Ferien, und was das Kino daraus macht 

Zu den schönsten (und gefährlichsten) Krisen des kleinbürgerlichen Alltags zählen Ferien und die dazu gehörende Urlaubsreise. Ferien sind die Auszeit, die von diesem Alltag genommen werden. Zugleich sind sie aber auch die extremste Verdichtung der hier eingeübten Rituale, Wahrnehmungen, Beziehungen. Es ist der Versuch, den Rausch des Fremden und des Anderen zu kontrollieren. In den Ferien kann man sich schnell verlieben. Und noch schneller kann man sich auf mehr oder weniger gefährliche Weise auf die Nerven gehen. Man kann etwas lernen von einer fremden Kultur. Und noch schneller kann man in dieser fremden Kultur etwas Verheerendes anrichten. Die Ferienreise ist die Fortsetzung und Negation aller bürgerlichen Formen der Reise vordem. Es steckt noch etwas vom kolonialen Beutezug, vom Handelsauftrag, von der Bildungsreise, vom zeitweiligen Exil darin, aber auch von der „Sommerfrische“, in der sich so viele biografische Erinnerungen und Mythen der bürgerlichen Erinnerung aufheben lassen, dass ganze literarische Genres damit bestückt werden konnten. Ferien sind das Reich der ersten Abenteuer der Kindheit, das erotische Erlebnis und das Glück der Familien. Aber ganz nahe ist immer auch die emotionale, familiäre und kulturelle Katastrophe. Weil Glück und Gefahr so nahe beieinander sind, muss man unentwegt auch von Ferien erzählen. Zum Beispiel im Kino.

Natürlich sind Filme immer auch zugleich Wunscherfüllungen, Angstabwehr und Appetitmacher, die besten medialen Verlängerungen der Tourismusbranche, die ihrerseits ja vor allem von den Bildern lebt, die sie macht, und die man sich durch sie machen kann. Das reicht von den deutsch-österreichischen Heimatfilmen aus der Zeit des Wirtschaftswunders bis zum „Traumschiff“-Kitsch der Gegenwart. Dem Frieden in Ferienfilmen ist noch weniger zu trauen als dem Frieden einer Strandpromenade. Ferienfilme sind in der Regel so aufdringlich wie Sonnenbrillen-Verkäufer am Strand. Sie sind laut und aufgekratzt, hysterisch, verwirrt und fest zum Amüsement entschlossen. Ganz wie das richtige Ferienleben.

Deshalb ist die perfekte Form des Ferienfilms die Komödie. Sie allein ist in der Lage zugleich das Glück und die Katastrophe darzustellen, ohne so hässliche Gefühle wie Neid oder Abscheu zu erwecken. In ihr mischen sich Sehnsucht und Panik, Erwartung und Enttäuschung. Denn die Ferien sind das Letzte, was an Utopie, an Freiheit und Sinn noch in den kleinbürgerlichen Alltag scheint. Und sie sind der Ort, an dem sich genau dies alles durch eigene Schuld zerstört. So sind es auch Ferienfilme, die am genauesten die Modernisierungsprozesse von Gesellschaften (oder deren Abwehr) wiedergeben. Wäre das Wirtschaftswunder der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft möglich gewesen, wenn sie nicht vor allem auch eine Feriengesellschaft gewesen wäre? FERIEN VOM ICH, vielleicht bei den SINGENDEN ENGELN VON TIROL, das führte Menschen wie den LETZTEN FUSSGÄNGER und natürlich IMMER DIE RADFAHRER noch einmal aus den Schuldverstrickungen von Vergangenheit und Gegenwart.

Natürlich gibt es Ferienfilme, die einem den Spaß an Ferien gründlich vermiesen können. Mögen es so treffende Satiren wie Gerhart Polts MAN SPRICHT DEUTSH sein, oder so ungeschminkte Regressionsphantasien wie BALLERMANN 6. Da will man gewiss nicht sein, wo diese deutschen Spießer und Prolls ihr Geld lassen und dafür glauben, sich alles erlauben zu dürfen. Hat dieser italienische Staatssekretär, wegen dem der Kanzler nicht mehr nach Pesaro fahren will, nicht doch ein klein wenig Recht mit seiner Hasstirade auf deutsche Touristen? Weniger auf dem Oktoberfest, aber in deutschen Ferienfilmen sind sie durchaus zu sehen, die blonden Nationalrülpser, die über südliche Kulturstrände herfallen. Die Comic-Figur Werner treibt es in dieser Ferienfilm-Saison zum Flachköpper auf Korsika in WERNER – GEKOTZT WIRD SPÄTER. Der Titel ist Programm.

Aber der Kleinbürger auf Ferienreise ist unabhängig von Nationalität und Haarfarbe eine komische Kulturkatastrophe. Deshalb gibt es ihn in jeder Cinematografie, in Gestalt von Louis de Funès in Frankreich, der schon mit seiner vollbepackten Citroen Deesse die anderen Ferienreisenden peinigt, als trotteligen Fantozzi (alias Paolo Villagio) in Italien; unser Harald Juhnke machte die Ufer des Wörthersee so unbewohnbar wie die Olsenbande den dänischen Strand. Die französischen Charlots und die Bronzées tragen in ihren Filmserien Hormonstau und unappetitliche Ernährungsgewohnheiten in Europa herum, und Chevy Chase mit seiner McDonald’s-süchtigen, banausigen Familie in den amerikanischen Ferienfilmen der NATIONAL LAMPOON-Serie (treffender deutscher Titel: HILFE, DIE AMIS KOMMEN) verwüstet Museen des alten Europa. Es ist schwer, diese Kleinbürgerfamilie in Ferien zu lieben. Wenn man eine Kultur nicht mag, muss man sich nur deren Ferienfilme ansehen, um jedes Vorurteil bestätigt zu bekommen.

An den Ferienfilmen erkennt man die Träume und die Alpträume einer Nation zu einer Zeit. Hinaus muss Alec Guiness in TO PARIS WITH LOVE in den fünfziger Jahren um der emotionalen und erotischen Erkaltung daheim zu entgehen. SCHICK DEINE FRAU NICHT NACH ITALIEN warnte der deutsche Film in den sechziger Jahren vor der sexuellen Revolte unter südlicher Sonne, ein Jahrzehnt später treiben’s deutsche Touristen in Filmen wie GRIECHISCHE FEIGEN, nur die Griechen dürfen nicht mitmachen sondern lediglich vor deutschen Urlauberinnen-Brüsten verschmachten. Und Fantozzi ist in I DON’T SPEAK English in der Fremdheit ohne Pasta und Mama so schnell verloren wie die amerikanische Familie Grisworld auf ihrem Europa-Trip, deren eigene Ignoranz nur durch den Snobismus der Bewohner des alten Europa übertroffen wird.

Beinahe noch schlimmer als das Unterwegs-Sein des Kleinbürgers auf Urlaubsreise ist das Angekommen-Sein in seinen mehr oder weniger paradiesischen Parallelgesellschaften, die sich so rasch bilden wie sie wieder zerfallen. Was auf der Ferienroute beginnt, in einem Film wie SUPERSTAU etwa, das setzt sich in den Hotelanlagen und auf den Campingplätzen fort. Nichts mehr mit der kleinen Flucht à la KLEINES ZELT UND GROSSE LIEBE der frühen deutschen Ferienzeit. In Filmen wie dem dänischen CAMPING wird man sich rasch gegenseitig zur Hölle. Und als Einheimische findet man nicht nur fesche Skilehrer, Baywatchgirls oder lustige Sennerinnen. So wie Beppo Brem den Urlaubsgästen mit schöner Regelmäßigkeit die Liegewiese zu verjodeln pflegte, so versucht der cholerische Louis de Funès als GENDARM VON SAINT TROPEZ wenigstens den Nacktbadern den Strand zu verleiden.

Nein, unschuldig können im Ferienfilm höchstens die Kinder bleiben. Sie pflegen dort irgendwelche Gangster zur Strecke zu bringen, Ponyhöfe vor intriganten Kapitalisten zu retten, sich gegenseitig zu beschützen und dafür den ersten Kuss zu bekommen. Der perfekte Familien-Ferienfilm also erzählt drei Geschichten gleichzeitig. Die Geschichte von den nervtötenden Spießer-Eltern, die Geschichte von der sexuellen Erweckung der Teenager und die Abenteuergeschichte der Kids. Insofern wäre MR. HOBBS MACHT FERIEN nicht allein wegen James Stewart ein perfekter Ferienfilm. Sondern auch, weil er das Groteske der schönen Krise nicht an die Sehnsucht danach verrät, am Ende doch alles in Harmonie aufzulösen.

Aber solche Ferien gibt es schon lange nicht mehr. So wenig wie es die entsprechende Familie noch gibt. Die amerikanischen SIMPSONS, die holländischen FLODDERS oder die japanische FAMILIE MIT DEM UMGEDREHTEN DÜSENANTRIEB tragen allenfalls destruktive, jedenfalls keine utopischen Züge mehr in ihre Freizeitunternehmungen. David Hamilton begann mit seiner Weichzeichnerkamera in BILITIS (1977) eine schlichte aber erfolgreiche neue Form des Ferienfilms: Die Deflorationsferien. Im Bahnhofskino gab es in den siebziger Jahren dann FERIENSEX IN TIROL oder DAS LOVE HOTEL und, wenn man etwas mehr auf sich hielt, Strandphantasien der EIS AM STIEL – Serie oder amerikanische BEACH BALLS. Der Feriensexfilm tritt neben den Katastrophen-Familien-Ferienfilm und er kommt manchmal gar ins Grübeln, wie die feminine Variante in ICH ATME MIT DEM HERZEN oder ins Post-hippie-romantische träumen, wie IM JULI. Gott aber schütze uns vor „Aussteigerfilmen“ oder „Beziehungsfilmen“ mit Urlaubstouch!

Richtig abendfüllend sind Sex und Kulturkatastrophen aber nur in Filmen für ein eher spezielles Publikum. Die Ferien freilich können auch zu einer Form der Läuterung führen. Zum Beispiel können DREI MÄNNER IM SCHNEE ihre sozialen Vorurteile überwinden und Louis de Funès in DIE ABENTEUER DES RABBI JACOB seine rassistische Borniertheit. Wenn die Ferien zu langweilig werden sorgen Gangster (OH, DIESE FERIEN, KEVIN ALLEIN IN NEW YORK), Monster (CRITTERS II), politische Verschwörungen (DIE STUNDE DER PATRIOTEN) oder Naturkatastrophen für Abwechslung. Die synthetischen Ferienparadiese werden zerlegt, siehe WESTWORLD, JURASSIC PARK oder THE LOST BOYS. Der Urlaub wird zur Robinsonade, die zum Beispiel scheitert in DIE SCHIFFBRÜCHIGEN DER SCHILDKRÖTINSEL oder zum Überlebenstraining, das zum Beispiel gelingt in GRIZZLY MOUNTAIN. Aber manchmal kann man es auch übertreiben, so dass eine Ferienfahrt in HILLS HAVE EYES in einer der größten Studien in Terror endet, die sich die Filmgeschichte geleistet hat.

Und, dass Teenager in Ferienfilmen nur auf fäkalische Streiche und Duschkabinen-Blicke aus sind, bleibt auch nicht ohne Strafe. Dieser kleine Freiheitstraum, Ferien endlich ohne die Eltern, endet immer wieder als Alptraum. Auf dem Europatrip verwandeln sind amerikanische Rucksacktouristen schon einmal in Werwölfe (AN AMERICAN WEREWOLF IN LONDON) und am Ferienlager am Crystal Lake taucht Jahr für Jahr in den FREITAG DER 13.-Filmen der Killer mit der Eishockeymaske auf. Wenn Mädchen in amerikanischen Teenager-Filmen in den Ferien nicht entjungfert werden, dann werden sie erstochen.

Sind Ferienfilme also nichts anderes als Symptome einer Krise des kleinbürgerlichen Alltags, die umso weniger schön ist, je genauer man sie ansieht? Aber nein. In der kleinen Auszeit sind auch die achtsameren Empfindungen möglich. Was wären die Liebesgeschichten von Francois Truffaut wie ZWEI MÄDCHEN AUS WALES UND DIE LIEBE ZUM KONTINENT ohne diese flirrende Atmosphäre der kleinen Freiheit? Eric Rohmer erzählt seine Liebes- und Sommergeschichten gern aus den Ferien, von CLAIRES KNIE über PAULINE AM STRAND oder VIER ABENTEUER VON REINETTE UND MIRABELLE. Nur Godard, der missmutige Calvinist, kann mit Ferien so wenig anfangen, dass er sie in WEEKEND in einem endlosen, blutigen Verkehrsstau erstickt.

Ein paar Ferienfilme sind regelrechte Kultfilme humanistischer Gelassenheit geworden, allen voran natürlich Jacques Tatis DIE FERIEN DES MONSIEUR HULOT. Es ist zugleich der genaueste und der zärtlichste Ferienfilm der Kinogeschichte. Er zeigt, wie auch die Ferien nichts anderes sind als aneinander gereihte Rituale. Das Groteske und das Glück, das sind bei Tati nicht die beiden Seiten der schönen Krise, die man irgendwie miteinander in Beziehung setzen muss. Es ist einfach dasselbe. Es ist so, wie Fellini den Strand beobachtet in AMARCORD: das Glück und das Groteske fließen in einer schönen Trägheit ineinander. Im schönsten Ferienfilm könnte man vielleicht lernen, anderen Menschen ihr kleines Glück zu gönnen, ohne Neid, ohne Überheblichkeit, ohne voyeuristische Gier. Aber auch ohne Illusionen.

Daher sind wahrscheinlich jene Filme, die mit sadistischem Vergnügen das Groteske der Ferien sezieren, genauso falsch wie jene, die das falsche Glück der Werbeprospekte ins Erotische und Familiäre verlängern. Das wahre Glück der Ferien ist, dass einem das Groteske nichts mehr ausmacht. Dieser Zustand der Ferien-Erleuchtung ist im Kino beinahe genau so schwer zu erreichen wie in der Wirklichkeit.

Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben Juli 2003