Wo ist David Beckham, wenn wir ihn endlich mal brauchen?

Die ersten PLAYMOBIL-Figuren waren Kanalarbeiter. Hellblaue Rechtecke mit Armen, Beinen, ausdruckslosem Lachen, zackigen Haaren und einem Helm. Es waren theoretisch Männer, und sie besaßen theoretisch Hände. Bald kamen Polizisten, Feuerwehrmänner und Ärzte dazu, um das angeblich echte Leben nachzuspielen. Und als Ausgleich dann Indianer, Ritter und Zirkusartisten. Schon bald gab es ausgewiesene Frauen, die noch etwas seltsamer aussahen, und Kinder. Kurz: Die immer noch größtenteils anonymen Köpfe hinter den Plastikhaaren wussten immer, was sie taten (ob das nun besonders schön und inspirierend war oder nicht), und anfangs wollten sie deutlich, Zinnsoldaten hier und Puppenhäusern da, eine moderne Alternative entgegen setzen. Charme entwickelte das erst mit der Wiederholung des immer gleichen Gesichtsausdrucks und der cleveren Konstruktion von kleinsten gemeinsamen Nennern für Ritterburgen, Indianerzelte oder später Raumschiffe. Aber es war ein konsequenter Entwurf. Mittlerweile haben manche PLAYMOBIL-Figuren filigrane Zehen, es gibt in dieser Welt angeknickte Blütenblätter und winzige Mäuseohren (was auch mit den neuen Möglichkeiten bei der Gestaltung von Plasik zu tun hat). Es gibt Puppenhäuser und Drogendealer, und vor etwa zwei Jahren beglückte die Firma die Spielzeugläden mit Doppelaufstellern für zwei neue Spielwelten: ein trübpastellfarbenes Reich der Nixen, und die grimmige Welt von erdfarbenen Raubrittern. Die Nixen (niemand schien sie wirklich schön zu finden) waren, vorsichtig formuliert, beeinflusst von Disneys „Arielle“, und offensiv rosa, barbielastig und mit ihren Haaren beschäftigt. Die Raubritter schnitten böse Gesichter, ihre Schwerter und Morgensterne hatten immer eine unangenehme Scharte zu viel, und auf ihren Schilden prangten Phantasie-Runen. Die Rechnung ging auf, eine Zeit lang. Vor Kindergeburtstagen wurde, bei Abwesenheit konkreterer Wünsche, nach Nixen für Mädchen und Rittern für Jungen gegriffen, und Mädchen wollten nicht mit Rittern spielen, Jungen nicht mit Nixen. Doch nicht alle Spielzeuggeschäfte führen PLAYMOBIL, und nicht alle Eltern kaufen es, und für diese gab es ein Alternativprogramm: das eher zum Rollenspiel und zur Alltagsbegleitung einladende Merchandise der Welten von „Prinzessin Lillifee“, der Barbie für Bahnfahrer, hier und von „Käpt‘n Sharky“ (leider kein Bezug zu Fil Tägert) da. Kinder wurden als rosa Prinzessinnen und Schwarze Piraten angesprochen, und es gab nie einen Zweifel, wer sich von was angesprochen fühlen sollte. Lilifee, eine Emily Erdbeer mit Korkenzieherlocken, die sich in einem rosa Königreich langweilt, bekam als konkret fassbare Kinderbuchgestalt auch noch einen wirklich gelungenen Kinofilm verpasst, in der sie sich der existentiellen Frage widmen durfte, ob wirklich alles immer rosa sein muss. Käpt‘n Sharky ist dagegen eher ein geheimbündnerisches Codewort (und manchmal ein Junge mit Piratenhut).

Schlafanzüge werden beinahe ausschließlich in rosa und blau angeboten, genau wie CD-Player oder Fotoapparate für Kinder. Kinderzeitschriften sind nur für die Allerkleinsten bunt, und selbst dann sind entweder die BBC, der Kika oder der Children‘s television workshop im Spiel, ansonsten gibt es dutzendweise rosa (darunter auch gleich mehrere Magazine und ein Stickeralbum zu „Prinzessin Lilifee“), und hier und da schwarz (darunter auch Käpt‘n Sharkys „Abenteuermagazin für coole Piraten“). Die „Micky Maus“– „Die größte Jugendzeitschrift der Welt!“ – tendiert eher zu sinnfrei auf dem Titelbild verstreuten gekreuzten Knochen, aber erlaubt sich hier und da auch einmal rosa. Eltern, Erzieher und selbst mit Kinderprogrammen in den Medien beschäftigte Menschen erklären, das liegt an den Genen.

Wer sich beschwert, sind verblüffenderweise ausgerechnet die Verkäuferinnen und Verkäufer in den Spielzeugläden, die sich ausnahmslos als Drogendealer zielgruppengläubiger Konzerne benutzt zu fühlen scheinen, vielleicht aus Berufserfahrung nicht an Mars und Venus glauben und den Zirkus mitmachen, weil Brettspiele für ein junges Publikum angeblich nicht mehr so gut laufen. „Zitieren Sie mich nicht!“, sagt nur eine unter mehreren Stimmen, „Aber Lillifee würde ich wirklich gerne erschießen!“

Im aufgewühlten Mittelbau der Gesellschaft ist dagegen die Botschaft angekommen. „So ein Junge hat einfach viel mehr Testosteron, klar gibt das Krach!“, erklärt ein stolzer verwandter Vater und stolzer Besitzer einiger „Jungs sind anders“ und „Jungs sind eben Jungs“-Bücher nachdenklich. Sein Sohn ist drei. „Na, Ihr Rabauken“, brüllt der feinsinnige Jurist (seine Frau verdient mehr als er) seinem ätherischen Sohn und dessen schüchternen besten Freund entgegen. „Wollen wir die blöden Mädels vergessen und eine Ritterburg überfallen?“ Hand in Hand schütteln beide verlegen die Köpfe. Jungen werden euphorisch mit Baggern und Fußbällen überhäuft, Mädchen von vielen Eltern eher zähneknirschend mit Schminkspiegel und Nagellack (ab 3 Jahre, abwaschbar). Kommerzielle Internetportale und -gemeinschaften für Kinder wimmeln von Elfen mit Haarproblemen, Wespentaille und Stöckelschuhen (dafür muss dann selbst Barries‘ bzw. „Disney‘s Tinkerbell“ herhalten, die in einem, leider sehr hübschen, Film beinahe daran verzweifelt, unweiblich für Schiffsglocken zuständig zu sein, als hätte es Captain Hook nie gegeben). Jungen werden lieber zum Sport geschickt (der ohnehin von Übergewicht bis zu Amokläufern alle Übel heilen soll – ungeachtet dessen, dass jugendliche Amokläufer häufig übergewichtige Sportvereinsmitglieder sind). „Mädchelich“ ist das Lieblingsadjektiv einer Fünfjährigen, die stärker, sportlicher und risikofreudiger ist als alle ihre Kindergartenfreunde, sich aber panisch vor Piraten fürchtet, – und vor ihren Freunden, wenn die von Piraten erzählen. Vor 30 Jahren hätte sie sich selber als Pirat verkleidet, trotz Ballett. „Den Kindern eine klare Geschlechteridentität geben.“, heißt das im Ratgebersprech, und weil niemand weiß, was das sein könnte, wird das im Alltag zu rosa und blau, Schminkspiegel und Fußball, Prinzessin und Pirat.

Auf der biographischen Ebene geht es für Eltern, die sich durch die Bank mit Ach und Krach jenseits althergebrachter Rollenverteilungen sozialisiert haben, um die reumütige Verbeugung vor einer Tradition, die sie nie gekannt haben (und nicht kennen wollten). Der weltgewandte Autositzhersteller, der seinen schreckhaften und schüchternen Sohn ausschließlich mit Grabräubern (von PLAYMOBIL) und Rittern (von SCHLEICH) beschenkt, spekuliert entsetzt über VW-Ingenieure aus Indien. Wir haben die deutsche Klassik und den Wiederaufbau verraten. Wir haben Punk gehört und fanden Androgynität sexy. Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir. Sie sollen nicht unbewaffnet und verwirrt dastehen, während die in anderen Kulturen sozialisierten Konkurrenten aus der Erdung eines bruchlosen Weltbildes heraus scharf schießen. Das sind die Sätze, die natürlich selten in der einen oder anderen Form gesagt werden, doch immer wieder ausgesprochen wird der eine, auch von Biokäufern und NGO-Bewunderern: 68 war ein Fehler. Und damit sind ausdrücklich die Geschlechterrollen gemeint (die ja nach 68 noch länger weitgehend altertümelnd intakt waren). Als die deutsche Mittelschicht einst auf Kickboards in die Zukunft und in die neuen Märkte fuhr, waren dagegen die Spielzeugläden voll von Puppen des „metrosexuellen“ Fußballstars David Beckham, und niemand wusste, für wen die eigentlich produziert wurden.

Parallel zu diesen neu geerdeten Kindern wachsen Jugendliche heran, für die solche Fragen ohnehin schon entschieden sind. Mit Spannung wird für Dienstag die 16. Shell-Jugendstudie erwartet, und längst lässt sich ahnen, was darin stehen wird (und das nicht nur aufgrund der geheimistuerischen Vorabinformationen). Gewalt, Drogen, verrohte Sexualität – alles längst nicht so schlimm, wie gerne herbeigeschrieben. Rigide Weltsichten und stereotype Positionierungen bezüglich u.a. Minderheiten und Geschlechterrollen – immer. Wir sprechen uns Dienstag. Hip-Hop und schlechter Gitarrenrock mit zart frauenverachtenden bis unerträglichen Texten haben sich flächendeckend als unauffälliger männlicher Konsenssound etabliert, dagegen abgegrenzte Popmusik ist mehr etwas für Mädchen, als es vorher jemals der Fall war, und wenn sie von Frauen verkörpert wird, singen sie alle wie Arielle und tanzen, als wollten sie in einem altmodischen Stripschuppen von der Bühne verbannt werden. Das ist mal mehr, mal weniger ironisch, aber als Befreiung empfindet es niemand, und bei den geäußerten Wertvorstellungen rollt es gewaltig zurück in die 50er Jahre. Nicht obwohl, sondern weil jede Perspektive für heutige Mädchen wahrscheinlicher ist als die der hauptberuflichen Hausfrau und Mutter, und die Jungen im besten Fall gutbezahlt am Rechner sitzen und häufig umziehen werden. Viel Aufhebens wurde in den letzten Jahren darum gemacht, dass anscheinend die Jungen zur Zeit die großen Verlierer sind – sie versagen sozial und in der Schule und zeigen größere allgemeine Verunsicherung. Je nach Laune wurden solche Befunde zum Sprungbrett für „Jetzt sind die klugen Mädchen dran!“-Phantasien oder tränenreichen Auslassungen über die falsch geforderten Jungen benutzt. Aber diese Unterschiede sind weitgehend utopischer Natur: kann Mädchen noch dann und wann erfolgreich suggeriert werden, dass sie endlich alles können und dürfen und eine historische Vorhut bilden, wissen oder ahnen Jungen, dass längst alle alles müssen und speziell sie ohne glitzernde Vorbilder historisch abgehängt sind. Männer in Elternzeit mögen eine Avantgarde sein, erst einmal verzichten sie weitestgehend auf klassische Karrieremöglichkeiten, ohne dass sich die durchschnittliche Standardbezahlung für Frauen kontinuierlich gerechter entwickeln würde. Und die Standardbezahlung (von Tariflöhnen ganz zu schweigen) hat weniger denn je mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen zu tun. Im Alter des Berufsanfangs stellt sich in der Regel heraus, dass alle falsch gefördert werden und fast alle mies bezahlt werden, und dass Geschlechterfragen dabei relativ gesehen genau so eine geringe Rolle spielen wie gute Schulnoten. Dass die heutigen Kinder und Jugendliche tagtäglich auf unvorhersehbare Art aus diesen Scheinidentitäten ausbrechen oder sie zumindest neuartig umformen, sich über den angeblichen Geschlechtergraben solidarisieren und individuell noch einmal klüger neu erfinden werden, wie es Kinder und Jugendliche nun einmal tun, steht außer Frage. Und die Sonne scheint natürlich ohnehin immer noch (bzw. stärker denn je, aber das ist ein anderes Thema). Trotzdem haben wir erst einmal Prinzessin Lilifee am Hals (und können uns dafür vielleicht wenigstens zähneknirschend auf einen weiteren interessanten Kinofilm freuen).

Erst einmal werden für Jungen in den Schulen mehr Fußbälle empfohlen, und die Firmen, die die Kinderzimmer mit rosa Krönchen und Piratenflaggen bepflastern, verkaufen nicht Designs oder Spielzeug, sondern Identität – klar, deutlich, mit fest umrissenen Zielgruppen und mit immer noch nicht vollständig übersättigten Märkten, solange noch auch nur ein Alltagsgegenstand ohne Lilifees ahnungsloses Konterfei existiert. Eine Traumsituation und ein Rettungsanker für Firmen, die für immer weniger Kinder immer mehr Konsumartikel produzieren wollen. „Später können Sie sich ja selber entscheiden.“, sagt ein nachdenklicher Vater nach dem dritten Bier, der behauptet, prinzipiell gar nichts gegen seinen Sohn im Ballett zu haben. „Aber erst einmal brauchen sie doch ein Fundament.“ Und dann kommt er tatsächlich, der verlegen herausgenuschelte Satz: „In anderen Kulturen haben die Eltern da weniger Skrupel.“ Irgendein Fundament – besser lässt sich die letzte Hoffnung manch heutiger problembewusster Eltern kaum beschreiben. Geträumt und nachgedacht wird später, eines schönen Tages, wenn die Vollbeschäftigung und die D-Mark wieder da sind. PLAYMOBIL lässt derzeit übrigens die „Meeresfeen“ und die „wilden Wolfsritter“ unauffällig auslaufen und setzt jetzt lieber auf Geheimagenten in unterirdischen Verstecken. Hat sicher irgend etwas mit Genen zu tun.


Florian Schwebel