 auch das erste Album der Band, der 2nd Annual Report erschienen; keines der sogenannten Avantgarde-Labels der großen Firmen hatte sich bereit erklärt, die Gruppe unter Vertrag zu nehmen. Das Album war ein Experiment mit neuen Klangformen; man entwickelte Effektgeräte und erweiterte Synthesizer, arbeitete mit Schleifen und Verzerrungen: Die technische und die musikalische Seite gingen zum ersten Mal eine gleichberechtigte Beziehung ein, ebenso wie das Performative und das Textliche. Auch hier ging es darum, Informationen zu geben in einem akustischen Theater der Grausamkeit – über Mordtaten, Vergewaltigungen, Folter, Bürgerkriege, Kastrationen und Faschismus (Bilder von Zyklon-B-Dosen und Konzentrationslagern gehörten dazu wie Nazi-Uniformen, gewiss kein „Kokettieren“ mit dem Faschismus, sondern die direkteste Konfrontation).

Throbbing Gristle waren in den nächsten Jahren enorm produktiv, jedes einzelne Konzert wurde dokumentiert und mindestens in Kassettenform veröffentlicht, denn tatsächlich war eines nie wie das andere. Zur gleichen Zeit wurden LPs in limitierter Auflage veröffentlicht wie Kunst- und Sammlerstücke. Das Projekt Throbbing Gristle sollte am Leben erhalten werden, ohne sich in den Profit- und Medienkarussells zu verlieren. Der Soundtrack zu Derek Jarmans Film In the Shadow of the Sun (1980) wie die Begleitmusik zum eigenen Kurzfilm After Cease To Exist setzten die multimediale Komponente der Band in die Bereiche fort, in denen es um die Verkehrung von Modellen des Gebärens und des Sterbens des industrialisierten Menschen geht; stets hört und sieht man, wie im Kino von David Lynch, das Industrielle und das Körperliche zugleich und in wahrhaft unheimlicher Durchdringung. Was machen die Körper mit den Maschinen?

Befreiung und kulturelle Katastrophe zugleich

Mit 20 Jazz Funk Greats lockten Throbbing Gristle ihr Publikum in eine neue Falle. Das klang plötzlich nach Spaß, Musik und Konsum (auf dem Cover sehen TG aus wie eine bedrömmelte Hippie-Band; man musste nur wissen, dass die blühende Wiese an den Klippen von Westbourne, auf der sie sich ablichten ließen, ein Hotspot für Selbstmörder ist) und war doch das Gegenteil – eine akustische Fassade, die durch Brüche und vor allem Texte zerkratzt wird. Throbbing Gristle argumentieren nicht, sie lassen die disparaten Elemente der Weltwahrnehmung aufeinander los. Was passiert, ist immer zugleich Befreiung und kulturelle Katastrophe. Viele TG-Tracks arbeiten daran, diese Dialektik hörbar zu machen. Nichts jedenfalls ist hier selbstverständlich, schon gar nicht, wenn Cosey Fanni Tutti so verzweifelt repetitiv nach „Help from above“ verlangt; sie macht schon deutlich genug, dass da nichts kommt.

Der lustvollen Assimilation von Mensch und Maschine bei Kraftwerk steht bei Throbbing Gristle ein zorniger Aufstand gegen „Propaganda, Manipulation und Kontrolle“ (TG) gegenüber; immer geht es um das Blut und das Metall, die Lust im Schmerz. Die postromantische Schmerz-Geste von, sagen wir, den Einstürzenden Neubauten, ist ihnen fremd. Es gibt diese akustische Verortung des Maschine/Körper-Subjekts nicht, die die deutschen Gruppen (mehr oder weniger erfolgreich) behaupten. Die dezentrale Information soll stattdessen aus dem Monopol der dominanten Medien befreit werden; man setzt sich gegen die soziale Zurichtung, und ein bedeutender Teil davon ist die geschlechtliche Zurichtung, zur Wehr.

Wie man bei David Lynch das Rauschen von Blut und Atem zu hören meint, so hier das Dröhnen und Drängen, das Platzen und Bluten, Sprache, die nach dem Rhythmus wie nach dem Diskurs sucht; akustisches Theater vom Hängenbleiben, im Kreis drehen, nicht weiterwissen. Der Klang ist Fleisch, Schmutz, Müll, Schrott, Nicht-Funktionieren, Öffnen, Kaputtgehen, Wachsen. Throbbing Gristle gehen an die Ursprünge der Musik, an die Ursprünge der symbolischen Ordnungen, wo es das menschliche Subjekt so wenig gibt wie dessen Trennung von der Welt. Genauer gesagt, und das trifft sich wiederum mit dem Programmatischen in der Biopolitik-Musik von Throbbing Gristle und den Nachfolgeprojekten: Das Resultat ist Ausdruck des Trennungsschmerzes, der sich akustisch und in den Performances und Filmen visuell durchsetzt. Zugleich aber ist die Umwelt bereits so erfüllt und aggressiv, dass der Trennungsschmerz nahtlos übergeht in den Verschmelzungsschmerz, und weil beides wiederum auch mit Lust verbunden ist, in Ritual und Fetisch.

Throbbing Gristle ist Geschichte.

1981 trennte sich die Gruppe. Chris Carter und Cosey Fanni Tutti machten als Chris & Cosey weiter, melodiös und poppig, manchmal trügerisch schmeichelnd. Carter war es, der sich um den Back-Katalog kümmerte. Genesis P-Orridge und Peter Christopherson taten sich mit Alex Fergusson zu Psychic TV zusammen, der legitimen Fortsetzung von TG. 2004 kam es für einen Auftritt zu einer Reunion unter dem Motto: Many Happy Returns – A Celebration of Industrial Music in the 21st Century; im folgenden Jahr zu einer weiteren in der Volksbühne in Berlin. Damit begann ein zweites Kapitel von Throbbing Gristle, dessen CD-Dokument Part Two: The Endless Not (2007) ist. 2010 wurde in London nach einem Konzert bekannt, dass Genesis P-Orridge endgültig aussteigen würde. Die drei verbliebenen Originalmitglieder machten noch kurz unter dem Namen X-TG weiter; mit dem Tod von Peter Christopherson war auch das zu Ende.

Seit letztem Jahr wird nun an der digitalen Aufarbeitung der alten Alben und der Hebung verborgener Schätze gearbeitet. Throbbing Gristle ist Geschichte. Und an vielem, was daraus geworden ist, kann man kaum noch erkennen, dass sie mit einer entschiedenen Geste der Revolte begann.

Georg Seeßlen (Freitag 04.05.2012)