Weitere Kulturnachrichten aus einer zerfallenden Klasse

Der Zerfall des Mittelstandes in Deutschland vollzieht sich in zäher Eile und produziert die tollsten semiotischen Blüten. Da ist, nur zum Beispiel, diese vollkommen irrationale Bewegung zum Ländlichen, Idyllischen und Provinziellen, die sich, in „Landlust“-Zeitschriften, in „Landliebe“-Produktlinien der Nahrungsmittelindustrie, in der Werbung und im Rest des Fernsehprogramms ausgedrückt, bereits feuilletonistisch-kolumnistisch verdächtig gemacht hat. Irrational ist diese Flucht zurück aufs Land vor allem deshalb, weil sie keinerlei sozialer Praxis entspricht: In Wirklichkeit gibt es in der deutschen Provinz so ziemlich alles, von billigen Drogen bis Vorgarten-Vandalismus, von korrupter Politik und Umweltzerstörung wollen wir gar nicht reden, bloß eben keine Liebe und keine Lust zwischen dem Land und den Leuten, die es kaputtmachen. „Landlust“ beschreibt eine feindliche Übernahme der deutschen Provinzialität durch das heimatlos gewordene deutsche Kleinbürgertum der Gar-nicht-mal-so-schlecht-Verdienenden (aber dafür müssen wir auch hinlangen, so oder so, das glaubst du nicht).

Rein optisch sieht das so aus: In den Städtchen, in denen es sogar Sex-Shops und Nagelstudios schwer haben, sich gegen die Konzernketten und Immobilienmafia zu behaupten, boomen die Geschäfte, in denen Trachten, Dirndl und Lederhosen feilgeboten werden, mit einer zunehmenden Wandergeschwindigkeit vom Süden, wo der ganze Wahnsinn seinen Ursprung zu haben schien, nach Norden. Der Trend geht zu „Trachten-Outlet-Stores“ in Industriegebieten oder in umgebauten Bauernhöfen und Ställen, die am Wochenende gern ein Unterhaltungsprogramm für die ganze Familie anbieten. Und sagenhafte „Schnäppchen“. Die mittelständische Industrie zieht sich damit gleichsam buchstäblich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der ökonomischen Krisen: Sie produziert und verkauft den leiblichen Ausdruck ihrer Desolation. Die Jodelklamotten-Industrie verwandelt lustvoll und ausgesprochen profitabel hart arbeitende Bürger in regressive Wesen, denen vor allem eines anzusehen ist: Dass ihnen vor gar nichts mehr graust.

Diese Trachten, mit einer ursprünglich regional und ständisch geformten Sinnhaftigkeit haben sie schon lange nichts mehr zu tun, werden offensichtlich dringend und vor allem zu zwei einander nur scheinbar gegensätzlichen Inszenierungszwecken benötigt:

1. Wird das Tragen solcher sündteurer Jodel- und eben „Landlust“-Klamotten zu einem mehrfachen Ausweis der Zugehörigkeit: Man ist „deutsch“ und zwar „richtig“ (Menschen mit „Migrationshintergrund“ verirren sich eher selten in einen Trachten-Outlet-Store), man ist „heimatverbunden“, freudig bekennt man sich zum Provinziellen und Kleinteiligen, wo man öffentlich unter sich ist, man kann sich etwas leisten, es ist nicht so wie bei armen Leuten. Noch entscheidender als die Frage, was ein solcher Dresscode einschließt ist die Frage, was er ausschließt. Man bekennt sich, vage freilich, zu einer Tradition, die eine semiotische und ökonomische Ordnung wiedergab. Jede Haube, jede Tasche, jeder Knopf hatten einst Bedeutung in Hinblick auf den Status, den Familienstand, den Besitz. Ständische Kleidung entsprach einer ständischen Gesellschaft, und keine noch so authentizitätsversessene, nostalgische Regional-Identität, die sich in „echter“ Tracht ausdrücken will, kann verbergen, dass es bei diesem textilen Reenactement einer „guten alten Zeit“ eben immer auch um die Sehnsucht nach einer vor-modernen, vor-demokratischen und vor-aufgeklärten Gesellschaft geht.

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Die Jodelklamotten-Industrie verwandelt lustvoll und ausgesprochen profitabel

hart arbeitende Bürger in regressive Wesen, denen vor allem eines anzusehen ist:

Dass ihnen vor gar nichts mehr graust.

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In der alten Form der Heimattümelei allerdings war man sich beim Reenactement der guten alten Zeit des performativen Charakters durchaus bewusst. Man trug die Tracht, die der gegenwärtigen Gesellschaft nicht mehr entsprechen kann, in einem Rollenspiel zu besonderen Anlässen. Es ging, wie bei anderen Formen des „Brauchtums“, das es, am besten im entsprechenden Verein, zu pflegen galt, um eine Bewahrung, bei der man Teil eines lebenden Museums wurde. Doch von Anfang an gab es da zwei Formen des „Missbrauchs“, die nur deshalb kaum der Rede wert schienen, weil Nachkriegsdeutschland sich in erster Linie modern, technologisch und vor allem ökonomisch verstand und daher auch das Provinzielle und Heimatliche auf das Städtische hin ausrichtete, als Ware und Dienstleistung der kommenden Freizeitgesellschaft. Der Missbrauch durch den (touristischen) Kitsch (die paradoxe Ökonomisierung und Medialisierung des vermeintlich vor-ökonomischen und vor-medialen Codes) und der Missbrauch durch die Politik. Brauchtum, Tradition und Tracht waren nicht nur bei den organisierten „Heimatvertriebenen“ zugleich Köder und Maske für reaktionäre bis revanchistische Politik und Kultur. Die Tracht ist stets eine Mischung aus einem Bekenntnis zu regionaler Identität, einer performativen Werbung und einem politischen Statement. Man kann, beim besten Willen, diesen textilen Code nicht „unschuldig“ benutzen, weder, indem man ihn extrem authentisch und ständisch-territorial benutzt, noch im unscharfen Gebrauch als modisches Pendant zum allgemeinen Spiel der „Volkstümlichkeit“.

Die Entgrenzung dieses textilen Codes, die Abkopplung von regionaler und historischer Bedeutungen (von der klaren Lesbarkeit der benutzen Zeichen, die über Heiratswilligkeit so viel aussagt wie über den Beruf) entstand im Spannungsfeld des doppelten Missbrauchs parallel zu einer Entgrenzung des „Volkstümlichen“. Auch die Volkstümlichkeit als Segment der nationalen Unterhaltungsindustrie erlebte seine neuerliche Blüte durch einen Generationen- und Perspektivwechsel. Volkstümlichkeit war nicht mehr allein das Verständigungsinstrument eines alten, rückwärtsgewandten Kleinbürgertums, sondern in einer so oder so verschärften Form gerade der karrieristisch-überaffirmativen Jugend, die sich zum Motor des Neoliberalismus machte, und die Spannung zwischen Aufstiegslust und Abstiegsangst kaum aushalten konnte. Worum es also ging war eine Form der regressiven Rückbindung, die gleichwohl die wirtschaftliche und soziale Dynamik nicht behinderte. Das Volkstümliche identifiziert den Empfänger nicht mit einer bestimmten Provinz, sondern mit einer allgemeinen Provinzialität (vielleicht noch vage an bestimmte Traumlandschaften deutscher Heimatlichkeit gebunden: die Alpen, die Heide, die Küste). Die Outlet-Tracht stellt ihre Trägerinnen und Träger nicht mehr in einen bestimmten historischen und topographischen Zusammenhang, sondern wirkt nur als allgemeines Bekenntnis zu einem historisierenden und provinzialisierenden Traumreich. Es ist sozusagen von einem textilen Code, der einem doppelten Missbrauch unterworfen wurde, nur noch der Code genau dieses Missbrauchs übrig geblieben. Der Code der sexuellen Ökonomie und der Code der verbrämten politischen Reaktion.

Was die sexuelle Ökonomie anbelangt wird dieser Code dankenswert offen verwendet: Das Dirndl, gewiss in mehr oder weniger frei wählbarer Abstufung, ist eine akzeptierte Art, das Obszöne mit dem Ordentlichen zu verbinden. Ein sexueller Binnencode, zweifellos, aber auch eine sexualisierte Kampfansage an den Rest der Welt. Dirndl und Lederhose, wie gesagt, nur noch sehr, sehr unscharf an süddeutsche Traditionen angelehnt, konstruieren und rekonstruieren Männlichkeit und Weiblichkeit auf eine sehr spezifische Weise (aus der übrigens, wenn ich mich nicht irre, geraume Zeit mögliche Dimension der Ironie zunehmend verbannt wird).

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Damit sich der Jodler-Dress in mehrfacher

Hinsicht auch rentiert, muss man ihn sehen lassen.

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Von der öffentlichen Lesbarkeit der traditionellen Tracht ist im Outlet-Store-Landleben-Klamotten-Stil der Zwang zur Öffentlichkeit geblieben. Diese Kleidung bedarf des Anlasses und schafft ihn zugleich. In der Landliebe-Tracht ist man immer ein Schauspiel, weshalb man sich auf seine Mitspieler verlassen können muss. Die sexuell und politisch identifizierte Jodelklamotten-Truppe sieht im Rest der Welt freilich nicht nur das Publikum, sondern auch die „anderen“. Sie könnten sich lustig machen über das Bekenntnis zu Obszönität und Provinzialität. Daher ist in diesem textilen Code die Bearbeitung der narzisstischen Kränkung und eine mehr oder weniger aggressive Reaktion schon eingearbeitet. Der Code wird gleichsam automatisch immer lauter.

Und seine Träger ebenso. Denn

2. ist der textile Code unabdingbar mit bestimmten Ritualen und Gesten verbunden. In aller Regel ist man zu irgendeinem Volksfest oder einem anderen „Event“ der Provinzialität unterwegs, und sei’s die Einweihung einer Mehrzweckhalle. Volksfest ist immer irgendwo und Mehrzweckhallen wachsen so schnell aus dem Boden wie Bauernhöfe dichtmachen. Der verjodelte und reprovinzialisierte deutsche Mittelstand jenseits der Zwanzig und diesseits der Vierzig verwandelt sich auf dem Land, das er mit solcher Liebe und Lust erobert hat, gemeinsam mit dem entwurzelten und verkleinbürgerten aber nicht-mal-so-schlecht-verdienenden Teil der affirmierten Landbevölkerung in eine neue Klasse, das sich kulturell als Partyvolk zeigt, das von einer Selbstfeier zur anderen zieht. Die Mitglieder dieser neuen Klasse des deutschen Volkstümlichkeitskleinbürgers sind insofern ein klitzekleines soziales Problem, weil die Sphäre zwischen „Gut drauf sein“ und Amoklaufen ausgesprochen knapp bemessen ist. Denn die Spannung zwischen Aufstiegslust und Abstiegsangst ist offensichtlich nur durch besonders rasche Wechsel von Regression und Aggression abzubauen. Natürlich ist es unschicklich, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Immobilienhandel, Trachtenmoden, „Landlust“, volltrunkenen Familienvätern, die im Streit um die Männlichkeit von Bollerwagen einander am Vatertag totschlagen, Neoliberalismus und Gartencentern. Aber so wie uns langsam dämmert, dass eine „neue Unterschicht“ erzeugt wird, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell, das heißt durch Ästhetiken, Narrative, Codes und Bilder, so könnte uns auch dämmern, dass eine neue Mittelschicht erzeugt wird, nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell. Und zu den informellen Codes dieses neuen deutschen Provinzialkleinbürgertums (das es natürlich überall gibt, denn das Land, auf das es gezogen wird von Lust, Liebe, Bankkredit und Immobilienhandel, Werbung und Bilderblatt, ist ja vorwiegend geträumt), gehört offensichtlich dieser Diskurs der Neo-Volkstümlichkeit. (Wir vergessen dabei übrigens keineswegs, dass es die Landliebe neben der kleinbürgerlich-geschmacklosen auch in einer gentrifizierten und elitären Art gibt.)

Damit sich der Jodler-Dress in mehrfacher Hinsicht auch rentiert, muss man ihn sehen lassen. Dazu müssen die Anlässe dafür erweitert werden, das ist nur vernünftig. Es reichen also nicht mehr die Hochzeiten und Volksfeste aus, Sport, Disco, Wellness im Mega-Stadlhotel, das alles wird vertrachtet, und man benutz die Tracht eben gerade am wenigstens „daheim“, sondern trägt sie in stets weiteren Kreisen umher: Sie stiftet nicht regionale Identität sondern bewährt sich als aggressives Medium im kulturellen Binnen-Export. Die teuren Jodlerklamotten sind unterwegs, um sich zu verwerten: Sexuell, ökonomisch und politisch. Und, genau besehen, von einem Besäufnis zum anderen. Denn bemerkenswerter Weise scheint das Tragen von Tracht die soziale Erlaubnis zu beinhalten, öffentlich und auch außerhalb geschlossener Einrichtungen wie Bierzelten und -gärten Alkohol in gesundheits- und sozialgefährdenden Mengen zu sich zu nehmen und sich dementsprechend zu verhalten. Das Tragen einer Tracht beinhaltet nicht nur die Erlaubnis, politisch und sexuell mehr als unkorrekte Witze zu lallen, sondern auch genau das Verhalten an den Tag zu legen, das ansonsten im Diskurs der Klasse als „nicht schicklich“ galt. Übrigens einschließlich dessen, was dann in der Zeitung als „sinnlose Gewalt“ vorkommt.

Das alles ist insofern kein Wunder, als der neue „Dirndl-Boom“, den die Hersteller im Süden entzückt registrieren, seinen Ursprung auf dem Münchner Oktoberfest hat, das seit Jahr und Tag als Durchlauferhitzer für einen neuen Sozialbazillus aus schlechtem Geschmack und mittlerem Reichtum (ebenfalls mit einem „Geschmack“) bewährt ist. Hier etablierte sich das Tragen von Trachten insbesondere bei jungen Leuten in den so genannten Nuller Jahren gleichsam als Bekenntnis zur hedonistisch gemäßigten Rechten (die ganz echten Nazis tragen dann wieder so etwas nicht, weil es dann doch nicht gesamt- und großdeutsch genug und auch zu unmilitärisch ist). Die Behauptung übrigens, die Tracht sei hier „quer durch alle Bevölkerungsschichten“ beliebt, bricht sich an den Einkaufspreisen. Von der neuen Unterschicht heißt es, man bringe sich da wegen ein paar Nike-Turnschuhen um. Was, so riskieren wir zu fragen, tut der neue deutsche Volkskleinbürger für seine „Nobeltracht“?

Die neue Klasse entsteht aus einer radikalen Umwidmung des ländlichen Raums (und des ländlichen Traums). Zitieren wir aus dem Fachblatt „Allgäuer Wirtschaftsmagazin“, das unter der Überschrift „Dirndl boomen wie noch nie“ (toller Satz, nebenbei!) einen besonders erfolgreichen Betrieb der Branche vorstellt: „In dem kleinen Weiler Schwabaich bei Schwabmühlhausen (Gemeinde Langerringen) befinden sich die Räumlichkeiten in einem ehemaligen Stadl und Heuboden auf zwei Etagen mit mehr als 700 Quadratmeter Verkaufsfläche. Urig und heimelig lädt der Stadl schon von außen die Kunden zum Shoppen ein. Die alten Holzbalken und die knarrzenden Dielen machen den Verkaufsraum authentisch.“ Und so geht das noch zwei Seiten weiter.

Der Verlust der Heimat durch die gnadenlose Ökonomie wird von der neuen schlafstädtisch/ländlichen Mittelklasse durch eine gnadenlose Ökonomisierung der Heimat beantwortet. Doch der dabei entstandene neue Dress-Code ist nicht nur peinlich sondern auch peinigend. Längst ist er für etliche Insassen dieser Klasse zu einem Zwang geworden, den man den Trägern auch anmerkt. Wenn man einer Gruppe deutscher Kleinbürger im Jodlerdress begegnet, kann man, neben der Mehrheit, die ohnehin schon so besoffen ist, dass sie nichts mehr mitkriegt, zwei User-Gruppen ausmachen: Die einen, die ihre teure Tracht sehr bewusst und vollständig adaptiert als Medium sozialer Identifikation und der Karriere einsetzen (jenseits von Suff und günstigem Fick) und die anderen, die vor Scham und Unsicherheit am liebsten im Boden versinken würden. Doch längst gibt es zumindest in Süddeutschland soziale Ereignisse, die unter Dirndl- und Lederhosenzwang stehen. Aber wo die Gefahr am größten ist, da wächst das Rettende auch. Der Trachten-, Jodel- und Lederhosen-Code schnappt über und kippt ins Karnevaleske, ins Queere, in Cross-Dressing. Werner Sedlmeir, der Inhaber von Sedlmeir’s Leder & Trachtenhof (volkstümlich wird die deutsche Sprache immer erst durch die Verwendung falscher Apostrophe) im erwähnten Artikel: „Bei den jungen Mädchen besonders beliebt sind bunte fetzige Lederhosen in violettem oder pinkem Nappaleder“.

Der zerfallende deutsche Mittelstand hat sich bei seinem kannibalistischen Beutezug in die Provinz vor lauter Landliebe und Volkstümlichkeit, an Tracht und Niedertracht überfressen. Und jetzt kriegt man das Kotzen.

Georg Seeßlen