thekid350Falls Kommunikation hauptsächlich im Modus der Lüge funktionieren würde, wäre es dennoch fraglich, ob dieses Verfahren Kommunikation als singuläre und plurale Anschließbarkeit von Kommunikation ausschließen würde. Kommunikation – beileibe keine Operation, welche durch Themen und Inhalte, d. h. durch Fremdreferenz voranschreitet, obwohl ohne Fremdrefenz keine sachliche oder zeitliche Bindung der Kommunikation möglich wäre –, findet u.a. statt, weil jede Beschreibung so far durch eine Beschreibung from now on beschrieben und durch weitere Beschreibungen fortsetzungsfähig gemacht wird; womit jede Beschreibung die Identität eines Sachverhaltes nachträgt, d.h. die Aktualität der Beschreibung je schon folgt und folgend zu spät sein wird; Bedeutung oder Bestimmung sind im Procedere der Verschiebungen aufgepropft; es sind die derridaschen Supplementierungen, die Beschreibungen oder Äußerungen zuallererst transportieren, indem sie aus Lärm den selektiven Lärm der Äußerungen herausschneiden, um ihn weiter zu modifizieren. Es geht um Kommunikation, die keine isolierbaren Elemente kennt, denn das Zeichen ist nie an einer Stelle, es ist immer schon konstelliert. Im namenslosen Dazwischen wird Bedeutung mit Hilfe von Zeichen konstruiert, die niemals sind, was sie zu sein vorgeben, wobei dieses Wandern auch heißt, dass die Zeitstellen ihre Orte verlassen, ohne dass wir selbst das wahrnehmen (Luhmann). Der Operator wühlt permanent im Text, der sich in einem nicht abschließbaren Gewebe anderer Texte befindet, wie eben auch die komplexe, die kreative/innovative Lüge mit all ihren Variationen verrutscht oder auf der sprachlichen Rutschbahn metonymisch gleitet, während die schäbige, ja, die nette bis offensiv gutmütige Lüge im Strom der hegemonialen Diskurse reversibel zu mutieren scheint; von Marketing- und Werbeagenturen im medialen Feld etabliert, insistiert die (schlechte) Lüge im paradoxen  Modus als Wahrheitsdesign einer durch Iteration erzeugten Medien-Aktualität, wobei die Iteration das je durch Aktualität Überschriebene in Vergessenheit bringt, das seinerseits bereits Vergessenes überschrieben hatte (vgl. Wolfgang Hagen). Der Konsens der Vernünftigen, der mit vielfältigen Flexibilisierungsstrategien arbeitet, funktioniert durch eine Vielzahl von Dispositiven.

Der Konsens, worauf die Kategorie »Wahrheit« in der Gegenwart zusammengeschmolzen ist, lebt ganz von der Fähigkeit der Individuen, sich gegenseitig an der Konstruktion von explosivem Gedankenmaterial, Einsprüchen, Widerständen und selbst Idiosynkrasien zu behindern, indem man per se die Reziprozität der Interessen sowie die freie Zirkulation der Identitäten unterstellt (und damit die ontologische Kategorie des Antagonismus ausschließt). Dazu bedarf es eines projektorientierten Settings aus Krisen- und Risk-Management, das ein homogenes Feld erschließt, welches in unendliche Nuancen gebrochen und vervielfältigt wird. Unter dem Regime der Norm wird jedes Strategem/Subjektivierung in den Dispositiven und digitalen Netzwerken normalisiert, was die Supraleitfähigkeit der Normen garantiert. Dazu bedarf es bestimmeter Verfahrensweisen und Technologien, um Selbstpraktiken, Selbsttechnologien und vorübergehende Rollenflexibilitäten sowohl zu kontrollieren als auch zu konstruieren, und dieses Machtgefüge inkludiert auch, dass die Einzelnen en détail mit Hilfe klischeehafter, mythologischer und »schlechter« Lügen arbeiten, die sie allerdings Wahrheit nennen.

Wahrheitsproduktion korrespondiert bzw. koexistiert mit diversen Meinungspolitiken, insofern die Produktion bzw. Evaluierung der Meinungstrends, seien es Retro- oder Futuretrends, immer das Spiel mit der Paradoxie verlangt, nämlich dem Wandel zu folgen und sich je affirmativ zum aktuellen Spektakel der Skurrilitäten und Peinlichkeiten zu verhalten. Dieses akklamierende Spektakel, das das reine Regierungshandeln begleitet, inhäriert den Imperativ der Demokratie, auf eine zentrale staatliche Zensur zu verzichten, eine Vielzahl von Differenzen in Bezug auf die Norm zuzulassen, die ein Geflecht von Filtern durchlaufen, wobei die Masse zu einer reinen Absorptionskraft gerät, deren ausbleibende Positionsbestimmung als fehlende Rückkoppung der kybernetischen Informationsmaschinerie die Legitimation gibt, Meinungen qua Statistik und Umfrage permanent zu erzeugen. Hierin operiert die »schlechte«, die zuschlagende oder gar aufrichtige Lüge damit, dass sie in der ihr eigenen Dreistigkeit glaubwürdiger erscheint als die zaudernde oder innovative Lüge, die ja wie der Humor mit der Macht des Falschen spielt, um Formgebungen zu transformieren, womit auch die Wahl offen bleibt, zu wählen oder nicht zu wählen, d.h. im Procedere von Entscheidungen Selektionen, ja Selektionen der Selektionen zu inszenieren, welche ein experimentelles, ein unbestimmtes Feld eröffnen.

Das aktuell praktizierte Self-Fashioning und Self-Projecting, das durch vielfältige Angebote der Authentizitätsindustrie und deren Echtheitsgelüste modelliert wird, hat den Komparativ durch den Superlativ ergänzt: Die glaubwürdigste Lüge ist immer die ehrlich gemeinte Lüge, die allerdings eingeübt werden muss, ohne dass die Beteiligten etwas davon mitbekommen sollen, wobei das Dispositiv der neurobiologisch inspirierten Wissens- und Wahrheitsdiskurse komplementär dafür sorgt, dass die wahrheitsfindenden Selbste immer flexibel bleiben, ohne die Idee zu denken, dass die Dinge in einer schmutzigen Außenwelt verstreut sein könnten, an denen winzige Fetzen Gehirn kleben. Die Bilder sind in der Welt, eine Tatsache, an der selbst ein Transeidetiker  geradezu verrückt wird. Und ein zweiter Aspekt lässt ihn verrückt werden: Erkenntnistheorie hat mit der Wahrheit als Verifizierung einer Möglichkeit nichts zu tun. Die Lüge steht niemals still, sie gebiert einen unsterblichen Parasiten. Es ist so, als ob der Film hier in einer fremden Sprache – falsch – untertitelt ist, aber es niemandem auffällt, weil die Sprache ja auch zum Film passt. Wenn es Fakten (Potenziale, die sich in aktuelle Gelegenheiten verwandeln; Whitehead) gibt, dann kommen sie oft wie Fälschungen daher, welche die Macht oder das Potenzial besitzen, jede skulpturale bzw. feste Form zu transformieren oder gar aufzulösen, weil sie einen Bruch ausdrücken, der von Gesichtspunkten geschaffen wird und als Schaffung von Neuem/Wahren Gestalt annimmt. Fälschungen sehen zwar wie frisch geborene, singuläre Fakten aus, aber wie sie ausgesprochen und inszeniert werden, sind sie besonders  immer schon die medial fabrizierten Fakten eines Regimes der Fiktionen, dass die wahren Fälschungen sowie deren Potenziale stilllegt oder begrenzt. (Es sind steingewordene Fakten, die kaum provozieren.)

Um es mit den Worten des Schriftstellers Aragons zu sagen, der den Autor auffordert zu lügen, um Wahrheit zu schaffen, eben die Dinge wahr-zu-lügen: »Die Realisten der Zukunft werden immer mehr lügen müssen, um die Wahrheit zu sagen.« Man muss sich also zuweilen taub stellen, oder die Kommunikationslosigkeit einklagen, um der Gewalt des Konsens sowie der Logik der (neuronalen) Flexibilisierungsstrategien der Meinungsmaschinerien innerhalb der medialen Wahrheits-, die immer auch Lügenpolitiken sind, zu entkommen. Die Produktion des Wahren im Denken entspricht der Konstruktion eines Problems. Ein äußerst spezifisches Lügen kommt also, weil ihm die das Problem der Wahrheit und seiner Genese bekannt ist, dieser unter Umständen selbst näher als beispielsweise die obligatorische Aufrichtigkeit, die das Reich der Lüge negiert, aber selbst höchst verlogen ist und die höhere Potenz der Lüge nicht zur Kenntnis nimmt und infolgedessen nicht nutzen kann.

 Achim Szepanski

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