Versuch, Mark Terkessidis´ kluge Analyse zur neuen Bürokratie noch um ein paar Gedanken zu erweitern

Jede Bürokratie hat für das Machtsystem, dem es dient und das sie generiert, drei wichtige Aufgaben, zwei davon für dieses angenehm, die dritte, sagen wir einmal: ambivalent.

Die erste Aufgabe der Bürokratie ist es, die Einnahmen – in erster Linie Geld, aber auch Nachrichten, Waren, und Dienstleistungen zugleich zu beschleunigen und dem Machtinstrument zu unterwerfen. Bürokratie verlangt, dass du schnell dein Geld abdrückst und dir dabei auch noch mies vorkommst. Sie verlangt, dass du für deine Unterwerfung zahlst und arbeitest. Wer etwas abzuliefern hat, wird zugleich gedrängt und durch Form und Inhalt der entsprechenden Kommunikation gedemütigt.

Die zweite Aufgabe der Bürokratie ist es, die Ausgaben, in erster Linie Geld, aber auch Nachrichten, Waren, Dienstleistungen, nach Kräften zu verzögern, zu verringern und zu verhindern. Bürokratie verlangt, dass du gefälligst, bevor du dein Geld bekommst, noch 15 Formulare ausfüllst. Etliche Kontrollen über dich ergehen lässt und wartest, bis die Bewilligung deines Ansuchens durch drei Instanzen gegangen ist. Bevor ein Unternehmen seine Schulden bezahlt, baut seine Bürokratie Hürden auf, setzt Formalien und Kommunikations- und Kontrollwege und benutzt dabei die Mega-Bürokratie, das Verwaltungssystem und die Rechtsprechung des Staates. Bürokratie ist die strukturelle Konkursverschleppung des Kapitalismus. Bürokratie verlangt, dass du für jede empfangene Wohltat, oder auch nur die Aussicht darauf, Geduld, Verbeugungen, Dankbarkeit aufbringst. Wenn ein Kunde wirklich König sein will, wird er der Bürokratie überantwortet und das Königseinwollen ist ihm schnell ausgetrieben.

Geld soll schnell herein und langsam (oder gar nicht) heraus gehen, und dafür nutzt die Binnenbürokratie die staatlichen Vorgaben. Insofern ist jeder Schlag der verrückten Bürokratie auch politisch produziert, produziert aber auch Politik. Es ist eben Vorschrift, und eine Vorschrift ist der Ausdruck eines Gesetzes, und ein Gesetz ist Ausdruck eines Interesses. Bürokratie also hysterisiert das IN und lähmt das OUT. Jenseits aller Produktivität kann somit allein durch Bürokratie Profit erzeugt werden. Und jenseits aller Regierung kann somit allein durch Bürokratie Macht erzeugt werden. Niemand weiß das so gut wie ein mehr oder minder räuberischer Staat (die Bank ihres Vertrauens weiß es natürlich noch besser). Und niemand erfährt es bitterer als ein „Verlierer“.

Die dritte Aufgabe der Bürokratie freilich ist in der Tat ambivalent; sie besteht nämlich im eigenen Wachsen und in der eigenen Akkumulation von Macht. Jedes Unternehmen ist ökonomisch so erfolgreich, wie seine Bürokratie funktioniert, und jedes Unternehmen geht früher oder später an seiner Bürokratie zugrunde (auf schmerzhaft komische Weise erkennen wir das etwa in Dilbert-Comics). Aus der „Company making everything“ wird durch Bürokratie am Ende eine „Company making nothing“. Es ist nicht zuletzt Bürokratie, die die Energien von der Realwirtschaft auf die Spekulation umlenkt; in der Bürokratie beginnt die Ware sich bereits zu virtualisieren, in der „verrückten“ Bürokratie nimmt ihr Verschwinden rapide Geschwindigkeit an. Die Realität in der Wirtschaft ist der Bürokratie ein Dorn im Auge.

Die Krise des Kapitals, die „Finanzkrise“, ist also zu einem großen Teil auch eine Krise der Privatbürokratien. Am Ende steht zwischen den Banken eben dies: Ein Nervenzusammenbruch auf Seiten des IN und eine psychosomatische Verstopfung des OUT. Haben denn, fragen sich die ungläubigen Medien, bei den spekulierenden Banken die (bürokratischen) Kontrollmechanismen derart versagt? Oder: Wie „verrückt“ muss Bürokratie sein, wenn sie die Selbstvernichtung von Kapital nicht nur zulässt, sondern beschleunigt? Falsche Fragen. Die Dialektik zwischen Kapital und Bürokratie funktioniert raffinierter: Die Krise des Kapitals führt zum Erstarken der Bürokratie, die Krise der Bürokratie zum Erstarken des Kapitals, beides ist indes nur verschiedener Ausdruck (verschiedenes Instrument) ein und desselben Interesses.

Von den drei Hauptaufgaben der Bürokratie leiten sich drei Nebenaufgaben ab: Eine vierte Aufgabe der Bürokratie nämlich besteht in der möglichst umfassenden Verschleierung sowohl aller jener Vorgänge, mit denen sie befasst war, was in der oben beschriebenen Dialektik freilich gleichzeitig bedeutet: Bürokratie dient der Verschleierung von Wegen des Kapitals. Bürokratie erzeugt ein ebenso umfassendes wie (strukturiert) unlesbares Dokument seiner selbst. Sie erzeugt eine Sprache, die „korrekt“ ist, die aber dennoch niemand lesen kann. Sie erzeugt eine „Erzählung“ des Kapitals, die gerade in ihrer Unlesbarkeit den Anschein von Rationalität wahrt. Sie erzeugt Missverständnisse (und wiederum: nicht aus „Verrücktheit“ sondern immer im Dienste der je eigenen Interessen): Die Kommunikation zwischen Bürokratien ist ein strukturiertes misreading (weshalb wir ohnehin die Welt nur noch in Form von James Bond-Filmen verstehen). Wenn das Unternehmen seine eigene Bürokratie (die es doch nur gut mit ihm meint) nicht mehr versteht, oder umgekehrt, wenn zum Beispiel die Bürokratie dem Konzern beim Verschleiern so weit hilft, dass man selber darauf hereinfällt, ist der Zusammenbruch ebenso unabdingbar, wie eine Bürokratie ein Management, dem es treu beim Verschleiern hilft, diese beim Kriminellwerden begleiten muss.

Die fünfte Aufgabe der Bürokratie besteht in einer zweiten Vernetzung der Interessen. Das politische Aushandeln eines Kompromisses kann sich ohne weiteres durch seine bürokratische Realisierung in das genaue Gegenteil verwandeln; Bürokratie verbindet Menschen, die sich im klassischen politischen Dialog distanzierten (und umgekehrt). Bürokratie ist nicht an Demokratie gebunden, sie widersetzt sich, da sie sich ja strikt formalisiert verstehen lassen will, selber der Demokratisierung. (Und die Vertreter des organisierten Verbrechens wissen nur zu genau, warum sie in der Bürokratie ein so offenes Einfallstor finden.) Bürokratie ist ein anderes Wissen von der Gesellschaft (also viel mehr als ein „Jargon“). Sie kreiiert eine „zweite Wirklichkeit“ der Ökonomie.

Die sechste Aufgabe, sie scheint nur auf den ersten Blick paradox, ist ihre Funktion als Sündenbock. Bürokratie darf nicht nur, sie soll sogar gehasst werden. Zwei Verhandlungspartner schieben in aller Regel alle Widerstände und alles Scheitern auf „die Bürokratie“. Ihr Versicherungsvertreter wird ihnen immer erklären, dass es nun mal die Bürokratie sei, die ihren Antrag auf Ersetzung des zerstörten Fotoapparates so lange liegen lassen und dann leider ablehnen muss. Wenn ich wieder einmal mein ausstehendes Honorar in der üblichen Mischung aus Verzweiflung und Resignation einfordere, kommt mir garantiert von meinem Auftraggeber zurück: Ja, ja, die Bürokratie. Der populistische Medienpolitiker inszeniert sich selbst immer im heroischen Kampf mit der Bürokratie, und er ist immer umso heroischer, je entfernter die Bürokratie ist, mit der er „kämpft“. Ein bayerischer Politiker befindet sich prinzipiell im Kampf mit der „Brüsseler Bürokratie“. Übrigens ist es unnütz zu sagen, dass „Bürokraten“ immer die anderen sind. Die Funktion als Sündenbock freilich führt auch wieder zu einer narzisstischen Kränkung der Bürokraten selber, so dass ihrer Verrücktheit stets ein Quantum unverhohlener Bosheit und Rachsucht beigemischt ist.

Während der Hochzeit des Neoliberalismus sind in den Privatbürokratien allerdings zwei weitere „Verrücktheiten“ hinzu gekommen, die sie zugleich unermesslich aufgebläht und in sich absurd gemacht haben. Bizarrerweise haben beide mit einem Versuch zu tun, Bürokratie irgend zu kontrollieren oder wenigstens bewertbar zu machen. Die eine Erkrankung firmiert unter dem Motto des „Qualitätsmanagements“ und funktioniert als eine Art von TÜV-Zertifikat für das effiziente Arbeiten in Büros. Es führt, noch in der Mini-Bürokratie eines kleinen Unternehmens, zu zwei gravierenden Wirkungen: Um das Zertifikat zu erzielen muss eine Bürokratie noch jedes Nachfüllen einer Druckerpatrone und jedes Kollegengespräch dokumentieren, womit sich gleichsam jeder bürokratische Akt noch einmal bürokratisiert. Eine informelle Kommunikation wird zur gleichen Zeit unmöglich.

Realer Fall: Eine Kollegin weigert sich, der Mitarbeiterin „schnell einmal zu zeigen“, wie man Daten von einem ins andere Programm exportiert, weil das im Qualitätsmanagement verlorene Zeit wäre; stattdessen wird eine Versammlung des Betriebsrats einberufen, die auf eine Schulung dringt. Wieder erscheint dieser Vorgang, aus einem Fünf-Minuten-Kollegengespräch eine innerbetriebliche Staatsaktion zu machen, auf den ersten Blick grotesk und „dumm“ und genau das Gegenteil dessen, was eigentlich beabsichtigt war. Aber nur solange man nicht genauer hinsieht und bemerkt, dass in diesem törichten Akt der Bürokratie-Vervielfachung nichts anderes steckt als eine Machtverteilung en minia­ture. Es setzt sich eine neue digitale gegen eine alte analoge, eine neue virtuelle gegen eine alte materielle Bürokratie durch.

Die Selbstdokumentation durch das „Qualitätsmanagement“ zwingt nun freilich die Privatbürokratie, sich vorwiegend mit sich selbst zu beschäftigen; selbst wenn sie es wollte, sie könnte das wild gewordene Kapital, bei kleinen Firmen: die Aussichtslosigkeit der eigenen Position weder erkennen noch dokumentieren. Die Führung eines Unternehmens kann mit einer solchen verrückten Bürokratie durchaus zurecht kommen, sie ist durchaus dankbar für die weitere Verschleierung realwirtschaftlicher Bedrohungen des Spekulationsspiels. Ein „Spitzenmanagement“, das seinen bürokratischen Mittelbau mit „Qualitätssicherung“ beschäftigt, hat die ersehnte freie Hand zum Zocken auf ganz „vernünftige“ Art bekommen.

Die zweite Verdoppelung der Bürokratien findet durch das coaching durch externe Unternehmensberatungen und ähnliche freie Radikale des Spekulationsbürokratismus statt. Nun steht für eine Zeit hinter jedem Bürokraten ein extrem smarter Meta-Bürokrat, der das Bürokratisieren beschleunigen soll. In aller Regel sind diese Beratungen (durchaus im Verbund mit dem „Qualitätsmanagement“) darauf abgerichtet, scheinbar sinnlose Elemente aus den Kreisläufen von Geld, Macht und Arbeit herauszufischen und dafür Erscheinungscodes in der äußeren Präsentation zu setzen. Willkommener Nebeneffekt ist, dass dabei eine Art Bürokratie-Industrie entstanden ist, deren Einflussbereich von der Beratung mittelständischer Bürokratien bis hin zu allerüberflüssigsten Seminaren für Arbeitssuchende reicht.

Eine solch „trizophrene“ Bürokratie nun ist, abgesehen davon, dass sie immer zugleich gekränkt und grinsend maskiert erscheinen muss, nicht nur wundersam vervielfacht, sondern, indem man sie dergestalt unter Druck setzt, auch beschleunigt – nicht etwa in dem Sinne, dass ihre Verwaltungsakte schneller vonstatten gehen würden, sondern in dem Sinne, dass sie mehr zählbare und sichtbare Akte vollzieht. Jeder destruktive Akt ist dabei besonders nützlich, weil er automatisch neuerliche (womöglich ebenso destruktive oder wenigstens vollkommen nutzlose) Akte nach sich zieht. Im übrigen ist dieses Modell eines effizient in sich selbst rotierenden Bürokratismus auch ein perfektes Bild für politische Herrschaft: Politische Herrschaft im Kampf mit der Bürokratie ist ein wunderbares Schauspiel vor dem eigentlichen Geschehen: Herrschaft durch Bürokratie.

Bürokratie, mit anderen Worten, ist nicht der Hemmschuh des neoliberalen Kapitalismus, sondern sein Motor.

Autor: Georg Seesslen