„3 nach 9“, die Mutter der Talkshows, wird 30. Mittlerweile wuchert das Format durch alle Programme und hat seine Unschuld verloren

Am 19. November 1974 wurde im Dritten Programm von Radio Bremen eine Sendung mit dem harmlosen Titel „3 nach 9“ ausgestrahlt. Drei Moderatoren warfen sich, offensichtlich ohne große Vorbereitung und ohne falsche Zurückhaltung, in einen Clinch mit Gästen und Zuschauern. Ergebnis: Chaos, schmutzige Worte, Heftigkeit. Leben. So etwas war man im deutschen Fernsehen nicht gewohnt. Hier tat man sich schon mit wesentlich moderateren Versionen der neuen Sendeform Talkshow schwer.

Erst 1976 schien dann der Durchbruch für das umstrittene neue Format aus Amerika (wo es seit 1950 existierte) geschafft. Nach den beiden Anfangsjahren hatte man eine Balance der Ansprache erreicht: Einerseits war eine gewisse Akzeptanz erreicht, der Nachweis, dass man das Schaugespräch durchaus menschenfreundlich gestalten konnte, dass man es sich gar zu einem angenehm frechen Seitenstückchen von Aufklärung ziehen konnte. Andererseits wollte man auch einen potenziellen Gehalt an Skandal nicht aufgeben. Einer der geladenen Gäste, Prominenter oder Alltagsmensch, konnte die Contenance verlieren, irgendetwas „enthüllen“ oder mit anderen in Streit geraten. Zwischen diesen beiden Polen, Gewöhnung und Hysterie, Gemütlichkeit und Aggression, entwickelte sich das Format, und damals konnte man sich nicht vorstellen, dass es einmal die schlimmsten Befürchtungen gegenüber dem Medium erfüllen sollte. In „3 nach 9“ waren diese Elemente noch in einem neugierig unschuldigen elektronisch-sozialen Urzustand vereint. Fernsehen als offene Kunstform.

Zu Beginn dieses Jahres 1976, in dem „3 nach 9“ endlich durch die Übernahme aller Dritten Programme bundesweit sichtbar wurde, waren im noch einigermaßen überschaubaren Programmangebot an die hundert neue Talkshows in Planung. Man durfte sich in einem aufregenden Modernisierungsprozess in einem Medium fühlen, das bis dahin ziemlich kultiviert, aber auch langweilig seinen Auftrag von Bildung, Information und Unterhaltung erfüllte. Die Talkshow war die erste Programmform, in der etwas geschehen konnte, was zugleich unerwartet und bedeutungsvoll sein konnte. Der öffentliche Flirt zwischen Romy Schneider und Burkhardt Driest erschien da schon als ein frivoles Symptom der erfolgreichen Liberalisierung gesellschaftlicher Codes (und der Fähigkeit des Fernsehens, dazu etwas beizusteuern). Und man durfte das Gefühl haben, es seien genau die richtigen Leute, die sich über die Respektlosigkeit der Talkshows aufregten. Vielleicht konnte man ja auch mit Talkshows „mehr Demokratie wagen“.

„3 nach 9“ aber war immer noch etwas Besonderes; hier war immer was los, was mit den Konfliktfeldern der Gesellschaft zu tun hatte. Neben manchem Desaster und manchen hübschen Nichtigkeiten eroberte sich die Sendung den Status einer Medien-Legende. Das heißt: Es war eine jener Sendungen, die bedeutender wurden, als sie sein wollten. In dieser Sendung, die man gern als gesteuertes Chaos bezeichnete, kam tatsächlich so etwas wie ein gewandeltes Selbstverständnis des Mediums zum Ausdruck: Mittendrin statt von oben herab, reagierend statt geplant, offen in formaler und inhaltlicher Hinsicht benutzte das Fernsehen endlich genau jene Mittel, die nur ihm zu Eigen sind.

Der neue Geist repräsentierte sich auch in den Moderatoren Wolfgang Menge, Marianne Koch und Gert von Paczensky. Es war die erste, unbekümmerte Generation jener, die glaubten, Aufklärung und Pop-Kultur miteinander verknüpfen zu können, Adorno hin oder her. Und es sollten in „3 nach 9“ Vertreter weiterer Generationen diesem Konzept folgen, 38 waren es insgesamt, und mit Amelie Fried und Giovanni di Lorenzo sind immer noch die angemessenen Kultur-Helden am Werk. Nur die Unbekümmertheit ist weg.

Die Sendung war ein schöner Ausdruck der Unruhe jener Jahre und vielleicht auch der Suche nach dem Heilsamen in dieser Unruhe. So wurde eine Gruppe Autonomer, die ins Studio eingedrungen war, zum Mitdiskutieren eingeladen, man sprach Worte wie „Erektion“ und „Kapitalismus“ aus. Und auch als man sich zurückzunehmen begann, da ja niemand ewig im Zustand der Pubertät verharren kann, war „3 nach 9“ für kleinere Akte des humanistischen Einspruchs gut. Da hatte man sich längst von der Mediensensation zum spätabendlichen Refugium des etwas freieren Wortes gewandelt. Das Format Talkshow freilich war nicht mehr zu retten.

Übrigens hätte man schon durch die öffentlichen Reaktionen auf das Genre gewarnt sein müssen: Talkshows, so scheint es, bringen vor allem die verborgene Gehässigkeit der Menschen hervor. Wenn sie es nicht bei den Menschen vor der Kamera tun, dann bei Zuschauern, die gerne böse Briefe schreiben, und spätestens beim Wortfluss der schreibenden Zunft. Jedenfalls war es bis in die 80er hinein bei den Feuilletonisten üblich, die so genannten „Talkmaster“ mit mindestens doppelt so viel Häme zu überziehen wie diese in ihrer Sendung zuließen. Dann aber kamen die Hysterisierung der Schmuddel-Talkshows, die merkwürdige Intimität à la Beckmann oder Fliege und die Verwandlung von Talkshows in Wahlkampfarenen. Und schon fiel der Kritik nicht mehr viel ein. Was auch? Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Booms ist aus einer Übung in medialer Demokratie im Mainstream des Genres ein öffentliches Schamlosigkeitstraining geworden.

Liegt das im Wesen des Formats oder liefert unser Fernsehen nur wieder genau das, was wir verdienen? Offensichtlich ist eine Talkshow doch etwas anderes als das, was Reinhard Münchenhagen meinte, der Dritte, der nach Schönherr und Rosenbauer, im Ersten als „Talkmaster“ geopfert wurde: „Wenn Menschen, die sich nicht langweilen, miteinander reden und wenn das Fernsehen dieses Gespräch zeigt, dann würde das bedeuten – to show a talk oder kürzer Talkshow.“ Nun ja. Mit solcher Nettigkeit war bald keine Show mehr zu bestreiten. Die Talkshows wurden zu verbalen Kampfspielen und mussten statt auf Verständnis auf Sieg oder Niederlage hinauslaufen. Das Format Talkshow definierte ja das Eingreifen und Gewährenlassen, immer ging es darin weniger um Inhalt als um die Form als Modell sozialer Prozesse. Wie wichtig nimmt sich der Gastgeber, wie sehr überlässt er seinen Gästen das Geschäft und die Freuden der „Unterhaltung“? Ihre Tücke oder die des Mediums, mag darin liegen, dass man den ohnehin nicht mangelnden Exhibitionismus der Gäste weiter- treibt. Eine „gelungene“ Talkshow ist eine, in der jemand etwas gesagt hat, was er gar nicht sagen wollte. Je älter sie wird, je geistig ärmer, desto raffinierter wird die Talkshow als Machtspiel. Die kleine Utopie von „3 nach 9“ ist es geblieben, statt solcher sadistischer Rituale kleine Modelle von Demokratie zu setzen. Gelingen kann auch das nicht immer.

Der Regisseur von „3 nach 9“ war zunächst Michael Leckebusch, der im „Beat Club“ schon einen Hauch von Pop vermittelt hatte. Was schön ist an „3 nach 9“, das könnte man vielleicht die „Musikalität“ der Inszenierung nennen, einen „Beat“ der Wechsel und der Harmonien. Es war das (dann doch nicht ganz einzuhaltende) Versprechen, diese Art von Talkshow zu Pop zu machen. Pop, wo sich das Abgehobene mit dem Trivialen, Theorie mit Stil treffen mag. Chaotisch, aber nicht zufällig. Leicht, aber nicht doof.

„Es soll hier ganz gemütlich sein“, versprach Dietmar Schönherr in seiner Talkshow „Je später der Abend“, die bereits ein Jahr vor „3 nach 9“ auf Sendung ging. Und „Gemütlichkeit“ (wie in Kulenkampffs „Feuerabend“) und Freundlichkeit wie bei Alfred Biolek besetzte die biedermeierlichen Nischen, während es nebenan unappetitlich wurde. Die ursprüngliche Offenheit des Formats von „3 nach 9“ war nicht aufrechtzuerhalten. Stattdessen hieß es, sich gegen die Rüpelhaftigkeit auf der einen und den Vertraulichkeitskitsch auf der anderen Seite abzugrenzen.

Das Genre war in den 80ern in die drei Aspekte zerfallen: die hemmungslose Selbstvermarktung der Prominenten, die populistische Verbreitung politischer Floskeln und schließlich die öffentliche Verhandlung des Privaten. Es ist, kurz gesagt, das Format zerfallen in die jeweiligen Parodien von Verkaufsgesprächen, Wahlkampfveranstaltungen und Sexshows. Meister ihres Fachs, auf Seiten der Gäste und der Gastgeber, sind solche, denen es gelegentlich noch gelingt, das eine mit dem andere zu maskieren oder Momente von menschlicher „Lockerheit“ zu erzeugen, die kurz vergessen machen, dass man sich inmitten einer Kulturkatastrophe befindet, nein, Unsinn: der Parodie einer Kulturkatastrophe.

Und schon an Weisheit mag es grenzen, wenn sich Gastgeber und Gäste ihrer prekären Situation bewusst werden, wenn sie Erwartungen durchbrechen können. Wenn sie sich, mit aller Mühe, ein Stück von der verlorenen Leichtigkeit, Unschuld und Wahrheit wieder erobern. Auch das kommt vor in „3 nach 9“.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Der Tagesspiegel, 05.11.2004