Clubs, Salons, Szenen und echte Menschen

Emos sind brave Kinder. Haben keine Ahnung von ihrem Auftrag, aber erfüllen ihn trotzdem tapfer und konsequent. Emos bilden die derzeit wohl authentischste und populärste Jugendkultur, und nie war eine ernst zu nehmende Jugendkultur benommener, hilfloser, passiver. Und damit erfüllt sie ihren Zweck. Der Reihe nach: Auf die Definition eines „Emo“ können sich keine zwei Emos einigen, dennoch ist die Szene eindeutig erkennbar: Schwarzgekleidete und schwarz geschminkte junge Menschen mit schwarz-rot- oder schmutzigplatinblond gefärbten Haaren, gekleidet in plusminus Gewänder. Die Jungen geben sich meist androgyn, die Mädchen als gehoben verschlampt. Sie mögen düsteren Elfenkitsch, schwülstige Vampirsagas und Charlotte Roches „Feuchtgebiete“. Sie sehen sich als widerständige gute Menschen, die gegen eine herzlose Welt ihre Gefühle zelebrieren. Sie hören die gleiche gniedelige Gitarrenmusik wie Snowboarder, dazu manchmal auch angewagnerten Pop. Im Unterschied zu den alten Goths bzw. Dark Wavern bzw. Gruftis, von denen ihr grundsätzlicher Habitus natürlich ursprünglich stammt, kokettieren sie mit Selbstverletzung und sadomasochistischer Erotik. Sie geben sich zwar ebenfalls sensibel und arrogant, aber verzichten auf deren Bildung und Witz. In einem extrem lesenswerten Reader, der vor kürzerem im Ventil-Verlag erschienen ist („Emo – Porträt einer Szene“, Martin Büsser, Jonas Engelmann, Ingo Rüdiger und Jana Novak), wird dieses herausgestrichene Gegendenschrankgelaufen mit der Herkunft aus dem anti-intellektuellen Punk/Hardcore-Milieu begreiflich gemacht. Ich muss nicht so tun, als hätte ich William Butler Yeats gelesen, meine ALDI-Tüte sagt mir genug über das Leben. Auch die weitgehend unkreative Vorliebe der Emos für vorhandene Produkte lässt sich als Illusionslosigkeit lesen. Dark Waver bilden Clubs, Emos gründen Gemeinden. Sie lungern gerne in Gruppen auf öffentlichen Plätzen herum, als selbstgenügsame offene Wunde.

Die öffentliche Gemeinde als Modell einer Subkultur lässt sich nicht weit zurückverfolgen, vermutlich gerade mal zu den Hippies in den Parks der Metropolen. Vorher strukturierten sich leicht dissidente kulturelle Zirkel mehr oder weniger ausnahmslos durch die Strukturen von Clubs und Salons. Das war exklusiver und schützte wirksamer vor Repressionen. Beides sind Parodien bzw. Alternativmodelle zum beneideten und gefürchteten Adel.

Der Salon ist das klassische französische Modell, sein Vorbild ist Versailles. Alleine hochherrschaftliche Willkür entscheidet darüber, wer beim Café miteinander plänkeln darf. Ein Modell, das sich beliebig herunterrechnen lässt: In „Eine Liebe von Swann“ ruiniert sich der angesehene Swann in jeder Hinsicht, um dem miefigen Salon angehören zu dürfen, dem seine indifferente Geliebte zugetan ist. Mit galliger Genauigkeit schildert der Erzähler Swanns Qualitäten, die im Haus der Verdurins nicht gesehen oder gering geschätzt werden. Dass der ebenfalls zu dieser Gesellschaft dazugehörige Doktor ein Idiot ist, der aufspielende Pianist dagegen ein mittleres Genie, ist vollkommen unerheblich, solange beide im richtigen Moment den schalen Boshaftigkeiten der Hausherrin über andere zustimmen. Der so gutmütige wie abgebrühte Swann kann tun, was er will, er ist nicht auf Mme. Verdurin eingestimmt, sondern auf Odette. Damit verstößt er gegen das Prinzip des Salons und darum wird er als eine Gefahr für den Salon so gut es geht zugrunde gerichtet. Nun lassen sich beinahe alle interessanten kulturellen und politischen Gruppen in den romanischen Ländern und viele in Deutschland als Salons beschreiben – das „Cabaret Voltaire“ war ebenso einer wie Shakespeare & Company. Proust selber war salonbesessen. Trotzdem verdanken wir ihm den Finger auf der Wunde: der Sinn und Zweck eines Salons ist keineswegs geistiges Leben oder Amüsement, sondern narzisstische Befriedigung, der im Zweifelsfall alles andere geopfert wird.

Der Club in den angelsächsischen und von ihnen beeinflussten Ländern, nach dem Vorbild des Ritterordens, wenn nicht der Tafelrunde, ist dagegen eine Meritokratie. Die Rangordnung bestimmt sich nach den Verdiensten in der Welt und den Verdiensten um den Club. Während der Salon einen natürlichen Drang zur Grausamkeit hat, neigt der Club immer zur gemütlichen falschen Solidarität. Er ist die meiste Zeit damit beschäftigt, Orden zu verleihen, und statt der verführerisch liminoiden Atmosphäre des Salons herrscht hier eher der kalte Zigarrenrauch selbstgenügsamer Debatten (auch der libertärste Club hat einen Schatzmeister). Der Club ist pro forma vernünftig zielorientiert, mit dem Ergebnis, dass das Clubleben dafür sorgt, dass die Ziele ständig umformuliert oder scholastisch ausgelegt werden müssen. Theoretisch bemüht sich der Club allerdings um internen Frieden und eine freiheitliche Atmosphäre. Auch der Club hat viel Aufregendes hervorgebracht – von sozialer Gerechtigkeit bis zum Herrn der Ringe, – aber auch der Club hat geistiges Leben an sich so nötig wie einen Porzellanelefanten.

Salon und Club verhalten sich zur Aristokratie wie der Karneval zum Militär: der offenbare Wunsch, selber mal am Drücker zu sein, überlagert den kritischen Gegenentwurf. Beides sind, natürlich, städtische Entwürfe, die zu einem gewissen Teil auch einfach den Verlust der Lebenszusammenhänge auf dem Land ausgleichen sollten.

Die Moderne konnte das so nicht lange stehen lassen. Während das vormoderne städtische Leben für die meisten Menschen im Großen und Ganzen darin bestand, ohne Hoffnung auf gesellschaftliche Teilhabe, gutes Leben oder Geld mit Krätze am Straßenrand zu sitzen und aufzupassen, nicht vergewaltigt oder totgeschlagen zu werden (was in manchen Teilen der Welt nach wie vor eine Standartbiographie darstellt), konnte sich das Individuum in den westlichen Ländern nach dem Krieg zum ersten Mal relativ gefahrlos als solches begreifen.

Natürlich waren die Ideen der Eigenverantwortung und Selbstbestimmtheit nicht neu. Aber die Romantiker, die sie am Vehementesten propagiert hatten, hatten ihre Freiheit noch selbstherrlich begründen müssen – und ihre Ausbruchsversuche beinahe ausnahmslos mit einem Lebensende in Armut, Schande und Krankheit bezahlt  (nicht mal ihr brillanter Kritiker Heine entging diesem Schicksal). Die spontane Reaktion auf einen Hymnus von P. B. Shelley ist heute häufig wütendes Mitleid: waren die häufig so guten Gedichte und Ideen wirklich nicht ohne die überspannte Prophetenrolle möglich?

Die Moderne brachte dagegen den Existentialismus (der natürlich aus den Salons kam, wenn auch aus nun offen diskursiven) mit seinen versteinert selbstbewussten Heldinnen und Helden, den homo faber, Philip Marlowe. Nach dem Krieg waren das brauchbare Identifikationsangebot für die entwurzeltes Suche nach dem individuell ausgelegten Guten und Schönen, die sich mit den  Aufgaben am Großen Ganzen versöhnen ließen. Für hedonistische Angestellte gab es James Bond.

Salons und Clubs wurden zu Anachronismen. Niemand muss einem Kleinfürsten gefallen, um in ein modernes Konzert zu gehen. Nichts ist anonymer als ein spontaner Besuch in einem unbekannten Kino.

Aber es gab die Subkulturen. Die, die nicht zum großen Heer der in den Betrieb involvierten Ackerer der gesellschaftlichen Mitte gehörten, organisierten sich nach dem Vorbild der halb assimilierten Einwanderer in den USA in eigenen Milieus. Szenen. Hier spielten traditionelle Familienstrukturen noch ebenso eine Rolle wie Tribalismus und Bandenkultur.

Moderne Romantiker wie die Beatniks und später die Situationisten waren fasziniert von diesen Szenen, an denen sie selber heimatlos in ihren lose gehandhabten Salongesellschaften vorbeischlonzten. Ihr eigenes Grenzgängertum war im Vergleich dazu hochgradig bedroht und bedrohlich. „Das Leben der Bohème“ handelt nicht aus reiner Melodramatik von der Schwindsucht. In Cortazars „Rayuela“ führen die malerischsten Bohème-Szenen der Literatur voll argentinischer Exilanten mit alten Plattenspielern in Paris zu einem verdurstetem Kind und Wahnsinn.

Und dann gab es noch die Gemeinden. Religiöse Massenhysterie mit Erweckunspredigern und Speisungen der Fünftausend wurden mit der Depression ein Phänomen in den USA, und in Deutschland wurde in den 20er Jahren der Kongress der Jesus-Nachfolger abgehalten, der –vergeblich – klären wollte, welcher der vielen hundert Anwärter nun offiziell als der wiedergeborene Messias gelten sollte. Religiöse Exzesse sind sicherlich so alt wie die Menschheit, aber früher wurden die Menschen in Glaubensgemeinschaften hineingeboren oder schlossen sich ihnen in dramatischen Entscheidungen an. Erst im Medienzeitalter stehen sie als frei (und vorübergehend) wählbarer Lebensstil zur Verfügung (mit dem Nebeneffekt, dass sie sich immer weiter radikalisieren müssen, um die Aura von Beliebigkeit auszugleichen). Und der große Boom der Idee der offenen Gemeinde, in die man am Samstagabend spontan eintritt, sollte erst in den späten 60ern einsetzen.

Rock’n‘roll funktionierte noch über Clubs für die Insider und Feste für das Publikum. Doch als die große Modernisierungskrise (oder, wenn man materialistisch denken will, die ersten Kratzer am großen gelangweilten Erfolg der modernen Gesellschaften) zur Gegenkultur führte, brach etwas Neues los. Mehr oder weniger alles, was die Hippie-Kultur und ihre Nachfolger hervorbrachte, war in den 1910er und 1920er Jahren in exklusiven Kreisen vorgearbeitet und vorgelebt worden. Aber die Hippies machten es im Central Park. Eine Erweckungsbewegung von bisher unerkanntem Ausmaß forderte in all ihrer Vielstimmigkeit eine zumindest ideelle Abkehr vom status quo. Die riesige Gemeinde der guten Menschen war natürlich, wie sie selber das auch gerne von sich behauptete, eine Antwort auf das neue Phänomen des Totalitarismus. Gegen die Erfahrung mit einem gängelnden Fürsten reichte noch ein Hinterzimmer widerständiger Geister. Natürlich projizierten die Vertreter des nun so genannten Establishments und die der Subversion wie wild ihre eigenen Abgründe auf das Gegenüber, aber im Unterschied zu anderen Projektionen standen einander hier das eine Mal tatsächlich prinzipiell unterschiedliche Auffassungen über richtiges und falsches Leben gegenüber. Die Suche nach der umgesetzten Utopie wurde zum Massenphänomen, dem sich jeder Bekehrte gemäß seiner Auslegung anschließen konnte und sollte. Und nicht zuletzt erlöste der flow des grundsätzlichen Dazugehörens von der isolierten und vielleicht widernatürlichen modernen Existenz mit ihren einsamen Entscheidungen. So einfach es ist, sich darüber lustig zu machen, die offenkundigen Widersprüche aufzuzeigen, und die konkreten Auswirkungen des Erdbebens an seinen Ansprüchen zu messen, wurde durch das Zeitalter des Wassermanns die Idee der Subkultur salonfähig. Auf der einen Seite wartete im Anschluss jeder auf die neue, flotte Gesellschaftskritik, die schließlich über Umwege ein paar Gesetze modernisieren und die Ästhetik von Werbespots erneuern würde. Auf der anderen Seite hatte die Gegenkultur tatsächlich Erfolg damit, nach und nach sehr große Nischen der Gesellschaft zu besetzen, vor allem schlicht dadurch, dass die an den nun aufgesplitterten verschiedenen Richtungen des alternativen Lebens als moderne Konsumenten bei ihren Läden einkauften. Mischformen zwischen den divergierenden Lebensentwürfen wurden alltäglich.

Und nicht zuletzt wurde einem Teil der westlichen jungen Erwachsenen ein neu geschaffener Lebensabschnitt zugestanden: das „studentische Leben“, als gebilligte, in die Biographie voll integrierte milde Form eines Bohème-Lebens ohne Tuberkulose. In den Debatten um Bologna-Prozess und Studentenstreik geht es nicht zuletzt um die Reste dieses gesellschaftlichen Freiraums. Mit Bachelor etc. pp., einem raueren Wind und ärmeren Eltern und Institutionen ist dieser Entwurf schon für heutige Studenten ein Anachronismus. Bei ihnen dominieren Feierabendbesäufnisse mit dem Beigeschmack von Erbrochenem als planes exzessives Gegenleben zum planen exzessiven Druck. Andere Ansätze finden wenig Raum zum Wachsen.

Und gleichzeitig brechen die Ausläufer der Alternativkultur sukzessive weg. Die Gleichgesinnten kaufen immer seltener beieinander ein, mit welchem Geld auch?

Es wird immer Nischen geben, die sich mit Ach und Krach halten, und es werden dort immer ein paar glückliche Menschen leben, unbewaffnet und verspielt. Doch diese Nischen sind an geisteswissenschaftliche Studiengänge nach `68 gekoppelt, ob sie es wissen oder nicht. Wo es keine Geisteswissenschaften gibt, existieren sie in dieser Form nicht, wo sich die verschulten Geisteswissenschaften durchsetzen, werden sie in dieser Form bald nicht mehr nachwachsen.

Die Zukunftsperspektive sind einander bekriegende Fürstentümer unterschiedlichster Güte, unterschiedlichster Größe und von unterschiedlichster Einbindung in die verschiedenen Weltreiche, die sich tendenziell immer früher und immer aggressiver ihre Höflinge heranzüchten werden. Die Härte im Umgang mit den Untertanen führt allerdings zu einer ständigen Paranoia gegenüber den so gedeckelten Mitarbeitern, was sich in der zunehmenden Bespitzelung und Kontrolle zeigt. Damit auch ja niemand auf die Idee kommt, das Gras könnte draußen grüner sein, werden freie Existenzen immer deutlicher zu vogelfreien Existenzen gemacht.

Als Zuflucht bleiben die Salons und Clubs. Gerne, wie früher und im monarchischen Japan, direkt an das Fürstentum angeschlossen (bspw. als after work party), häufig angesiedelt in einer Grauzone zwischen Ernst und Erholung. Als Lohn für die immer aufwändigere Anpassung gibt es die temporäre Erlösung von Gefühlen, Gedanken und Leiden. Die frei gewählten Zusammenkünfte werden dagegen immer offen eskapistischer und fordernder. Star Trek-Clubs bieten Prüfungen in klingonisch an. Das Individuum kämpft um seine minimalen Gestaltungsspielräume in der Welt, während es mit trägt, was es nicht mit tragen will, darstellt, was es nicht darstellen will, – und als echter Mensch die Tür nach draußen zu macht.

Die Emos verweigern sich dem und jeder Diskussion. Sie wehren sich gegen keine ihnen zugeschriebene Rolle und bleiben in Nestwärme unter sich. „Opfer“ ist das Lieblingsschimpfwort heutiger Hip Hopper, der immer noch halboffiziell angesagten Jugendkultur, und mit grausiger Folgerichtigkeit geben die Emos im dümmsten denkbaren Protest die Opfer. Sie sind ohnehin alles, was diese Gesellschaft zu großen Teilen offiziell nicht sein will und wovon sie insgeheim zu großen Teilen träumt: unbedingt, schwach, zerrissen und schwelgerisch. Aber mehr sind sie noch nicht. Ihre Radikalität, angesichts der schon seit Jahrzehnten abgenudelten Platte von Cleverness und Flexibilität nur den zarten Flunsch zu ziehen, ist so beeindruckend wie ihre Weigerung, irgend eine Form von Coolness zu entwickeln oder irgend einen Salon-oder Club-Status für sich zu beanspruchen. Aber ein beliebiges Gespräch mit einem klugen Vertreter der Szene, und es wird klar, dass die manierierten Attribute der Inhalt sind, die behauptete emotionale Offenheit ein weiterer starrer Style ist, und die grandiose Selbsteinschätzung fremdbestimmt.

Die Welt ist ungerecht, das Leben ist zum Heulen. Das sind die basics, liebe Emos. Das reicht nicht. Leidet, wenn Ihr müsst, aber spielt nicht die Hofnarren. Fühlt. Denkt. Seid klug wie die Schlangen und ohne Arg wie die Tauben.


Autor: Florian Schwebel

Text geschrieben Dezember 2009

Text: veröffentlicht in GETIDAN.DE