Regisseur Simon Stone aus Australien gilt als einer der derzeit besten jüngeren Theaterregisseure weltweit. Er selbst nennt sich gern einen Kino-Nerd. Viel zitierter Satz von ihm: „Hamlet oder Star Trek, das ist doch alles der gleiche Scheiß!“ Mit dem ersten von ihm als Regisseur verantworteten abendfüllenden Spielfilm, basierend auf seiner Erfolgsinszenierung des Ibsen-Stückes in Sydney, beweist Stone seine Klasse als kreativer Autor und Regisseur und, vor allem, als Schauspielführer.

Das Stück von Henrik Ibsens, 1884 uraufgeführt, gehört weltweit zu den Dauerbrennern auf den Bühnen. Kein Wunder, denn das verhandelte Thema ist universell: Verlogenheit und Heuchelei einer Gesellschaft, die allein auf äußeren Schein setzt, auf vermeintlichen Anstand unter allen Umständen, was in Wahrheit nichts anderes heißt als Anpassung an die jeweils herrschenden Normen um jeden Preis. Und die Dramaturgie nutzt geschickt den Thrill von Krimistorys. Was der Wirkung zu Gute kommt.

Interessanterweise gab es bisher vor allem Adaptionen für das Fernsehen. Im deutschsprachigen Raum dürfte wenigstens Ibsen-Fans die 1976 uraufgeführte Kino-Version von Regisseur Hans W. Geißendörfer und Produzent Bernd Eichinger noch in Erinnerung sein, hochkarätig besetzt mit Jean Seberg, Bruno Ganz und Anne Bennent. Geißendörfer hat das Stück damals streng im Theatralischen belassen. Regisseur Simon Stone, Jahrgang 1984, geht im Vergleich dazu regelrecht drastisch zu Werke. Nicht nur hat der in Basel geborene Australier die Handlung ins Heute verlegt, er verändert auch die Perspektive der Erzählung auf die Protagonisten. Der Film heißt bei ihm im Original denn auch „The Daughter“. Bei ihm nämlich ist die pubertierende Hedvig (Odessa Young) die Hauptfigur, das Mädchen, dessen Leidenschaft einer Wildente gilt, ein junges Menschenkind das allein durch sein Dasein existentielle Fragen auslöst.

Bei Simon Stone spielt die Geschichte im australischen New South Wales, der einzigen Region des Kontinents, in der es regelmäßig schneit. Die Protagonisten leben in einer Kleinstadt, die von der Holzindustrie abhängig ist. Von einer Boomtown, so wie’s mal war, kann längst nicht mehr die Rede sein. Es gibt kaum noch Arbeit, die Zukunftsaussichten sind gering. Wer es hier gut haben will, hat entweder geerbtes Geld oder eine Leiche im Keller. Der Ort wirkt tot. Das färbt natürlich auf die Menschen ab, die hier ihr Zuhause haben. Der Sägewerksbesitzer Henry (Geoffrey Rush) kann sich noch so schick kleiden, man sieht ihm an, dass er nur noch existiert, aber nicht wirklich lebt. Zum Auslöser der erzählten Geschichte wird seine Heirat, die zweite, seine erste Frau ist in den Freitod gegangen. Zur Hochzeit mit der wesentlich jüngeren Anna (Anna Torv) kommt widerwillig auch Henrys alkoholabhängiger Sohn Christian (Paul Schneider). Einziger Lichtblick für ihn ist die Wiederbegegnung mit seinem Jugendfreund Oliver (Ewen Leslie). Doch der ist – trotz der erfüllten Ehe mit Charlotte (Miranda Otto) – alles andere als froh. Denn sein Vater Walter (Sam Neill), früher mal Geschäftspartner von Henry ist – nach langer Zeit im Gefängnis – ein an sich und der Welt leidender Mann. Doch warum? Was ist so besonders an Hedwig, Olivers und Charlottes Tochter, dass niemand darüber spricht und alle ein großes Geheimnis darum machen? Und wieso hängt das halbwüchsige Mädchen sein Herz ausgerechnet an eine verletzte Wildente? Warum werden ihre Gefühle, die in der Zeit der Pubertät naturgemäß sehr heftig sind, nicht ernst genommen, ja, oft sogar denunziert?

Erstaunlich: Selbst Kenner des Ibsen Stückes werden in einen enormen Sog gezogen, die Spannung ist zum Zerreißen. Das liegt an der Fokussierung auf Hedvig, die junge, vermeintliche Hoffnungsträgerin, die ungewollt zur Botin des Bösen wird. Und es liegt an der Präsenz aller Akteure. Sämtliche Figuren wirken tatsächlich heutig. Jegliche Theatralik bleibt aus. Die Dialoge muten an, als hätten die Schauspieler beim Drehen improvisiert, als lebten sie die Geschichte, statt sie vorzuspielen. Daraus resultiert eine verblüffende Wahrhaftigkeit. Man spürt, dass Simon Stone die Wahrheit sagt, wenn er in Interviews immer wieder betont, dass für ihn die Arbeit mit guten Schauspielern das A und O sei, dass es allein die Freude auf diese Arbeit ist, die ihn allmorgendlich aus dem Bett finden lässt. Doch seine Theateradaption ist kein Schauspielerfilm in dem Sinn, dass hier ein Star nach dem anderen einen glanzvollen Auftritt absolviert. Sämtliche Darsteller wurden von Stone exzellent zu einem Ensemble zusammengeführt. Sie spielen miteinander. Aber nicht so, dass die Zuschauer draußen bleiben. Im Miteinander legen sie die komplizierten Beziehungsgeflechte frei – was jeden im Publikum schnell dazu bringt, sich in diesen oder jenen Charakter hineinzuversetzen und so gleichsam zum Mitspieler zu werden.

Wesentlicher Unterschied von der Vorlage: der heimkehrende Sohn, Christian, ist kein Mann mit Idealen, der um jeden Preis immer und überall die Wahrheit, oder das, was er dafür hält, durchsetzen will. Er ist ein gekränkter Geist, der auf schlichte Rache aus ist. Und sein Jugendfreund Oliver ist, auch dies anders als bei Ibsen, kein Versager. Im Gegenteil. Er ist ein kraftvoller Mann der Tat. Dadurch sind die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld, Lüge und Wahrheit, Verbrechen und Barmherzigkeit viel weniger klar gezogen. Das gibt der Erzählung eine ungemeine Authentizität. Man meint, sämtliche Handelnden aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis zu kennen. Wobei die Beleuchtung der dunklen Winkel verschiedener Seelen nie zum Selbstzweck gerät, sondern die zentrale Frage des Films auf die Spitze treibt: Sind Lebenslügen immer falsch oder können sie auch heilende Wirkung haben? Damit korrespondiert Stones Kinodebüt thematisch mit einer anderen erst jüngst in Deutschland gestarteten Kino-Novität, mit François Ozons „Frantz“. Das Thema liegt also ganz offensichtlich in der Luft. Kein Wunder: Es eignet sich hervorragend als Folie, um über persönliche Geschichten gesellschaftliche Entwicklungen zu spiegeln.

Peter Claus
Bilder: Arsenal

Die Wildente, von Simon Stone (Australien 2015)