Ein Helau für die Entkarnevalisierungs-Maschine

In der westlichen Mitte unserer Republik gibt es einige Städte, deren unglückliche Bewohner vor die Erreichung der eigentlichen Triebziele im allwinterlichen „Karneval“, nämlich Alkoholrausch und Geschlechtsverkehr (in der Regel indes eher missglückte Vermischungen von beidem), eine Reihe merkwürdiger Rituale gesetzt haben. Dazu gehört etwas, was man eine „Prunksitzung“ nennt. Sehr viele Menschen verschiedenerlei Geschlechtwagns sitzen schwitzend in kindlich bunten Kleidungen an langen Tischen und nehmen schon einmal das eine oder andere alkoholische Getränk zu sich, während auf einer Bühne vorn so genannte Büttenredner scherzhafte Reden führen. Damit man weiß, wo man besonders anhaltend lachen muss, spielt eine Blaskapelle einen Tusch; wenn man nicht rechtzeitig mit Lachen oder Klatschen aufhört, wiederholt die Kapelle dieses bedrohliche Dä-dää-dä-dää-dä-dää, welches nur den eingefleischtesten „Karnevalisten“, auch „Närrinnen und Narrhalesen“ genannt, als musikverwandtes Geräusch erscheint. Diese Büttenredner, meist in noch buntere und kindischere Gewänder gehüllt als ihre Zuhörer – besonders beliebt scheinen Herren in Damenkleidern -, erzählen nun „Witze“, die man in sechs Kategorien einteilen kann:

1. Alkoholrausch und 2. Geschlechtsverkehr (bzw. die verunglückte Verbindung von beidem), 3. Entleerungsvorgänge des menschlichen Körpers und 4. die Dummheit so genannter „Ausländer“, die entweder kriminell oder debil sind. Was ist, wenn ein Pole und eine Holländerin ein Kind bekommen? Da haben wir einen Menschen, der Autos klaut, aber nicht fahren kann. Dä-dää-dä-dää-dä-dää! Besonders komisch sind weiterhin Sätze, in denen die Worte 5. „Schwiegermutter“ und 6. „Finanzamt“ vorkommen. Kurzum: Die Maskierung der primären karnevalistischen Triebziele, Vollrausch und Geschlechtsverkehr, wird in den Büttenreden verbunden mit einem durchaus auch „politischen“ Abwehrzauber. Weniger distanzierte Beobachter könnten wohl behaupten, es handele sich um nichts anderes als die Verbindung von Obszönität und Rassismus. Im Saal großzügig verteilt befinden sich einige Damen, die durch ihr sagen wir: ein wenig enthemmtes Gelächter signalisieren, dass sie die primären Triebziele des praktischen Karnevalismus, Vollrausch und Geschlechtsverkehr, nicht vergessen haben, vielmehr entschlossen, beides einmal mehr zu verbinden – ich wage nicht zu entscheiden, in welcher Richtung.

Die Darbietung der sechs immergleichen Witze der „Büttenredner“ wird immer wieder unterbrochen. Einerseits durch die Auftritte von Menschen verschiedenerlei Geschlechts, welche Kinder- und Sauflieder zum Besten geben; einige von ihnen rühren die Damen, die eben noch durch ihr Gelächter signalisiert haben, dass sie die primären Triebziele ihres Karnevals nicht vollständig vergessen haben, zu den Tränen einer Art postkoitalen Depression, und auch die Herren starren nun stumm vor sich hin, bevor sie das nächste alkoholische Getränk bestellen. Aufgehoben wird diese emotionale Spannung in einer gemeinsamen Aktion, die man „Schunkeln“ nennt. Die Menschen verschiedenerlei Geschlechts haken sich dabei im Sitzen unter und bewegen sich rhythmisch hin und her. Es ist einerseits eine Art des Tanzes für Menschen, die aus räumlichen oder alkoholischen Gründen nicht mehr auf die Beine kommen, andrerseits, – nun ja, wir wollen nicht auf den primären Triebzielen des Karnevals herumreiten. Glücklicherweise wird auch diese Darbietung unterbrochen; hinter den Vortragenden nämlich sitzen Herren in Anzügen, die sich bemühen, in dem kindischen Trubel umher als Respektspersonen zu erscheinen. Sie tragen seltsame Kappen und schwer erscheinende „Orden“ um den Hals, die sie gelegentlich auch an Anwesende verteilen; sie grüßen auf eine merkwürdig militärische Art und fragen immer wieder das begeisterte Publikum, ob man den nächsten Büttenredner oder die nächste Sängerin nun hereinlassen solle. Mir ist nicht bekannt, dass das Publikum jemals jemanden hätte draußen stehen lassen. Und noch ein Programmpunkt ist unerlässlich für das Ritual einer „Prunksitzung“. Eine Gruppe von bunt uniformierten Damen wirft im Takt der (mehr oder weniger) Musik die Beine in beängstigende Höhen, um dem Publikum zu zeigen, dass man unter den etwas knappen Röcken durchaus einen Slip trägt. Nun ist es an den Herren, in Begeisterungsstürme auszubrechen, offensichtlich schätzt man eine vollendete Demonstration, wie man Damen in sexuell konnotiertes Blechspielzeug verwandeln kann.

In einem psychosozialen Modell könnte man dieses Ritual des rheinischen Karnevals wohl als eine Oralisierung ursprünglich genitaler Impulse, gefolgt von einer Analisierung ursprünglich oraler Impulse deuten. Es ist die Schaffung eines imaginären Regressionsraumes, in dem es wohl gerade auf die Mischung und Maskierung dieser Impulse ankommt, aber auch darauf, gleichsam durch die Formen des zustimmenden Gelächters einen beängstigenden Rest der Welt auszuschließen. Wir bestimmen, wen wir reinlassen und wen nicht; kein Wunder dass bei diesem Ritual an allen Ecken und Enden menschliche Zinnsoldaten herumstehen, die aus lauter Stolz auf ihren vollen Wichs kaum noch gehen können. Dabei werden nicht nur die ursprünglichen Triebziele „aufgehoben“, es wird wohl nicht ganz unbeabsichtigt auch eine eigentliche „Karnevalisierung“ von Leben und Wahrnehmung verfehlt. Karnevalisierung, die lustvolle Enteignung und Umwidmung der Codes, ein semiotisches beggars beanquet, ist ja eigentlich, in der Kunsttheorie wie im richtigen Leben, eine tolle Sache, was man daran sieht, dass in der Geschichte der Karnevalisierung die Obrigkeit beleidigt bis aggressiv zu reagieren pflegte. Ein Karneval, der der Obrigkeit gefällt, ist indes so komisch wie die Verleihung von „Orden wider den tierischen Ernst“ an alle Politiker, die gerade nicht mit ihren Nebeneinkünften beschäftigt sind. Recht besehen also wird unter der Maskerade des Karnevals die Entkarnevalisierung der Gesellschaft betrieben. Zuerst schaffen dies die so genannten Karnevalsvereine, dann macht es der mediale Transfer, das Fernsehen vor allem, den Rest erledigen die Vermarktungszyklen der großen Einzelhandelsketten. Scheinbar parodiert, in Wahrheit aber ersehnt, kehren die Ordnungen zurück, wiederholen sich ökonomische, politische, semiotische und gar auch militärische Formen der symbolischen Ordnungen im entkarnevalisierten Karneval. Der wahre Schrecken einer „Prunksitzung“ aber ist ihre Länge. Wer je eine „Prunksitzung“ in Mainz, Köln oder Düsseldorf mitgemacht hat, dem wird, zumindest was dies anbelangt, vor einer Wagner-Oper nicht mehr grauen, auch wenn dort die Evozierung primärer Triebziele etwas oversophisticated vor sich geht und die Einnahme alkoholischer Getränke bei weitem schwieriger zu bewerkstelligen ist.

All dies nun wäre in der binnenethnologischen Forschung nichts anderes als eine freundliche Marginalie, zivilisationsgeschichtlich etwas unterhalb eines kannibalischen Ahnenmahls und doch noch einiges über einem Besuch des Münchner Oktoberfestes angesiedelt. Aber seit fünfzig Jahren wird dieses Ritual nun im Fernsehen übertragen und ist seitdem ein bedeutender Teil der deutschen Leitkultur. Dä-dää-dä-dää-dä-dää!

Die Folge davon ist nicht nur die Produktion so genannter „Straßenfeger“, also eine Versammlung deutscher Menschen in ihren Innenräumen zum Zwecke mehr oder weniger gemeinschaftlicher Verfolgung allgemein zugänglicher, elektronisch verbreiteter audiovisueller Rituale, sondern auch die Tendenz, bis in das abgelegenste fränkische Bauerndorf eigene „Prunksitzungen“ abzuhalten, was an komischer Tristesse nur durch den Versuch überboten wird, mit den Traktoren der letzten drei Bauern im Dorf und der Feuerwehrkapelle einen „Karnevalsumzug“ zu organisieren. Die TV-Übertragung der Prunksitzungen ist nur insofern kein „Straßenfeger“ mehr, als durch die Multiplikation einander einigermaßen gleicher „Sender“ auch das karnevalistische Material inflationiert wurde. Wer eine Narrenkappe aufsetzen und einen schlechten Witz erzählen kann, kann auch eine Karnevalssendung bestreiten, denn was für das eigentliche Event gilt, das gilt auch für die mediale Verlängerung: Es kommt nicht auf „Qualität“ an (übrigens nicht einmal auf die der alkoholischen Getränke), sondern auf die Erzeugung von wärmendem Einverständnis. Im Jahr 2003 zählten die Programme 192 „größere (!) Karnevalssendungen“, 2004 waren es bereits 238, und im Jubiläumsjahr 2005 wird selbst diese Steigerungsrate voraussichtlich übertroffen. Fernsehen ohne Karneval ist derzeit einfach nicht drin.

Die gemeinsame Geschichte von Fernsehen und Karneval, genauer gesagt dessen, was die Organisatoren die „Saalfastnacht“ nennen, beginnt eigentlich schon in den zwanziger Jahren, als das deutsche Radio karnevalistische Ereignisse zu übertragen unternahm. Dies hatte zweifellos für das Selbstverständnis der Beteiligten solche Bedeutung wie die große Karnevalsreform des Jahres 1823, wo man den Karnevalsriten des Volkes ihre feste, durch Vereine geregelte und von der Obrigkeit akzeptierte Form verlieh. Nun nämlich war man nicht mehr wirklich unter sich; sowohl die sexuellen als auch die politischen Attacken mussten im Sinne einer größeren Öffentlichkeit kontrolliert und gemildert werden. Goebbels‘ „Reichsrundfunk“ musste schließlich in der „Saalfastnacht“ perfektes Sendematerial sehen, wenngleich er damals nicht immer politisch so „störungsfrei“ funktionierte wie er es heute tut. In der Zeit des Wiederaufbaus gehörten Karnevalssendungen in den regionalen Radio-Programmen zum Trostangebot, das die kulturellen Regelkreise wieder in Gang setzte. Und am 17. Februar des Jahres 1995, dem Donnerstag vor Fastnacht, war es dann so weit! Die erste Fernsehfastnacht bestand noch aus einer „Konferenzschaltung“ zwischen den „närrischen Hochburgen“. In den darauffolgenden Jahren aber gehörten die Direktübertragungen der Prunksitzungen neben Sportereignissen und Francis Durbridge zu den Gründen, sich zu Eierlikör und Salzstangen ins Wohnzimmer der Nachbarin oder Tante einladen zu lassen, oder gar den Gedanken an die Anschaffung eines eigenen Fernsehgeräts zu erwägen. Es gibt Kinder, der Verfasser dieser Zeilen gehört dazu, die zu Beginn der sechziger Jahre bleibende Schäden an Seele und Körper (Eierlikör! Schlafentzug! Passivrauchen!) durch die zwangsweise Teilhabe an der Direktübertragung einer Prunksitzung in voller Länge erhielten.

Die Kulturgeschichte von Fernsehen und Karneval ist durch Vereinigungs- und Spaltungsprozesse geprägt. In den fünfziger und sechziger Jahren war es notwendig, dass sich mehrere Karnevalsvereine in den „närrischen Hochburgen“ zusammentaten, um den organisatorischen Aufwand für eine fernsehtaugliche Sitzung wie „Mainz wie es singt und lacht“ zu stemmen. Solch ein Zusammenschluss wirkt sich natürlich auch auf Angleichung und Entregionalisierung des Programms aus. Überdies entwickelte sich in wenigen Jahren gar so etwas wie ein Star-System, das schon frühzeitig dem Amateurgedanken im rheinischen Karneval den Garaus machte. Ernst Neger, die Mainzer Hofsänger, ein gewisser „Bajazz mit der Laterne“ – eine Art rechtsdrehendes Rumpelstilzchen der Post-Adenauerzeit, Herbert Bonewitz oder Toni Hämmerle begleiteten die Republik auf dem Weg vom gemütlichen postfaschistischen Beamtenstaat zum Krisenkapitalismus. Als schließlich längst jeder sein eigenes Fernsehgerät besaß, hatte die Saalfastnacht auch schon ihre eigene Fernsehform gefunden, nicht nur ästhetisch, sondern auch kulturell. Die Verbindung von Karneval und Fernsehen schuf ein perfektes Konsens-Mittel. Hier begegnete und feierte sich die Mitte, der Regressionsraum konnte sich im jeweils benötigten Rahmen „nationalisieren“. Nur ganz kurze Zeit in den siebziger Jahren kamen einige kritische Medien darauf, Bedenken gegenüber den verborgenen „rechten“ Botschaften aus der Bütt zu äußern. So laut, immerhin, war die schweigende Mehrheit ja sonst nie. Aber auch das versendete und nivellierte sich. Denn einerseits wurde das Fernsehen, das hierzulande als eher behäbiges Bildungsmedium begonnen hatte, durch den Karneval volkstümlich und eben karnevalisiert. Auf der anderen Seite musste der Karneval durch den Einfluss des Fernsehen zivilisierter und kontrollierter werden, man könnte auch sagen: Er musste sich weitgehend entkarnevalisieren. Schließlich zeichnete die „Gesellschaft der Freunde des Fernsehens“ 1957 die Sendung „Mainz wie es singt und lacht“ als bestes Unterhaltungsprogramm des Jahres aus. Heute besteht Deutschland beinahe nur noch in der Form einer Gesellschaft der Freunde des Fernsehens, und sie zeichnet die mediale Saalfastnacht mit der Betätigung des Einschaltknopfes aus. In der Phase der Privatsender freilich mussten sich, nicht nur wegen des offenkundigen Programmhungers, die Formen wieder differenzieren. Zum Teil bedeutete das auch, dass die wechselseitige Zivilisierung von Karneval und Fernsehen wieder rückgängig gemacht wurde. Kleine und große Sendeformen wechseln sich ab, und auch wenn überall die selben Leute die selben schlechten Witze erzählen und die selben furchtbaren Lieder singen, so wird uns doch die mediale Imitation des Regressionsraums im entkarnevalisierten Karneval niemals zu viel. Und an Saal-Publikum fehlt es der Fernsehfastnacht auch nie. Die Prominenz bezahlt gern, wenn auch nicht für die blöden Witze, so doch für die Anwesenheit der Fernsehkameras. Und Zuschauer gibt es, weil es sonst nichts besseres zu tun gibt, in Massen. So trostlos ist unsere Welt.

Autor: Georg Seesslen