Warum die Medienwelt nicht phantastischer, nicht realer und nicht interaktiver wird

Der (nicht mehr ganz so) neue Trend wird „Mumblecore“ genannt. Auf Videokameras gedrehte Filme mitten aus dem Alltag von New York. Die konsequente Weiterführung der Nouvelle Vague für das neue Jahrtausend. Beziehungsgeschichten, nahe am Leben, verplappert, streetsmart und zum Teil mit viel Sex, damit das jemand guckt. Die Szene ist klein und nicht so erfolgreich, wie man meinen könnte – denn die Apologeten des Web 2.0 und von youtube gucken lieber gerippte Science-Fiction-Großproduktionen. Und Mumblecore braucht das Kino, denn am Rechner sind die Sachen ziemlich anstrengend zu verfolgen, und im Fernsehen und auf DVD werden sie in absehbarer Zeit nicht laufen. Unsereins kennt das Phänomen vor allem aus dem elitäreren Feuilleton. Der bisher größte Befreiungsschlag von Do it yourself und Netzwerken braucht zur Verbreitung die Infrastruktur der etablierten und bewusst künstlichen und künstlerischen Kultur. Das spricht weder gegen das eine noch gegen das andere, nur gegen die Chimäre von der Kultur 2.0.

Zur Kultur 2.0 werden auch gerne verstärkt Projekte wie „Little Big Planet“ gezählt. „Little Big Planet“ ist ein Konsolenspiel für die aktuelle Playstation und besteht aus einem Baukasten zum Erstellen eines Jump’n’ run-Spiels. Die Spieler können extrem ansprechende Monster in Nähpuppenoptik entwerfen, und für sie weitgehend frei gestaltbare Hüpfspiele aus allem möglichen Kram. Ein großer Wurf, für die beteiligten Game-Designer. Das Spiel lebt von der hervorragenden und detaillierten Optik und dem idiotensicheren Gameplay, die selbst die dümmste Idee der Konsumenten an den Joysticks noch in einen sanften Rausch aus Farben und Formen verwandeln. Sicherlich werden beim Spiel mehr kreative Entscheidungen getroffen als bei einem Spiel über Autorennen, eventuell sogar mehr als beim Abpausen eines Zeitschriftencovers, aber selbst das feigste Kochen nach Rezept ist kreativer. „Kreativität“, diese seit dem gesellschaftlichen Siegeszug der Werbung aufgeplusterte Worthülse, ist mittlerweile auf das Niveau von der Wahl des Handyklingeltons heruntergewirtschaftet. Früher konntest du das Hintergrundbild deines Computers nicht selber auswählen und schon gar nicht selber malen. Du wärst aber auch nie auf die Idee gekommen, dass sich damit Schöpferkraft und Selbstausdruck kanalisieren ließen.

Originalität, so lässt es sich mal wild behaupten, ist durch die Netzkultur nicht hervorgebracht worden, sondern in der Fläche beinahe verschwunden. Das Copy and paste-Syndrom führt dazu, dass Texte einander immer deutlicher ähneln und talentierte junge Menschen damit beschäftigt sind, in mühevoller Kleinarbeit die Optik ihrer Lieblingsfilme nachzubilden. Die perfekte Imitation und die perfekte Parodie bilden die erste Stufe ihres aktuellen kreativen Ideals. Die zweite Stufe bilden dann individuelle Tupfer. In den 90ern mussten Journalisten noch dazu angehalten werden, im Stil der umstrittenen TEMPO zu schreiben, heute haut das Netz jedem Wortwälle in der gleichen Machart um die Ohren, größtenteils verfasst von Menschen, die Markus Peichls verblichenes Lifestyle-Magazin nie in den Händen gehalten haben. Das war die gängige Schreibe, als das Internet sich etablierte, also wird sie beibehalten. Parallel dazu existieren drei weitere populäre Netzstile: offiziös (dann wird es seriös), desorientiert faktenhuberisch (dann will man Wikipedia oder eine Fansite auf der Suche nach objektiven Gründen für das Fansein) und assig (die wundervolle Welt der Blogs und der hingerotzten Kommentare). Natürlich existieren im Netz auch mehr individuelle Stimmen, als man früher jemals vernehmen durfte, aber wer könnte die launigen zeitgeschichtlichen Essays von SPIEGEL ONLINE, ZEIT ONLINE und SÜDDEUTSCHE ONLINE voneinander unterscheiden? Und wer hätte früher nicht SPIEGEL, ZEIT und SÜDDEUTSCHE bei vergleichbaren Themen nach drei Sätzen voneinander unterscheiden können (mit welchem Gewinn auch immer)? Die freie Information, dieser herrliche Götze der fundamentalistischen Piraten, hat die Wunschvorstellung der Avantgardisten wahr gemacht: Es regnet, es schreibt, und ein Unterschied dazwischen ist kaum noch fest zu stellen.

Was tatsächlich fundamental verloren geht, ist, wie in einer fundamentalistischen Sonntagsschule, die simple Erkenntnis, was von Menschen gemacht ist und was nicht. Dass Informationen gemacht und erarbeitet werden, Wissen, Meinungen, Kunstwerke, und dass Menschen „Little Big Planet“ entworfen haben, mit mehr oder weniger genau solchen Hirnen und Händen wie denen, mit denen „Little Big Planet“ gespielt wird.

Eine der charmantesten Musiknummern der Filmgeschichte dürfte die Schlussszene von „Juno“ sein. Ellen Page und Michael Cera singen und klampfen „Anyone else but you“ von den „Moldy Peaches“ auf einer Türschwelle, angeblich mit Originalton und mit verstecktem Mikro aufgenommen in einem Take. Sie machen nichts Besonderes mit dem Song, sie brechen ihn nicht individuell, sie singen ihn nur sehr schön (und fegen damit alle Bedenken gegenüber dem guten und zwiespältigen Film beiseite). Nichts, was vor einer heute real existierenden Schulklasse, der angestrebten Zielgruppe dieses Films, Gnade finden könnte. „Sie singen nicht richtig.“, lautet dann, so heißt es, das Urteil. „Ich glaub das denen einfach nicht.“ – „In einer Casting-Show hätten die damit keine Chance“. Der interessante Punkt ist dabei weniger der, dass der aufgemotzte Schmonzes dem „Authentischen“ vorgezogen wird, sondern dass das Bemühen um „Authentizität“ im künstlichen Rahmen von castingshowerprobten Ohren nicht mehr als solches anerkannt wird. Glaubwürdiger Gesang verlangt nach einer Backstory von harter Arbeit daran (vielleicht hätten die Proben in den Film aufgenommen werden sollen) und nach den bohlengeprägten Chiffren von Emotionalität – also einem gepressten, geknödelten Gesang wie dem von einem Schlagerstar auf Koks, der seine Stimmbänder ruinieren will. Bei einem Amateurfilm von der Urlaubsreise werden wir bald die irren Computerzooms von heutigen Blockbustern vermissen, und bald genug werden neue Amateurkameras diese Zooms liefern können. Selbstverständlich ist dieses Phänomen an sich so alt wie Fotografie und Schallplatte, und doch erreicht die Definition vom Echten, vom Eigenen und Realen zur Zeit eine vielleicht durchgreifendere Verschiebung.

Eine persönliche Anekdote: Für andere war „Avatar“ ein Trip voller Quallen und  Monster. Dieser Autor arbeitet sich eher daran ab, Signourney Weaver in 3D gesehen zu haben. Selbstverständlich nicht nur Signourney Weaver, aber die Aliens erinnerten dann doch zu sehr an vergleichbar räumliche Computerspiele und Comics, und die anderen Darsteller waren nur kurz im Bild bzw. nicht so interessant. Nach Marvin dem Marsianer, dem explodierenden Daffy Duck und Coraline nun der erste „echte“ Mensch, den ich in drei Dimensionen anschauen durfte. Theoretisch keinerlei räumliches Sehen, ein harmloser Hirnfehler. Die Gespräche mit Augenärzten über die neuen dreidimensionalen Filme brachten aufgeräumte und völlig unverständliche Erklärungen. Ich werde Signourney Weaver voraussichtlich nicht, und ihrer Dr. Augustine ganz sicher nicht in der außerfilmischen Realität begegnen (und beiden nicht in 3D). Ich werde vermutlich nie das Geld haben, Menschen, denen ich begegne, in der neuen 3D-Technik aufzunehmen, und auch dann wäre die Dreidimensionalität erst beim Betrachten der Filme gegeben. Macht das Signourney Weaver realer oder irrealer für mich als die Menschen, die ich tatsächlich kenne, oder ist das eine ebenso naive Frage, wie die, ob meine Großmutter das Meer, das sie ständig und nur im Fernsehen ansah, besser oder schlechter kannte als ich, oder ob wir Oliver Twist besser kennen als unseren besten Freund? Und ist meine beruhigende Antwort auf diese Frage, nämlich dass sie irrelevant ist, und dass mir optische Eindrücke bei realen Kontakten üblicherweise in keiner Dimension sonderlich wichtig sind, naiver oder weniger naiv als die Antwort meiner Großmutter auf die Frage nach einer Reise ans Meer: „So sehe ich es besser. Ich reise nicht gern.“?

„Avatar“, ist, so lässt sich behaupten, einer der ersten Spielfilme, die die Gattung der Animation als Stilmittel für den Spielfilm vollständig integrieren. Aber vielleicht wird umgekehrt auch ein Schuh daraus: „Avatar“ ist der erste Animationsfilm, der sich zu seiner Rechtfertigung einen aufwändigen Spielfilm als Rahmen dazugebastelt hat. Den Kern des Films bilden die Animationssequenzen, die ästhetisch sehr nahe an der aktuellen Computerspielästhetik und inhaltlich sehr nahe an älteren phantastischen Animationsfilmen. Nur selten wird er nach deren Kriterien besprochen. Die neue, grässliche Weihnachtsgeschichte mit Jim Carrey und „Wo die wilden Kerle wohnen“ fordern ebenfalls bislang höchstens Diskussionen über die Animation im Spielfilm heraus, nicht aber über den Spielfilm in der Animation. Ist also ein einsames menschliches Gesicht, wie verfremdet auch immer, unser Garant für die Realität? Wollen wir echte Gesichter in Traumwelten sehen, oder wollen wir nicht mehr sehen, dass die Traumwelten Traumwelten sind? Und sind Traumwelten oder reale Welten alleine definiert über die optische Glaubwürdigkeit? Oder über die detailverliebten, stark stilisierten Chiffren von Glaubwürdigkeit? Ist es von Bedeutung, dass Jim Carrey als Scrooge eine absolut bizarre Persönlichkeit ist, während u.a. Bill Murray, Patrick Stewart und Dagobert Duck in der Rolle sehr kohärent erscheinen (vom Dickens-Text mal ganz zu schweigen)?

Der Animationsfilm, wird, so wie er in den letzten Jahren präsent war, wohlmöglich in den nächsten Jahren wieder ins Eckchen verschwinden. Die Sucht nach dem verfremdeten „Echten“ ist zu groß. Ebenso könnte es dem eindeutig definierbaren Spielfilm ergehen. PIXAR, DISNEY und DREAMWORKS werden ihre Erfolge vielleicht in Zukunft auf einer abgesicherten Nebenbühne feiern, wie DISNEY seine einst in den 50ern. Nischen werden entstehen, Gegenbewegungen, hoffentlich einige für selbstbewusste Animationsfilme (wie wird es „Nine“ und „Mr. Fox“ in deutschen Kinos ergehen?), ganz sicher neue Variationen auf die Ideen vom „Dogma ‘95“. Wer weiß, welche Dogmen aus dem Mumblecore noch entstehen.

Ist das schlimm? Alle Filmemacher wollten bisher in der einen oder anderen Form die Begrenzungen der vorfilmischen Realität überwinden. Vielleicht erreicht der Film mit Hilfe der Digitalisierung und der verschwommenen Grenzen endlich die selbstverständliche Künstlichkeit und Souveränität des Romans.

Doch verstörend bleibt die Bedeutungsverschiebung des Eigenen, Echten und des Realen, über die sich in absehbarer Zeit nur die Hersteller von Klingeltönen und die Produzenten von Castingshows freuen können. Denn das Publikum besteht zum großen Teil nicht aus den cleveren, postmodernen Spielernaturen der dekonstruktivistischen Theorie, mit denen wir gerne operieren (und genauso wenig aus den verblödeten Massen der unseligen „Unterschichtsfernsehen“-Debatte). Es sucht zum Teil in Wikipedia nach der Wahrheit, möchte zum Teil die gescripteten, abgekarteten Schauprüfungen der Castingshows als Blick ins unverfälschte Leben nehmen (und kann sich über die Frage ereifern, ob Telefonabstimmungen manipuliert werden) und möchte in seiner Ohnmacht wenigstens seine Klingeltöne selber auswählen oder aufnehmen (anstatt unter der Dusche zu singen). Und das wird die Gesellschaft weiter verändern, weiter für viele zu einem unfassbaren, unscharfen Traum mit zu grellen Effekten machen, in dem die Notausgänge falsch markiert sind.

Das bedeutet nicht das Ende des Individuums und nicht das Ende der interpersönlichen Realität. Nur viel Gemurmel, Gehüpfe und ein paar verwirrte Gedanken über Signourney Weaver beim Herumschlagen mit der Frage der erfahrbaren Präsenz; auf der Suche nach der geteilten Wirklichkeit, der subjektiven Wahrheit und der unverwechselbaren persönlichen Stimme, in welchem Medium auch immer.


Autor: Florian Schwebel

Text geschrieben Januar 2010

Text: veröffentlicht in GETIDAN.DE