Vom Scheitern der Neuen Mitte an ihrer Erzählmaschine.

Vor einigen Jahren starb im Freibad einer kleinen Stadt im Osten der neuen deutschen Republik ein kleiner Junge namens Joseph. Ein solcher Tod ist von vornherein ein Skandal, er spricht von Gleichgültigkeit, Unachtsamkeit einer Gemeinschaft, davon, wie wenig sicher wir an jenen Orten sind, die gerade als Inszenierungen der Versicherung wirken sollten. Die Ermittlungen in diesem Fall wurden offensichtlich von vornherein »schlampig« geführt, eine Fortsetzung von Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit.
Dass etwas nicht stimmte an diesem Tod, ein Mangel an Würde vielleicht, von der Unfähigkeit zur Trauer ganz zu schweigen, blieb als Unbehagen in einer Stadt, die, verfassungsschutznotorisch, als vom Rechtsextremismus durchsetzt gelten muss.

Das Opfer, der kleine Joseph, gehörte zu einer Familie, die, so oder so, unter dem rassistischen Klima der Stadt Sebnitz zu leiden hatte. So tauchte der Verdacht auf, dieser Tod könnte auf etwas anderes zurückzuführen sein als auf einen sinnlosen Badeunfall, wie er immer wieder einmal geschieht. Zeugen meldeten sich, die die Gewalt gegen das Kind beobachtet haben wollten, es kam zu Verhaftungen, Verhören, Anklagen. Und dann entdeckte Bild die Geschichte vom Tod in Sebnitz.

Aus einer Ansammlung von Fakten, Vermutungen, Beziehungen wurde, schneller und radikaler als es in einer diskursiven Verständigung der Fall gewesen wäre, ein Medienmythos, eine »Erzählung«, wie sie längst zum Hauptverständigungsmittel in der populistischen Mediokratie geworden ist. Die Nachricht, ob sie nun primär »gefälscht« ist oder nicht, verwandelt sich in gewisser Weise unumkehrbar in die »Story«, deren Sinn im Wesentlichen darin liegt, ob sie angenommen wird oder nicht. Die Legende testet gleichsam unseren »Glauben«. Als Problem erscheinen nun die »seltsamen Attraktoren« in einem solchen Verwandlungsprozess.

Wann wird eine Nachricht eine »Geschichte« und wann nicht? Rassistische Verbrechen, antisemitische Attacken gibt es ja zuhauf. Doch wenige dieser vermischten Nachrichten werden zu »Geschichten«, und noch weniger erreichen den medialen Mainstream, die große, fragmentierte Erzählung unserer Selbstvergewisserung.

Erstens: Eine Geschichte hat die Form eines Melodramas. Das heißt: Die moralische Wertung ist wegen der Heftigkeit des Ereignisses zum Selbstausdruck gezwungen. Anders gesagt: Das Hässliche ist auch das Böse, das Gute ist auch das Schöne.

Zweitens: Helden und Schurken müssen dem Mainstream kompatibel sein. Wir hassen die, die wir schon immer hassen wollen, und lieben die, die wir schon immer lieben wollen. Im Kino etwa verschafft uns das zwei Stunden lustvoller Regression für den Gegenwert von etwa 14 Mark. In der »Wirklichkeit« ist es eine der Voraussetzungen für die Faschisierung der Wahrnehmung. Ein unschuldiges Kind, eine Gruppe Skins, unbeteiligt wegsehende Zuschauer, das Ganze an einem durchaus nicht unsymbolischen Ort. Das »Unheimliche« des Ostens ist in dieser Erzählung im Subtext aufgehoben. Das Problem nämlich ist nicht so sehr, dass wir nicht recht »vereinigt« sind, eine Ungleichzeitigkeit der Entwicklung unter den gleichen Zeichen (Aldi, Adidas, Mercedes …), sondern dass in dieser Situation in den deutschen Bildern das Unheimliche wuchert.

Was Story und Bild werden muss, das ist das, was uns an uns selber fremd geblieben ist. Das Angebot dieser Geschichte ist nichts anderes als das einer Empörung über eine Form, die sich nicht um den Inhalt schert. Wenn, wie in Berlin-Zehlendorf geschehen, einem jüdischen Kind von seinen Mitschülern ein Hakenkreuz auf den Schulranzen gemalt wird und es vor ein Auto gestoßen wird, so ist das in dieser Logik keine Geschichte, denn erstens sind die Rollen melodramatisch unklar verteilt (»unschuldige« Kinder auf beiden Seiten), und zweitens ist offensichtlich ein »Inhalt« vorhanden. Diese Täter-Kinder kommen aus der Mitte der Gesellschaft selbst.

Nun ist freilich die Geschichte von Sebnitz wieder zurückgenommen worden, ein Umstand, den wir, wüssten wir es nicht besser, stante pede als »strategische« Inszenierung ansehen könnten. Auch in den bürgerlichen Medien kippt nun der kurze rauschhafte Konsens (Wir müssen endlich etwas tun!) in das bedächtige »Verständnis« um. Täter- und Opfer-Rollen verschwimmen. Natürlich geht man auf Distanz zum »Schweinejournalismus«, ohne zu bedenken, dass diese Erzählung sich nun fortsetzt als eine Lektüre des Ostens durch den Westen. Das Unheimliche verschwindet ja nicht in dieser Zurücknahme, es verschiebt sich nur von der symbolischen Tat in den kranken Kopf, der sie imaginiert, von der melodramatischen Untat in die Spiegelungen der Möglichkeit. Aus einer Geschichte des Unheimlichen wird eine unheimliche Geschichte. Die politische Parabel ist zu einer Horrorstory geworden.

Natürlich fällt es einer Mehrzahl der so oder so Beteiligten auf, dass es nun viel zu platt wäre, die Revision des Skandals als neuerliche symbolische Installation zur Beendigung der öffentlichen Inszenierung eines demokratischen Widerstands gegen die Faschisierung zu benutzen. Jeder Kommentar »warnt« zugleich vor diesem Vorgang und ist doch Teil davon. Auch kehrt sich nun die Blickrichtung nicht einfach um: der Ostler, dem im Blick des Westlers so ziemlich jede Gemeinheit zuzutrauen ist, der Westler, der im Blick des Ostlers bereit ist, ihm jede Gemeinheit zu unterstellen. Gegenstand der zweiten Geschichte ist nicht mehr deren Inhalt, sondern die Frage nach seiner Autorenschaft. Daher kann man zum Faktischen und Diskursiven nicht mehr zurückkehren.

Wenn also aus einer »historischen« Erzählung eine Horrorstory geworden ist, dann verdeckt sich darin so sehr unsere ursprüngliche Angst, wie sich der patriarchale Ausbeuter im Bild des Vampirs verdecken mag. Die Angst wird paradoxerweise so groß, dass ihr eigentlicher Gegenstand dahinter verschwindet. Eine Art Exorzismus also ist die einzig verbliebene Möglichkeit der Reaktion.

Nach dem »Desaster« dieser Verkettung von Entsetzen, Vorverurteilung, Korrektur und Nachbearbeitung einer Geschichte, die nicht bloß den Nachteil hatte, nicht wahr zu sein, sondern eben auch nicht mainstreamkompatibel genug zu sein, einigte man sich von der Mitte bis zur Linken auf einen »Betroffenheitskompromiss«, der bußpredigerisch ungefähr so geht: Am Ende gibt es nur Verlierer (und wir müssen nur aufpassen, dass nicht die Rechtsextremen doch noch profitieren).

Ich fürchte, das genaue Gegenteil ist der Fall. Die Geschichte vom Tod des kleinen Joseph lässt sich auch lesen als beinahe endlose Kette der Profitierungen. Da ist es allenfalls noch ein kleiner Witz, dass schon am Anfang dieser Geschichte, wenn auch in geradezu lächerlichem Maße, Geld im Spiel war. Am Ende ist der gewandelte Gegenstand – von rechtsextremer Gewalt im Osten zur Gewalt der Medien gegen den Osten – selbst wiederum profitabel. In Sebnitz bildete sich im Dezember eine »Bürgerinitiative«, die sich gegen das »Medienbild« der Stadt richtete (überflüssig zu sagen, dass in ihr Rechtsextreme mit guten Bürgern und Bürgerinnen traulich sich vereinten). Es ist die Besetzung von Instrumenten der alten und der neuen, der archaischen und der medialen Öffentlichkeit.

Denn natürlich schreibt sich diese Erzählung in eine andere ein, in die große Erzählung vom Unbehagen gegenüber unseren Medien als einzig wahren Trägern der »Vereinigung«. Was zunächst erstaunen mag, ist, dass sich in Sebnitz der Zorn am wenigsten offensichtlich gegen die Urheber der falschen Erzählung, gegen Bild, richtete, als vielmehr vor allem gegen das Fernsehen, das sie allenfalls noch einmal verstärkte. Dezidiert richtet sich die Aggression gegen die »elektronischen Medien«, nicht gegen die »Erzählung« also, sondern gegen den »Blick«.

Die Familie Kantelberg-Abdulla war für eine kurze Zeit so etwas wie das tragische Abbild der komödiantischen »Big Brother«-Stars. Für einen Augenblick Zentrum einer Erzählung und dann schnell wieder vertrieben, eben auch hier mit den scheinbar seriösen Mitteln der Tragödie.

Das gesellschaftliche Projekt dieser Verkettungen ist eine Verwandlung der eigenen Faschisierung von einem Impuls zu einem Affekt. Anders gesagt: Der deutsche Faschismus soll der Gesellschaft selber äußerlich werden, erzählbar. So ist die Formel vom »Aufstand der Anständigen« nicht nur eine gewollte semantische Katastrophe. Geht nicht ein »Aufstand« in der Regel von unten nach oben? Und ist nicht, umgekehrt, die Vorstellung vom »Anständigen« eine von rechts höchst problematisch besetzte, nicht nur in der wahrhaft furchtbaren Leichen-Rede des Joseph Goebbels? Die Mitte besetzt nicht nur die politischen Formen der Öffentlichkeit, aus der Lichterkette wird, ausgerechnet, eine »machtvolle Demonstration«, sondern auch den Mythos der Revolte. Und in der Erzählung von Sebnitz versuchte diese Neue Mitte gleichsam, auch das Melodrama zu besetzen, um sich das Unbehagen äußerlich zu machen. Warum ging das schief?

Akzeptieren wir die Erzählung vom Tod des kleinen Joseph als eine unseren Vermittlungsformen angemessene Form des Opfers, so kann sich »das große Andere« unserer Gesellschaft, nicht Hitler, nicht Stalin, sondern die mediale Präsenz der ewigen Mitte, zugute halten, dieses Opfer nicht angenommen zu haben. Dem Kind wird, so besehen, vielleicht die Würde eines natürlichen Todes zurückgegeben. Der Bock, der an seiner Stelle geopfert wird, erscheint zwar als »die Medien«, aber natürlich ist auch das Objekt dieses Rituals das Medium. Es spaltet und virtualisiert sich nur noch einmal mehr, da nur das Medium in der Lage ist, Einsprüche gegen das Medium sichtbar zu machen. Auf den Impuls einer radikalen Konkretisierung folgt ein anderer, nicht weniger radikaler zur Auflösung.

Nachdem sich die Geschichte von Joseph sozusagen vor unseren Augen zersetzt hat, werden die neuesten Nachrichten faschistischer Gewalttaten gleichsam »vorsichtiger« behandelt. Man weigert sich, sie wieder »ungeprüft« in Geschichten zu verwandeln (das heißt auch: mit einem inneren Sinn und mit der melodramatischen Verständlichkeit zu füllen). So bleiben sie uns nun äußerlich, als kämen sie vom Mars.

Die melodramatische Erzählung musste den Meta-Politikern der »Mitte« gerade recht kommen. Es stimmte der Schurke (verrohte Jugendliche, denen das Nazitum eigentlich nur noch Beigeschmack war und deren Vernetzung zu irgendwelchen »alten Kameraden« und politischen Organisationen ausgeblendet gewesen wäre). Es stimmte der Hintergrund, jene gesellschaftliche Gleichgültigkeit, die sich als gefährlich für die soziale Beweglichkeit erwiesen hat. Es stimmte das Opfer: jenes Kind, das sich zum letzten Tabu der Bosheit eignet, das den Schnittpunkt von Brutalität und Sentimentalität besetzt. Eine Anne-Frank-Version des Opfers, von dem die ergriffenen Mainstream-Faschisten (nach Adorno) leicht behaupten: »Dieses Kind hätte man doch nicht töten sollen.«

Mit anderen Worten: Mochte der Inhalt dieser Erzählung einem antifaschistischen Exorzismus gleichen, so war ihre Form schon selbst erheblich faschisiert. Die Nazis von Sebnitz hätte auch jener Mainstream hassen können, der dem Entsetzen ein überzeugtes »Beim Hitler hätt’s das nicht gegeben« nachzuschicken pflegt. Denn im Kern der Erzählung steckte gar nicht die Ablehnung der Nazis und ihrer Gewalt, sondern eine Kombination der klasssischen Distanzierungsgeste des Mainstream gegen die eigene Jugend (die nicht »ordentlich« ist) und gewiss auch gegenüber dem kulturellen Mezzogiorno des Ostens, die Verachtung der Masse und schließlich die Kleinstadt-Erzählung einer narzisstischen Kränkung, in der sich die beiden Pfarrer auf eine so unrühmliche Art hervortaten, dass der eine, der evangelische, die Schuld den Eltern zurückgab, der andere die Nation zur »Trauer« aufforderte, nicht etwa um das gestorbene Kind, sondern darüber, »wie man im Fall Joseph Abdulla Menschen vorverurteilt hat«. Am Ende der Melodramatisierung steht also die Aufweichung des Diskurses gegen Rechts, die Entschärfung der Einstellung, die Konstruktion so verschwommener wie wirksamer mythischer Identifikationen.

Das populistische Potenzial dieser Erzählung, »Neonazis ertränkten Kind« (Bild-Schlagzeile), ist groß genug, um sofort von den entsprechenden »Verstärkern« erkannt zu werden. Dass sich »seriösere« Medien dabei herauszuhalten versuchten (oder ihre verbalen und ikonografischen Ausrutscher immerhin in Grenzen zu halten versuchten), tut kaum etwas zur Sache. Denn die Phantasie wurde dabei nur zur Darstellung zweiten Grades, die »zweite Ebene« der Erzählung wurde also gleich mitproduziert. Selbst der antifaschistische Impuls setzte Hoffnungen in diese Erzählung, sie könne nun – endlich – auch in der Mitte »verstanden« werden.

Natürlich fiel die Journaille wie die Pest über den Ort. Wenn man, wie der Verfasser derzeit im BSE-Allgäu, den »Einfall« dieser Boulevard-Journalisten und -Journalistinnen miterlebt, erkennt man schnell, wie nahe deren Vorgehen einer Plünderung nach einem kriegerischen Geschehen ist. Da verlieren die Überlebenden nicht nur den Rest ihrer Würde, sondern auch nicht selten ihr soziales Leben. Ganz sicher ist das »Live«-Erleben einer Gruppe von westdeutschen Boulevardjournalisten ein Kulturschock, gegen den wiederum nur eine »Erzählung« hilft.

Die Erzählung vom Zusammenstehen, ja von der Wiedererfindung der Dorfgemeinschaft im Allgäu funktioniert dabei vielleicht etwas einfacher (vielleicht auch weil man sich gegenüber der Pest, die da ins Land geholt wurde, durchaus unschuldig wähnen mag) als die Gegenerzählung von Sebnitz, die in ihre Wiedererfindung der »Gemeinschaft« gleich die rechte Mythologie mit einfließen lässt und exakt jene Entschuldungsrituale inszeniert, die wir aus der »Vergangenheitsbewältigung« kennen. Aus der Erzählung der Schuld in Sebnitz wird die Erzählung der Unschuld von Sebnitz. Die Gegenerzählung, die nur scheinbar von »Beruhigung«, »Versachlichung«, »Vorsicht« zu sprechen scheint, ist so schnell melodramatisiert wie der Beginn.

Nun wird Renate Kantelberg-Abdulla zur »verwirrten, tragischen Lügnerin«, und die Stadt Sebnitz wird als »Verurteilte«, »Vorverurteilte« und gar »Leidtragende« gesehen, als wäre eine Stadt in den Rang einer menschlichen Einheit zu erheben. (Eine symbolische und bürokratische Einheit wird in den Rang einer organischen Einheit erhoben, und jeder Teilhaber darf seine eigene narzisstische Kränkung dort hineinprojizieren – sozusagen ein erzfaschistischer Vorgang.) Tatsächlich wurde denn auch ein »Spendenkonto« nicht etwa für irgendwelche Opfer, sondern »für die Stadt« eingerichtet; die Wanderung humaner und solidarischer Einrichtungen nach rechts kann man kaum besser beschreiben. Eine Stadt tut sich selbst leid und trifft damit offensichtlich die deutsche Seele noch mehr als der Tod eines Kindes in der Öffentlichkeit eines Freibades.

Dass sich die politischen und kulturellen Instanzen in dieser Stadt genauso skrupellos der Möglichkeit bedienen, diese Gegenerzählung als Akt der »Reinwaschung« von den vom Verfassungsschutz (dem zweiten Blick des Unheimlichen, des »großen Anderen« auf sich selbst und seine Unheimlichkeit) konstatierten Anhäufung faschistischer und rechtsextremer Gewalt zu benutzen, ist ebenso wenig überraschend wie die Hilflosigkeit jener Medien, die vergeblich versuchen, so etwas wie eine aufklärerische Skepsis zu bewahren. Wahrscheinlich ist es ihnen unmöglich, die wahre »Absicht« dieses Unternehmens zu erkennen.

Wohlgemerkt: Es steckt kein verschwörerischer Mastermind hinter dieser Absicht, wohl aber verhält sich jede beteiligte Instanz, Täter, Opfer, Politik und Medien, in einer so merkwürdig aufeinander bezogenen Weise, als gelte es, dem Zug der Zeit zu entsprechen oder wenigstens nicht von ihm überfahren zu werden. Es ist nur die Frage, wie historische Zufälle und ihre Verkettung verstärkt werden, um dramatische Wirkungen auszulösen.

Die Neue Mitte unter Schröder / Scharping / Fischer und ihren Verstärkern wollte nach der Einigung der »Nation« im Kosovo-Krieg eine ähnliche Aktion der nationalen Versöhnung in der Mitte starten. Unter dem Motto »Aufstand der Anständigen« wurden staatlich organisierte Demonstrationen durchgeführt. Das Angebot ging nun gerade in die andere Richtung: Absorbierte der Krieg im Kosovo die moralischen Impulse der politischen Peripherien und der Nachklänge einstiger Frontstellungen, so sollte nun in den Märschen der Anständigen die moralische Fraktion ihre Hände nach der Mitte ausstrecken dürfen und auch dort einen Akt einer neuen Einheit gegen den inneren Feind herausbilden dürfen.

Das gelang nur mit Einschränkungen, abgesehen von jenen maßgebenden Kräften, bei denen das Ganze von vornherein als einmalige Aktion symbolischer Schuldabwehr vor dem Rückkehr zum Tagesgeschäft angesehen worden war. Die Mitte erwies sich gegenüber dieser staatlich verordneten Aktion gegen rechts resistenter als gedacht, und auch die Medien produzierten allenfalls ein quasi pflichtbewusstes Interesse aber kaum so etwas wie einen »rauschhaften Konsens«, der den »Feldzug gegen Rechts« tatsächlich in Gang gesetzt hätte. So schien sich die Erzählung des kleinen Joseph geradezu anzubieten, um dem, was man als Geste gegen Rechts dieser Neuen Mitte hätte bezeichnen können, einen melodramatischen Nachdruck zu verleihen. Nachdem auch dieser Versuch scheitern musste, folgte gleichsam im Gegenzug die nächste Runde, nämlich die öffentliche Verhandlung der »radikalen« Vergangenheit von Joseph Fischer und Jürgen Trittin.

Die bürgerliche Presse fällt pflichtschuldigst auch auf diese Installation herein oder räsoniert ihren Sinn. (Dass Urheberin auch dieser Erzählung wieder eine gekränkte Frau mit einer monomanischen Wirklichkeitskonstruktion steht, verblüfft kaum noch, wenn man die mythische Konstruktion solcher Inszenierungen in Betracht zieht; ja vielleicht geht es da auch um eine Art Fernduell zwischen der Vertreterin der alten und der neuen Verschwörung. Es ist, vielleicht, der »Kriemhilds Rache«-Teil einer neuen nationalen Erzählung. Aber diesen Zuammenhang zu klären, müssen wir für den Augenblick zukünftigen Psychohistorikern und -historikerinnen überlassen.) Den, zugegeben: zynischen »Sinn«, der erst in der Verlängerung des Scheiterns eines höchst friedlichen »Angriffs« der Neuen Mitte gegen rechts ersichtlich wird, vermag man nicht zu sehen.

Er ist indes durchaus einleuchtend: Die Neue Mitte bot sich gleichsam als »nationales Versöhnungsangebot« an: Die alte demokratisch-pragmatische Politik sollte sich darin mit ihren einst rebellischen moralischen Kindern versöhnen unter der Prämisse beidseitiger Anpassungen und gewisser symbolischer Installationen. Dieses Projekt der nationalen Versöhnung, das im Übrigen in anderen Ländern leidlich positiv abgeschlossen wurde – in den USA »versöhnten« sich Befürworter und Gegner des Krieges in Vietnam, in Italien »versöhnten« sich wenigstens zum Teil die Gegner der anni di piomba – das sich die Neue Mitte auf die, nun ja, Fahnen schreiben wollte, stieß auf den zähen Widerstand der alten Mitte, die sich, anders als in den genannten Ländern, dadurch aus dem wärmenden Zentrum vertrieben wähnen musste.

Nach dem traditionellen Politikverständnis inszenierte die CDU daher eine Kette merkwürdiger verbaler und taktischer Entgleisungen, welche die diesem Politik-Verständnis verhaftete Presse entsprechend kopfschüttelnd registrierte. Tatsächlich aber ging es um nichts anderes als dieses Projekt der nationalen Versöhnung zu unterminieren und dem anderen, dem rechten Rand zu signalisieren, dass man den Preis dieser Versöhnung, nämlich die Organisation einer ernsthaften Geste gegen rechts, nicht akzeptierte. Die Verwendung der »Verbrecher«-Plakate im Wahlkampf war dabei gewiss kein »Schnitzer«, sondern ein Austesten der Übernahme faschistischer Rhetorik, das allein durch seine Nachricht genügend Signalwirkung entfaltete. Die Sebnitz-Gegenerzählung ist dabei ein wahres Geschenk für eine neue »Pubertät« dieser politischen Repräsentation, die im Grunde nach rechtsaußen die selben Angebote macht wie die Neue Mitte nach »links«.

Ohne die Funktionsweisen der Leitmedien wäre dieser Transformationsprozess nicht denkbar. Man kann das Vorgehen von Renate Kantelberg-Abdulla ja nicht nur als Ausdruck jener Ängste ansehen, die ein Leben in ständiger Diffamierung erzeugt, nicht jene tragische Paranoikerin, als die sie die Medien nun hinstellen, sondern als eine Frau, die die Lektion gelernt hat, die eben diese Medien uns jeden Tag verabreichen, nämlich, dass man eine Nachricht »verstärken« und melodramatisieren muss, um Gehör zu finden. Sie produzierte ein fatales Medienbild, das ebenso gut eine nicht-wirkliche Wahrscheinlichkeit wie eine Wirklichkeit verdecken konnte, in einer moderneren Form jener Selbstopferung, in der sich Menschen verbrennen oder sonstwie spektakulär opfern mussten, um überhaupt zum Nachrichtenbild zu werden.

Ich weiß, wie furchtbar zynisch es klingt, aber Sebnitz ist in der Tat nur als Parallelaktion zu »Big Brother« verständlich. Hier wie dort wird den Subjekten der Erzählmaschine für eine Zeit vorgegaukelt, sie könnten Autor und Subjekt der Erzählung bleiben, die Maschine gleichsam austricksen. Und hier wie dort schlägt diese Maschine dann nur um so erbarmungsloser zurück. Die Maschine produziert am Ende eben doch genau die Erzählung, auf die sie programmiert ist.

Gebetsmühlenhaft wird schließlich die Geschichte wiederholt von der medialen Bestätigung der Vorurteile, die man gegenüber »dem Osten« als dumpf, rassistisch und gefühllos gehabt habe. Wie nun, wenn ich solche Vorurteile gar nicht gehabt hätte (und, nur zum Beispiel, einen rassistischen Mord an jedem deutschen Ort für möglich hielte)?

Wir verstehen: Die Erzählmaschine konformiert uns sozusagen auch ohne Rücksicht auf die »Inhalte«; Erzählung und Gegenerzählung von Sebnitz laufen schließlich auf das Gleiche hinaus: auf den negativen Konsens. Wir tun sowas nicht, und damit basta. Und das wird zu einem Modell des Umgangs mit der neuesten Variante des deutschen Faschismus; er ist Objekt im Streit zwischen der alten und der neuen Mitte (mögen beide so virtuell sein wie ihre Medienprojektion voneinander).

Wenn ein »Leitmedium« wie Bild die Erzählung lanciert, muss sie sich um die Wirklichkeit nicht scheren, denn es kann in diesem Spiel nicht verlieren (das ja schließlich, nicht zu vergessen, von der Staatsanwaltschaft begonnen wurde). Verschwörungstheoretiker könnten gar so etwas wie eine klammheimliche Absicht in dieser Dramaturgie vermuten; nennen wir es vorsichtshalber eher eine Struktur. Denn auch für Bild geht es darum, die Position zwischen der alten und der neuen Mitte zu finden, deren Vertreter beide auf ein wenig unterschiedliche Art versuchen, Teil dieser Erzählmaschine zu werden.

Wie es den Anschein hat, verzichtet die Neue Mitte nun auf ein weiteres Formulieren eines gesellschaftlichen Projektes gegen (extrem) rechts, und natürlich haben die Medien sich statt Genauigkeit, nur »Vorsicht« verordnet. (Achten wir auf die Rhetorik ihrer Vertreter: Immer ist da die Rede davon, dass man in Zukunft die Finger von Nachrichten über rechtsextremistische Gewalt lassen oder sie sehr genau überprüfen wolle, nie ist die Rede davon, dass man etwa nun verstärkt auf die Suche nach der Wahrheit über eben diese gehe. So entsteht ein strukturelles Schweigegebot.)

Es muss nun also ein »Urteil« im Namen des Volkes gesprochen werden, was nichts anderes mehr sein kann als ein »Signal«. Aber eben die Signalhaftigkeit lässt eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit und zu Prinzipien der Aufklärung höchst unwahrscheinlich erscheinen. Der gesetzliche Diskurs ist eine symbolische Installation geworden. Anders gesagt: Ein Versuch, sich der Erzählmaschine von seiten der Verlierer und von Seiten eines antifaschistischen Versöhnungsprojektes zu »bedienen«, ist nicht nur kläglich gescheitert. Während die Macht dieser Erzählmaschine nur gewachsen ist, ist sie selber auch weiter nach rechts gewandert.

Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in jungle world Nr.06, 02/2001