Dr. Söder, Herr Mappus und Mr. Burke

Drei große, unscharfe Gedankenkomplexe bestimmen die Geschichte der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft, Ableitungen einst unvereinbarer Impulse und Vorstellungen: Aus dem Sozialismus wurde die Sozialdemokratie, die sich immer weniger sozialdemokratisch macht, aus dem Liberalismus eine marktradikale Ideologie mit kleinen Bürgerfreiheiten, und aus dem Konservatismus die Idee einer ziemlich breiten bürgerlichen Mitte, die gern hätte, dass sich nicht zu viel ändert. Der Trick dieser drei immer weiter verschwimmenden politischen Weltbilder war es, zugleich immer offener und ungreifbarer zu werden, sich rhetorisch aber vom politischen Gegner unterscheidbar zu halten; man braucht ja Wahlkämpfe, wenn man Wahlen braucht. Politik, so heißt es bei Carl Schmitt, einem Säulenheiligen der Extremkonservativen, ist die Fähigkeit, Freunde und Feinde voneinander zu unterscheiden. Der Verlust der diskursiven Unterscheidbarkeit von politischen Gegnern, dem Abwandern der Kontroversen in die Medien, der Personalisierung im Politainment ebenso geschuldet, wie der von allen Parteien des großen Dreiecks akzeptierten Unterwerfung der politischen unter die ökonomische Macht, ist am Ende der Verlust des Politischen überhaupt. Kein Wunder, dass immer größere Teile der Bevölkerung der Ansicht sind, dass Wahlen Humbug sind.

Eine „Volkspartei“ ist nicht nur breit, sondern auch tief, und in den Parteitiefen mehr als in der Konkurrenz zwischen den Parteien wird längst Macht entschieden. So weit, so absehbar. Eine andere Frage ist, inwieweit die „politische Klasse“ dies weiß und dies möglicherweise sogar will (oder wollen muss). Beim Übergang von der repräsentativen Demokratie in die medienpopulistische Postdemokratie jedenfalls zerfallen auch diese Ableitungen noch: die Machtmaschinen der großen Parteien lassen sich nicht einmal mehr „tendenziell“ auf gewisse Grundüberzeugungen festlegen, oft scheint es so, ein klassisches Merkmal der Postdemokratie, dass jeweils die eine Partei exekutiert, was man der anderen als „typisch“ nicht durchgehen hätte lassen; so bauen Sozialdemokraten den Sozialstaat ab, mit Grünen sind Kriege zu rechtfertigen, die FDP alimentiert zwar ein paar treue Wähler, ist dann aber doch bei direkten und indirekten Steuererhöhungen und Freiheitsbegrenzungen dabei. Auf die CDU/CSU dagegen schien bislang Verlass, konservativ mag man schließlich schon in der Erhaltung der eigenen Macht scheinen, und sie fand in Merkel den geeigneten Vertreter: Aussitzen, Weiterwurschteln, keine Experimente, Machterhalt. Dabei ist, man muss nur ein bisschen genauer hinsehen, der Konservatismus eher mehr denn weniger zum permanenten Selbstverrat und -widerspruch geworden als die anderen Partei-Tendenzen.

Was ist Konservatismus? Schon historisch eine reichlich hybride Angelegenheit: Eine bürgerliche Reaktion auf die moralischen und ökonomischen Fehlschläge der Revolutionen und Revolten, beginnend mit dem mehr oder weniger entsetzten Abwenden von der Französischen Revolution. Zugleich will der Konservatismus aber auch nicht unbedingt die Restauration der alten Monarchie und wendet sich, neben dem Sozialismus auch gegen den Liberalismus. Der Urtext der europäischen Konservativen, Edmund Burkes (1729 – 1797) „Reflections on the French Revolution“ ist ein Sammelsurium von Stimmungsbildern; es ist extrem schwierig, darin einen „Diskurs“ zu entdecken, der solchen Namen verdiente, außer dass „Erhalten und Verbessern“ das einzig Wahre sei, und dazu passt, dass Burke und seine Bewunderer den Staat aus einem „heiligen Schleier“ entstanden wissen wollen, den Gesellschaftsvertrag aber durch einen „Common Sense“ ersetzen wollten (auch die „Konstitutionalisten“ gehören zu den Gegnern der ursprünglichen Konservativen: Verfassungen sind ihnen zu konkret und programmatisch). Konservatismus sucht seitdem, um mehr als eine Art Ausweichbewegung zu sein und sich als Projekt zu verstehen, Assoziationen: Nationalkonservatismus, Christkonservatismus, skeptischer, realistischer, gemäßigter Konservatismus, der Konservatismus der Junker, der Beamten, irgendwann der „working class conservatism“ usw. Nicht nur zu Bismarcks Zeiten konnten sich durchaus verschiedene Konservatismen gegenseitig heftigst bekämpfen.

Der Konservatismus kehrt die Beweislast für gute Herrschaft um. Gute Herrschaft ist abhängig mehr vom Wohlverhalten des Bürgers als von der Weisheit der Regierung. „Wenn die Untertanen aus Prinzip rebellieren, wird die Politik der Könige Tyrannisch“, so warnt schon Edmund Burke und unsere Konservativen von heute schwärmen vom „starken Staat“ und der „wehrhaften Demokratie“. Im weiteren Verlauf trennten sich indes anglosächsischer und kontinentaler Konservatismus; während für den Konservativen Mitteleuropas der Staat, die Kirche, kurz die Institutionen der Ordnung im Mittelpunkt stehen, ist es in den USA insbesondere das Individuum: Der amerikanische Konservative verteidigt das Individuum gegen den Staat (und sei es gegen so etwas Fürsorgliches wie eine Krankenversicherung); der deutsche Konservative verteidigt den Staat gegen das Individuum (und gibt für die Ordnung gern die eine oder andere Freiheit drein). Beide Formen des Konservatismus entfalten sich eher als Haltungen und Erzählungen denn als Theorie. Nie gab es eine konsistente Philosophie des Konservatismus, wohl aber eine erstaunlich zähe Mythologie und Begrifflichkeit, die sich bei näherer Betrachtung ganz und gar nicht so pragmatisch zeigt, sondern an Phantasmen und Psychosen überreich war und ist. Sich vom Linken und vom Liberalen zu distanzieren genügt zunächst als „Idee“ und führt immer wieder dazu, dass man sich, statt aus dem erklärten skeptischen Pragmatismus und Common Sense zu nähren, mit den allerschurkischsten der politischen Schurken verbündet. Es waren Konservative, gern auch „Erzkonservative“ genannt, die Hitler den Weg bereiteten. Auch scheint der Konservatismus anfällig für strukturelle Korruption, für politische Camouflagen und für populistische Rhetorik ohne Substanz, erweist sich zugleich aber flexibel genug, um einer ironischen Gesellschaft zu entsprechen: Was kümmert mich mein Geschwätz von Gestern? Denn der Konservatismus hat eines mit den zynischen Paradigmen einer neoliberalen Spaßgesellschaft gemein: Er glaubt nicht an den Menschen.

Der Common Sense ist für den Konservativen daher nicht sündig, auch wenn er mit sündigen Mitteln hergestellt wird. Denn der entscheidende Glaubenssatz eines Konservativen (er wird ihn vorsichtiger formulieren) ist der von der prinzipiellen Unzulänglichkeit des „Mangelwesens“ Mensch. Nur durch Führung, Erziehung, Institutionen, Ordnungen, Traditionen, Hierarchien, Familienstrukturen etc. ist der an sich defekte Mensch zu heilen. (Die Führung wie die Legitimation der Institutionen, wie gesagt, liegt hinter einem „heiligen Schleier“ der Geschichte und der Konventionen.) Da er ja an den unvollkommenen Menschen glaubt, hat er die schwere Last des Linken nicht, den Menschen an sich als gut (Scheißverhältnisse!) zu sehen (und immer mal wieder an dieser Prämisse zu verzweifeln oder stalinistisch zu verkommen), noch die des Liberalen (der von einer „Eigenverantwortung“ ausgehen kann, die weder viel Rücksicht noch viel Staat braucht). Gerade weil Konservatismus keine eigene Theorie hat, borgt er sich oft die Rhetorik von anderen Impulsen; wenn die Konservativen auf ihr „politisches Urgestein“ zurückblicken, meinen sie in aller Regel Leute, die reaktionäre und nationalistische Impulse ebenso zu bedienen wussten, wie liberalen Ökonomismus und sozialdemokratische Fürsorglichkeit.

Nicht viel riskieren ist das Credo, keine allzu strengen moralischen Maßstäbe anlegen die Praxis. Die für den Konservativen obszönste Zeit ist die Zukunft (darum lehnt er das Planen nicht nur aus Gründen seiner Wirtschaftsordnung ab); er lebt in einer Gegenwart, die er als vorsichtig verbesserte Vergangenheit ansieht. Es ist logisch, dass hier am meisten Machtpolitiker sich durchsetzen und weniger Programmatiker; da der Konservative nicht an das Gute im Menschen, wohl aber an das Gute in der Macht glaubt, macht es ihm nichts aus, „die niederen Instinkte“ der Wähler für seinen Machterhalt zu mobilisieren; deshalb haben wir „konservative“ Politiker wie Roland Koch, die uns auf so sonderbare Weise skrupel- und schamlos erscheinen, wenn es gilt, Ausländerfeindlichkeit, Pogromstimmung, legalen Sadismus zu mobilisieren. Es liegt in der Natur des Konservatismus, die Schlechtigkeit des Menschen für die Verbesserung der Macht auszunutzen (weshalb Konservative auch weniger von „schlechtem Gewissen“ geplagt werden und daher die „gesünderen“ und „natürlicheren“ Macht-Bilder abzugeben scheinen). So ist der Konservative im Wesen nicht unbedingt  ein Reaktionär, macht sich aber nichts daraus, reaktionäre Rhetorik zu verwenden.

Wäre Demokratie, wie uns versprochen war, ein historischer Prozess, der mit der Emanzipation des Menschen und der Gerechtigkeit der Gesellschaft seine Ziele hätte, dann wäre Konservatismus in der Tat eine Art gemäßigter Anti-Demokratismus, eine einerseits nützliche andrerseits aber auch lähmende Bremse des sozialen Fortschritts der, nach dem demokratischen Idealbild, mit dem ökonomischen und technologischen Fortschritt zumindest Schritt halten sollte. Da aber dieses emanzipatorische Projekt schon lange nicht mehr auf der Agenda steht, sind Rest-Sozialdemokratie, Rest-Liberalismus und Rest-Konservatismus die ideale Mischung für den Status Quo: Alles für die Wirtschaft, und dazu ein mit wirklich allen Mitteln erzeugter Konsens (die postdemokratische Version des Common Sense).

Der Konflikt also für einen „modernen Konservativen“ ist gar nicht so sehr jener zur Sozialdemokratie und zum Liberalismus, sondern eher zwischen dem anglosächsischen und dem mitteleuropäischen Konservatismus: Der individuelle Konservatismus ist der Wirtschaft zuträglich, der kontinentale dagegen dient dem Staat. Die CDU/CSU als neue konservativ-bürgerliche Kraft löste auch andere inner-konservative Widersprüche auf, als hätte es Bismarcks Kulturkampf nie gegeben, gab sie sich ein C in den Namen, leistete sich liberale und soziale Flügel und verhielt sich zu nichts so konservativ wie zur Geschichte des Konservatismus. Verdrängt nun wurde auch der Anteil der „konservativen Revolution“ an der Vorbereitung der nationalsozialistischen Herrschaft, verdrängt wird offensichtlich auch, dass die immer einmal wieder ausgerufenen „geistig-moralischen Wenden“ und die „Rucks“, die durch das Land gehen sollen, der Rhetorik der „Konservativen Revolution“ der zwanziger Jahre entsprechen, wenn auch in betont seifenblasenhafter Form. In der neokonservativen Bewegung in den USA bereitete sich neben der Markradikalität die Herrschaft der Bushs vor; die CDU/CSU integrierte dagegen von Anfang an den rechten Rand mit sozialdemokratischen und liberalen Zügen. Man hatte und hat immerhin die gleichen Feinde, nicht nur die „Linken“, nicht nur die „Liberalen“, sondern vor allem auch jenes Projekt, dass den Menschen aus seiner Unmündigkeit heraus führen würde, die Aufklärung.

Rechtfertigung und Impuls erhielt der politische Konservatismus seit den Zeiten von Edmund Burke durch die Anschauung der moralisch gescheiterten Revolution. Daraus entsteht ein Menschenbild, das eher indirekt mit dem „Bewahren“ zu tun hat, es beschreibt den Menschen als in Vernunft und Emotion unvollkommenes und begrenztes Wesen und zwar in höchst unterschiedlichem Grad.  Auch Arnold Gehlens Rekurs auf das „Mängelwesen“ Mensch steht in dieser Linie; es ist einem Konservativen im klassischen Sinne unvorstellbar, dass Menschen „gleich“ seien, auch gleichberechtigt nicht. Daher ist dem Konservativen eine ständisch und schichtenspezifisch gegliederte Gesellschaft das Ideal; der Aufklärung setzt diese Vorstellung von Ordnung direkte und indirekte Grenzen: Der Konservative „glaubt“ nicht an die Kraft der Aufklärung, und um seinen Glauben nicht zu gefährden, hat er nicht viel dagegen, wenn ihm durch Verbote und Zensur Nachdruck verliehen wird. Dann dient ihm nur zum Beispiel einmal die Gehlensche „Reizüberflutung“ als Argument: der Konservative wettert unentwegt gegen den „Sittenverfall“, den er ökonomisch erzeugt; dem Konservativen muss der Mensch immer erst zugerichtet werden und seine Ordnungen müssen vor ihm selbst geschützt werden: „Dass die Menschen nur lebensfähig sind, wenn sie sich in Ordnungen einfügen, die, obgleich von Menschen gemacht, ihrem Zugriff, ja sogar jeder Kritik entzogen werden müssen“, das ist seit Burke ein interessant paradoxes Stück Weltbild des Konservativen. Demokratie ist dem Konservativen daher kein Ziel sondern allenfalls ein Medium der Moderation, auf die Idee „mehr Demokratie zu wagen“ käme er nie.

In Neoliberalismus, Privatisierung und Globalisierung muss einer Partei wie der CDU also erhebliches vom konservativen Weltbild, so es denn mehr als politische Pose war, wegbrechen, das Nationalkonservative (Nationales hemmt das Wirtschaftswachstum) ebenso wie das Christkonservative (der Markt der Life Sciences sollte moraltheologisch möglichst nicht allzu sehr gehemmt werden), der Staat und seine Institutionen ziehen sich zurück, kurzum: der Liberalismus scheint so übergewichtig, dass vom Sozialdemokratischen so wenig übrig bleibt wie vom Konservativen.

Der Trick der mehr oder weniger neuen Konservativen, die nicht gleich Reaktionäre genannt werden wollten, bestand darin sich als „Wertkonservative“ gegenüber den „Strukturkonservativen“ zu inszenieren: Man kann auch sagen: Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse dürfen sich ändern wie die Konzerne wollen, so lange nur Familie, Heimat, Staat und Religion im heiligen Schleier bewahrt werden.

Richtig funktioniert hat das in der Spaß- und Krisengesellschaft dann auch nicht: Die Konservativen, so scheint es dem einen und der anderen, haben zwar die Regierung gewonnen aber sich selbst verloren. Das Kunststück besteht also nun darin, die „eigentlichen“ Überzeugungen des Konservativen verschwinden zu lassen (oder wenigstens geschickt auf einen „Stand By“-Modus zu schalten) und zugleich die Rhetorik wiederzugewinnen, um dem berechtigten Vorwurf zu entgehen, über kein wirkliches eigenes Profil zu verfügen.

„Liberal, sozial und bürgerlich-konservativ – das sind die Wurzeln der Union.“ So beginnt das vor einigen Jahren veröffentlichte, nun ja, „Manifest“ unter dem Titel „Moderner bürgerlicher Konservatismus – Warum die Union wieder mehr an ihre Wurzeln denken muss“ (was schon vorsichtig genug formuliert ist, mehr denken, nicht „zurückkehren“) von Stefan Mappus, MdL, Dr. Markus Söder, MdL, Philipp Mißfelder, MdB, Hendrik Wüst, MdL, also Vertretern einer vorgeblichen konservativen Renaissance in der Partei. Es rumort seitdem ein wenig; die Regierung Merkel hat als gefährlichsten Feind eine „konservative“ Bewegung in den eigenen Reihen. Das Papier, ein Knuff für Angela Merkel wohl, enthält dabei höchstenfalls ein gewisses Stimmungsbild mit ein paar verschleierten Ressentiments (gegen zu viel „Fremde“, gegen zu viel Soziales, für eine „Leitkultur“ und für verlängerte Laufzeiten der Atomkraftwerke) und sehr viel ökonomischem Interesse in einem semantischen Brei verpackt, von dem zumindest einiges bei Burke abgeschaut scheint. Aber eben das hat ja Edmund Burke seinen Nachfahren hinterlassen: Konservatismus ist ein sich selbst verschleierndes Projekt der unscharfen Kompromisse, eine Gestimmtheit, kein Programm.

Unsere Gesellschaft ist in der Praxis liberal, in der Moral sozialdemokratisch und in der Gestimmtheit konservativ. Daher müssen, will man sich zugleich konservativ positionieren und sich die Besetzung von „liberal“ und „sozial“ nicht nehmen lassen, neue Feindbilder herbeigezaubert werden (die Kommunisten sind, was das anbelangt, auch nicht mehr sehr ergiebig); wie wäre es zum Beispiel mit „Relativismus“: „Nach Jahren der Beliebigkeit und des Relativismus von Rot-Grün entsteht mitten in der Gesellschaft ein neuer, starker Wunsch nach dauerhaften Orientierungen“, so heißt es im „Manifest“ von Mappus, Söder und den anderen.

Als Erhard Eppler seinerzeit im Namen des Wertkonservatismus seinen Rivalen Kurt Biedenkopf attackierte, schuf er, vermutlich ohne es zu wollen, das Schlagwort für den neuen Konservatismus: „Semantik statt Politik“. Bis zu einem gewissen Grade wurde der semantische Konservatismus, einschließlich einiger Ausfälle und Zündeleien am rechten Rand, zu einem eigenen politischen Genre, das als praktische Politik paradoxerweise hauptsächlich an den Schnittpunkten von Sprache und Geld deutlich wurde, in Kultur- und Bildungspolitik zum Beispiel; semantischer Konservatismus wurde ein Teil der Postdemokratisierung und eröffnete ein Spiel um das „Besetzen“ von Begriffen. Kein Wunder dass man „Konservativ im Herzen – progressiv im Geist!“ sein will. Wollte man das Papier auf echte Aussagen hin durchforsten dann bleibt letztlich nur ein bisschen Völkisches, Nationalistisches und Neoliberales, als wäre das Gefasel vom Konservatismus nichts anderes als ideale Grundierung für Gedanken, die man in anderem Zusammenhang eher der „extremen Rechten“ zuordnen würde. Aber der gute alte Burke spukt allenthalben: „Die deutsche Linke ist daran gescheitert. Sozialneid, Technologie-Feindlichkeit, Gleichmacherei und multikulturelle Beliebigkeit schaffen nur Probleme, statt sie zu lösen. Dabei braucht es einen Kompass und politische Leitbilder, um diese Herausforderungen zu bewältigen.“ Der unvollkommene Mensch braucht Führung, soziale Ungleichheit gehört zu den Dingen des „heiligen Schleiers“, Technologie-Entwicklung  ist gut, Kultur-Entwicklung schlecht, drinnen ist drinnen und oben ist oben, und unten und draußen soll das auch bleiben, die „linke Revolution ist gescheitert“: Konservatismus ist eine Geschichtserzählung im Rang eines Märchens, und daran hat sich dreihundert Jahre lang wenig geändert.  (Burke, immerhin, konnte noch schreiben!) Brauche ich dazu ein „Manifest“ der CDU/CSU-Nachwuchs-Konservativen, oder genügen BILD und Fernsehen? „Eine enge Beziehung zur Heimat, ein lebendiges Brauchtum, unsere reichen regionalen Traditionen und die Vielfalt unserer Mundarten bereichern unser Leben und können gerade in der globalisierten Welt eine wichtige sinnstiftende Kraft sein“, heißt es im konservativen „Manifest“ (und im BILD-Interview legt Mappus unserem Autofähnchen-Nationalismus einen vor: „Wer für die Nationalmannschaft, also für Deutschland spielt, sollte dazu stehen, indem er vor dem Spiel die dritte Strophe des Deutschlandliedes singt. Das hat Jürgen Klinsmann so eingeführt, und das fand ich immer gut“).

Musikantenstadl-Konservatismus! Damit gewinnt man nur Wahlen, wenn man das Politische zugleich abschafft. So liegt die Krise der CDU und ähnlicher post-programmatischer Einheiten des bürgerlichen Konservatismus möglicherweise gar nicht darin, dass sie im einzelnen konservative Vorstellungen nicht mehr „bedienen“ kann (schon gar nicht wenn’s dem wirtschaftlichen Nutze widerspräche) und man unter gedanklicher Schlichtheit nicht verbergen kann, dass die ganze Mythologie des Konservatismus in sich widersprüchlich ist, sondern darin, dass der Common Sense selber in eben dem verschwommenen Sinne so konservativ geworden ist, dass man damit gar nicht weiter auffällt. Die Partei der bürgerlichen Mitte (natürlich: eine Schimäre, aber eine, die sich in der Realität offenbar gut machte) hat im Prinzip kein Alleinstellungsmerkmal mehr, ernsthaft hat sie auch keinen Gegner mehr.

Stattdessen liegt das Projekt, drei Jahrhundert nach Burke, darin, wieder zu einem vagen Ur-Konservatismus zurück zu kehren, in dem vor allem der Widerspruch zwischen dem angelsächsischen Subjekt- und dem kontinentalen Staats-Konservatismus wenn nicht aufgehoben so doch gekonnt, nun eben, verschleiert wird. Die entsprechende Prosa geht so: „Neubelebung der Sozialen Marktwirtschaft: nicht die Reformpolitik hat den Sozialstaat an seine Grenzen gebracht, sondern die Übertreibung der Leistungsansprüche und eine selbstgerechte Überhöhung politischer Reformarbeit, die zu häufig eine „Jahrhundertreform“ nach der anderen feierte, nicht selten aber fast zeitgleich mit Nachbesserungen beginnen musste. Die Menschen in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft bekennen sich zu Leistung und Eigenverantwortung. Sie wollen den Wandel mitgestalten und ihren Teil dazu beitragen, dass Deutschland dynamischer wird und wettbewerbsfähig bleibt. Im Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik stehen die ‚Helden des Alltags’, die hart arbeiten, um ihre Familie zu ernähren. Das Gerechtigkeitsempfinden und die Vernunft dieser breiten Mehrheit der Bürger muss Leitlinie einer Politik jenseits von Bürokratisierung und Reglementierung sein.“ Nicht der begnadetste Kabarettist könnte sich diese absurde Litanei des neuesten radikal-liberalen Wischi-Waschi-Konservatismus ausdenken.

Der semantische Konservatismus ist endgültig zum populistischen Begleitblubbern des Neoliberalismus geworden. Ansonsten taugt Konservatismus nicht mehr zu viel. Nicht einmal zum politischen Feindbild.

 

Georg Seeßlen, der Freitag 04-08-2010