Am Ende ist man erst mal baff. Denn man mag nach diesem furiosen Theaterabend kaum glauben, dass Sophokles seine „Antigone“ vor etwa 2500 Jahren geschrieben hat. Geradezu enorm erscheint einem die Fülle an klugen Gedanken zu gegenwärtigen Problemen und Themen, die der Grieche um 440 vor unserer Zeitrechnung aufgeschrieben hat. Im Kern wird die bekannte Geschichte erzählt: Antigone, die Tochter des Ödipus, will unter allen Umständen, selbst in schrecklichster Zeit, die Menschlichkeit bewahren. Sie beharrt darauf, entgegen dem von der Macht erlassenen Verdikt, dies nicht zu tun, den als Feind Thebens gezeichneten und als solcher im Kampf umgekommenen Bruder würdevoll zu beerdigen. Woraufhin sie selbst aller nur denkbaren Feindseligkeit ausgesetzt wird – mit tödlichen Folgen …

Regisseurin Liesbeth Coltof und Dramaturgin Kirstin Hess haben, ausgehend von Hölderlins 1804 (also vor auch schon mehr als zweihundert Jahren) erschienener Übersetzung eine in ihrer Stringenz weitestgehend verblüffende Kurzfassung erarbeitet, die überaus spannend und emotionsgeladen das Hier und Heute reflektiert. D e r Kunstgriff des Abends: Die mit den professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne agierenden Rap-Stars Aylin Celik und Uğur Kepenek haben Hölderlins Meisterwerk mit Rap und so genannten Spoken-Word-Texten ergänzt. Werden die gesungen-gesprochen, mutet das völlig harmonisch an, nie angeschafft, absolut logisch. Aylin Celik und Uğur Kepenek fokussieren dabei sehr deutlich auf gegenwärtige Diskussionen um Machtmissbrauch, mehr und mehr erstarkenden Rassismus, philosophische Fragen, die sich aus Alltagserlebnissen ergeben. Gerade weil sie nicht versuchen, sich an Hölderlin anzubiedern und ihre Texte völlig autark anmuten, ist die Wirkung stark. Antigone und die sie umgebenden Menschen werden dadurch zu Zeitzeugen, die alle denkbaren Gräben zwischen Vergangenheit und Gegenwart vergessen machen. So wird einer der Grundgedanken der Inszenierung aufs Kraftvollste bestätigt: Wer nicht ums Gestern weiß, kann das Heute nicht gestalten.

Nun könnte ein Satz wie dieser, eine ihm entsprechende Haltung, rasch ins Vordergründig-Pädagogelnde kippen, schlicht langweilig sein. Hier nicht! Denn Liesbeth Coltof beherzigt in ihrer mit dem Team erarbeiteten Version des berühmten Stückes, konsequent eine Haltung, die sie in einem Interview im Programmheft zu dieser „Antigone“ so beschrieben hat: „Ich plädiere für radikale Freundlichkeit. Dazu gehört, dass wir einander zuhören, und ich meine wirklich radikal zuhören.“ Heißt hier zum Beispiel: Keine der Figuren ist nur gut oder nur böse, nur schwarz oder nur weiß. Und: Niemandem, selbst denen nicht, die vermeintlich auf der „richtigen Seite“ stehen, wird eine irgendwie geartete Überlegenheit zugebilligt. Das verstört, das regt zum Streit in bestem Sinn an.

Der gerade mal neunzig Minuten kurze Abend bebt in den ersten zwei Dritteln – auch Dank der darstellerischen Klasse aller Mitwirkenden – geradezu vor Spannung. Im letzten Drittel lässt die zunächst ein wenig nach. Das liegt vor allem daran, dass die Figur von Antigones (Selin Dörtkardeş) Liebsten, Haimon (Eduard Lind), in der Kurzfassung des Stückes ein wenig kurzatmig eingeführt wird. Das sorgt für eine Irritation, die den Fluss der Erzählung kurz stört. Erst wenn Kreon (Natalie Hanslik) sehr langsam, ungemein zögerlich beginnt, sich der Vernunft zu beugen, der Menschlichkeit, wird diese Irritation weggewischt. Eine andere, die zu erwarten war, bleibt aus: Es wirkt völlig unspektakulär, dass aus König Kreon hier Königin Kreon geworden ist. Güte einerseits und Gewalt andererseits sind nun mal nicht an Geschlechter gebunden. So wird ganz nebenbei auch ein pfiffiger Beitrag zur Gender-Debatte geleistet.

Einmal wird aus einem Text der Publizistin Carolin Emcke zitiert: „Manchmal frage ich mich, wie sie das können: so zu hassen. Wie sie sich so sicher sein können. Denn das müssen die Hassenden sein: sicher. Sonst würden sie nicht so sprechen, so verletzen, so morden. Sonst könnten sie andere nicht so herabwürdigen, demütigen, angreifen.“ – Die Düsseldorfer „Antigone“ ist eine Produktion des Jungen Schauspiels, gedacht für Zuschauerinnen und Zuschauer ab 14. Kinder- und Jugendtheater. Wieder zeigt sich: Ist das gut, dann ist es gut für alle Altersklassen. Der Generalintendant des D’hauses’, Wilfried Schulz, derzeit einer der erfolgreichsten Theaterleiter Deutschland, saß in der vom Publikum zu recht mit Jubel gefeierten Premiere. Zu sehen ist sie in Düsseldorf in der Spielstätte des Jungen Schauspiels, ein wenig abseits der großen Straßen, nicht in der Nähe der Hauptspielstätte des „Erwachsenentheaters“, des Schauspielhauses. Schulz sollte diese erstklassige Inszenierung für einige Abende unbedingt auch dort, im Großen Haus, zeigen, damit auch möglichst viele schon ältere Freunde packender Schauspielkunst diese „Antigone“ kennenlernen.

Peter Claus

Bild ganz oben: Selin Dörtkardeş, Noëmi Krausz | Foto: David Baltzer

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