Wie authentisch ist die deutsche Rechte?

Rechtsextreme Straftaten, eine neofaschistische Subkultur, die sich neuer und neuester Medien bedient, Faschismus in der Bundeswehr, der Wahlerfolg der Potemkinschen DVU in Sachsen-Anhalt – das ist den Medien schon eine Schrecksekunde wert. Man skandalisiert die Existenz neofaschistischer Strömungen in der Gesellschaft, deckt das Grauen aber sogleich mit wohlfeiler Mythisierung ab.
Die Antwort der rechtspopulistischen Mitte ist nur allzu bekannt: Man möchte dieses Potential für sich gewinnen. Also kommt man der neofaschistischen Klientel so weit als möglich entgegen (man grenzt gleichsam die Form aus, um sich den Inhalt anzuverwandeln) und hysterisiert im Gegenzug eine imaginäre Gefahr von links.

Aber auch jenseits dieser ebenso durchschaubaren wie offenkundig wirksamen Manöver scheint die politische Öffentlichkeit in Deutschland mit ihrer nicht mehr zu verbergenden neofaschistischen Subkultur anders umzugehen als das in den europäischen Nachbarländern der Fall ist, die ja mitnichten von derlei verschont sind. Was sich da herausbildet, ist eine gefährliche Mischung aus Hysterisierung und Verdrängung, eine Form der psychotischen Blindheit. Eine Reihe von Mythemen befinden sich auf dem Markt der Meinungen, die uns zugleich aufregen und beruhigen sollen:

Mythem 1: Der Einzeltäter. Neofaschistische Gewalt geht von irregeleiteten, psychisch defekten einzelnen Menschen aus.

Mythem 2: Der Protestwähler. Die Wahlerfolge einer Partei wie der DVU (wie vordem der Republikaner oder der NPD) sind auf eine tiefe Enttäuschung der Menschen zurückzuführen, die nur nach einer Möglichkeit suchen, es denen da oben symbolisch einmal zu zeigen.

Mythem 3: Der Vereinigungsverlierer. Wer als Jugendlicher arbeitslos, perspektivlos, in einer Plattenbausiedlung, in einer kaputten Familie aufwächst, der muß doch Nazi-Skin werden. Ist doch logisch, oder?

Mythem 4: Der Ordnungsverlust. Wer in einer Gesellschaft wie der DDR aufgewachsen ist, in der zwar eine Menge verboten, aber ansonsten alles geregelt und gesichert war, muß nach dem Sturz in die deregulierte Gesellschaft der freien Marktwirtschaft nach einer Wiederholung jener festen Strukturen suchen, die er verloren hat, und wenn er sie nicht in den Strukturen von Karriere und Konsum finden kann, dann ist der Neofaschismus (neben der „Ostalgie“) der einzige Halt.

Mythem 5: Der Phänotyp. Die sozialistische Gesellschaft produzierte als Mehrheit den autoritätshörigen, sich eingliedernden und ideologisch formelhaft starren Menschen, der bei den Neofaschisten am ehesten Zeichen und Ritualität wiederkehren sieht. Und hinter der humanistischen und sozialistischen Fassade lauerte auch in der DDR eine zweite Kultur der muffigen, gehässigen Spießigkeit: nicht der sozialistische Mensch wurde da erzogen. sondern der Konformist, der seine aggressiven und bösartigen Impulse nur verbergen lernte, um auf den Augenblick zu warten, in dem sie freigelassen werden durften.

Mythem 6: Weder ökonomisch noch politisch, noch kulturell, und auch nicht was die Alltagsrealität anbelangt, ist die Vereinigung Deutschlands wirklich vollzogen. Das neue Deutschland wird vor allem durch die Medien und durch das repräsentiert, was an Ritualität in der Idee der „Nation“ steckt. So ist der Rechtsextremismus eine Art, gleichsam gewaltsam „Deutschland“ denkbar zu machen, das Widersprüchliche, Virtuelle und Irrationale des Vereinigungsprozesses zu negieren.

Mythem 7: Die Politikverdrossenheit. Die Vertreter der Volksparteien reden nur, reden alles schön, aber sie tun nichts, daher wendet man sich nur allzu leicht den Neofaschisten zu, die eine Politik des Handelns versprechen.

Mythem 8: Die Arbeitslosigkeit. Wenn ein Engländer arbeitslos wird, geht er zum Fischen. Wenn ein Deutscher arbeitslos wird, geht er zu den Faschisten. Bis in die Linke hinein ist man sich einig, daß es einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Neofaschismus gibt, schließlich haben wir im Geschichtsunterricht gelernt, daß auch 1933 die Arbeitslosigkeit am Faschismus schuld war.

Mythem 9: Die mediale Verwahrlosung. Vor was fürchten wir uns in der Videothek? Vor Gewaltverherrlichung, Naziparolen und Pornographie. Vor was fürchten wir uns im Internet? Vor Kinderpornographie und Naziparolen. Was gibt’s Neues bei den Computerspielen? Nazi-Propaganda und Kinderpornographie. Kurzum: Neofaschismus hat was mit jener Schmuddelecke im medialen Supermarkt zu tun, über die wir uns fortwährend beschweren, und zu der wir hinspurten, sobald keiner herguckt. So ist der Neofaschismus auf eine merkwürdige, negative Weise erotisiert.

Mythem 10: Die verlorenen Kinder. Neofaschisten sind Rattenfänger, die die Kinder in ihren Szenen sammeln. Im Zweifelsfall müssen wir glauben, daß Kinder, die keine Jugendzentren, keine Discos und keine Sportplätze haben, automatisch zu Faschisten werden. (Und umgekehrt träumen wir vom guten Sozialarbeiter, der aus Skinheads und Junkies gute Boxer und damit nützliche Mitglieder der Gesellschaft macht.)

Mythem 11: Neofaschismus als Pop-Phänomen. Rechts sein ist in breiten Segmenten der Jugendkultur ungefähr so angesagt, wie es ein paar Generationen zuvor einmal das Links-Sein gewesen ist. Es „bedeutet“ freilich keine ausformulierte Idee noch gar den Willen, eine faschistische Gesellschaft zu errichten, sondern beschränkt sich auf Gestus und Lebensgefühl (Gewalt eingeschlossen). Der jugendliche Fascho genießt vor allem sein Anderssein, weil er in seiner Provokation wahrgenommen wird, und er findet in seinem tribe Identität und Geborgenheit.

Mythem 12: Deregulationen, ökonomischer wie moralischer Art, produzieren automatisch ihre fundamentalistischen Gegenbewegungen. So wird der Werteverfall (was immer das sein mag; wahrscheinlich hat es damit zu tun, daß die Kinder nicht mehr gehorchen und der Nachbar vor meiner Einfahrt parkt), eine komplizierte und dynamische Ethik, eine Art, sich über Taten und Worte Rechenschaft abzulegen, die man, in ihrer formalisierten Weise als „political correctness“ sehr wohlfeil auch von Seiten verspottet, denen man den einen oder anderen zweiten Gedanken zutraute, mit der Rekonstruktion ebenso tautologischer wie martialischer Werte beantwortet, die sich letzthin auf einen einzigen Super-Wert reduzieren lassen, der zugleich alles und ganz und gar nichts aussagt: „deutsch“.

Mythem 13: Die Modernisierungsverlierer. Die Politik des Neoliberalismus hat zur offenkundig durchaus eingeplanten Erosion des Kleinbürgertums geführt, und zwar nicht nur als ökonomischer und kultureller Klasse, sondern auch als Idee. Einerseits ist die kleinbürgerliche zur universalen Kultur geworden, andrerseits hat die Klasse ihre Mitte verloren. Das neue Sub-Proletariat der neoliberalen Rekonstruktion des Kapitalismus in seiner barbarischsten Form entstammt zu einem nicht geringen Anteil verschiedenen Fraktionen des auch gehobeneren Kleinbürgertums. Die latente Angst dieser Klasse, ins Proletariat zurückzusinken, und die manische Hoffnung, den Aufstieg zu schaffen, ist nun, als Überlebensfrage, manifest geworden.

Anders als etwa in den USA gibt es für das neue Sub-Proletariat kaum eine Hoffnung, einen Wiederaufstieg zu schaffen, und vor allem gibt es, wiederum anders als in anderen Gesellschaften, nicht die geringste kulturelle Repräsentanz. Es ist nicht nur aus dem Wirtschaftsleben und aus den Konsumzyklen, sondern z.B. auch aus dem Fernsehprogramm ausgeschlossen. Und natürlich hat es keine politische Repräsentanz: Die Volksparteien und ihre Klientel müssen sich vor dem neuen Sub-Proletariat förmlich ekeln, denn es erinnert sie an eigene Abstiegssorgen.

Aber auch die Linke hat für das neue Subproletariat nur ratloses Mitleid, da das zerstörte Kleinbürgertum ebenso wie das vergessene und zersetzte Proletariat offensichtlich (noch) nicht in der Lage ist, so etwas wie ein Bewußtsein der eigenen Lage zu entwickeln. (Viel zögerlicher als etwa in Frankreich kommt es in Deutschland zu organisierten Handlungen der Arbeitslosen: die kleinbürgerliche Scham unterdrückt den Zorn, und diese Lähmung wird gewiß durch die Politik und die Medien verstärkt, die in einer mehr und mehr arbeitslosen Gesellschaft das Ethos der Arbeit immer noch als gleichsam religiösen Wert feiern.) Im neuen Subproletariat müssen die psychosoziale Innenwelt und die reale Situation einander bis zu einer Entladung widersprechen. Die einzige Kraft, die diesem neuen Subproletariat Klassenbewußtsein, Identität und Stolz verspricht, ist der Neofaschismus.

Mythem 13: Die Vereinfachung. Das Wissen, das wir von unserer Welt haben, beschleunigt sich und wird überkomplex. Der Zugang zum Wissen wird gleichzeitig erschwert und durch digitale Haushaltsgeräte erleichtert. Die Frage von Zugang und Ausgrenzung wird daher immer bedeutender. Neofaschismus bietet, so scheint es, beides zugleich: eine Form des Zugangs und eine radikale Vereinfachung der komplexen Repräsentationen von Wirklichkeit.

Mythem 14: Die Weiber sind an allem schuld. Na ja, nicht so direkt, irgendwie. Aber wenn sie es mit der Emanzipation übertreiben und die Ordnung der Geschlechter verloren geht, dann muß man dem deutschen Mädel zur Wiedergeburt verhelfen. Und Ausländerfotzen hassen.

Mythem 15: Schuld am Aufstieg der Rechten sind die Linken. Oder: Wenn die Grünen fünf Mark für einen Liter Benzin verlangen wollen, dann wählen wir eben die Neofaschisten. Oder: Paßt bloß auf, was ihr sagt. Wenn man dauernd an Deutschland herummäkelt, reizt man damit nur unsere Faschisten.

Mythem 16: Der Neofaschismus ist eine Geschäftsidee. Er bildet einerseits einen Markt, in dem sich die Grenzen zwischen dem legalen, dem halblegalen und dem illegalen verwischen. Und andererseits bildet er eine faschistische Schattenwirtschaft, ein Netzwerk, in dem politische Inszenierung und ökonomischer Vorteil Hand in Hand gehen. Die DVU, zum Beispiel, ist eigentlich gar keine Partei, sondern vielmehr die Fortsetzung neofaschistischer Publizistik mit anderen Mitteln, eine Abo-Kampagne für Herrn Freys Produkte. Neofaschismus gibt es in Deutschland unter anderem, weil man damit ziemlich reich werden kann.

Mythem 17: Die europäischen Gesellschaften rechnen nach den Strukturkrisen der Arbeit mit einem gewissen faschistischen Potential in ihren politischen Inszenierungen, die man hofft begrenzen und kontrollieren zu können. Man geht dabei davon aus, daß sich die jeweils neuesten Wellen der rechtsextremen Manifestationen stets selbst erledigen, weil sie sich entweder so töricht benehmen oder so schnell untereinander zerstreiten, daß es nie zu einer Stabilisierung im öffentlichen Raum kommt. Unappetitliche Populisten wie Le Pen produzieren eine feste Anhängerschar aber ebensoviel durchaus Mainstream-kompatible Abscheu. Früher oder später wird jeder neofaschistische Parlamentarier zur Lachnummer.

(Mythem 17a: Das funktioniert allerdings nur, solange man mit den Gegenkräften genau so umgeht, und, was sich als „politische Mitte“ definiert, nach beiden Seiten gleich offen – und in Wahrheit gleich geschlossen – ist. Wenn sich, wie in Deutschland nach der Vereinigung die politische Mitte nach rechts öffnet und nach links verschließt, gerät dieses manipulative System in Schieflage. So entsteht die postmoderne Variante des Kapitalismus, der sich den Faschismus als Kampfhund halten will.)

(Mythem 17b: Deutschland muß nach Europa, damit es nicht faschistisch wird. Nein: Deutschland muß nach Europa, damit es lernt, mit seinen Faschisten umzugehen.)

Mythem 18: Der Neofaschist versteht sich nicht als Provokation, sondern als unterdrücktes Wesen des Volkes. Er träumt – und wer weiß, mit welchem Recht – daß er der Traum des Mainstream ist, daß er nur tut und sagt, was die anderen sich nicht zu tun und zu sagen trauen. Deshalb muß er sich nicht als jemand fühlen, der „draußen“ ist. In seiner medialen Spiegelung und seiner Alltagspräsentanz bemerkt er, daß er sehr viel mehr heimliche Bewunderung als Entsetzen auslöst. Es ist offenkundig, daß die Gegner des Neofaschismus vom Gesetz und von der Polizei härter angefaßt werden als dieser selbst. So darf sich der Neofaschismus in Deutschland nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch vom Staat in gewisser Weise akzeptiert wähnen. Wenn er die Rechte der Demokratie für sich in Anspruch nimmt, die er abzuschaffen gedenkt, dann tut er dies längst schon nicht mehr scheinheilig, sondern bereits hohnlachend.

Mythem 19: Der Neofaschismus ist die Reaktion auf zu viel „Vergangenheitsbewältigung“. Hätte man doch den alten Faschismus endlich ruhen lassen, dann hätte es vielleicht auch keinen neuen gegeben. Es ist bekannt: Bei jeder Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht, bei jeder Diskussion über ein Holocaust-Denkmal, bei jeder Gedenkfeier, die im Fernsehen übertragen wird, laufen den rechtsextremen Parteien neue Mitglieder zu. Lehrerinnen und Lehrer, die dem Stundenplan Information über den Faschismus abtrotzen, produzieren nicht nur Kinder, die ein klein wenig mehr über die deutsche Vergangenheit wissen, sondern immer auch zugleich Anfälligkeit für Neofaschismus.

Mythem 20: Der Neofaschismus ist eine Erfindung der Medien, die dabei rund zwanzig Mytheme verwendet, die sie miteinander zu einem je nach Bedarf nach rechts oder nach links zu akzentuierenden Bewegungsbild verbinden. Freilich gibt es auf der anderen Seite ein vernetztes System von neofaschistischen Impulsen und Gruppierungen, die aber abzubilden oder gar zu erklären dem System der Abbildungen und Erklärungen schon strukturell unmöglich ist. Ein anderer großer Mythos, nämlich der der parlamentarischen Demokratie als humanem Steuerungsinstrument der freien Marktwirtschaft, würde augenblicklich in sich zusammenbrechen, könnte denn an irgend einem Ort der Republik „die Wahrheit“ über das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Neofaschismus gesprochen werden.

(Mythem 20a: Diese Wahrheit über den Neofaschismus ist in einer Gesellschaft, die auch in ihrem Mainstream ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu ihm entwickelt hat, nicht anders zu haben, als in der Form einer Paranoia. Man mag seinen Einfluß unter- oder überschätzen, beides aber ohne ein gesichertes Wissen; weil aber die wirkliche Gefahr nicht so sehr von den neofaschistischen Gruppierungen ausgeht als vielmehr vom Verhalten der politischen und gesellschaftlichen Mitte, ist die Verdrängung bereits Teil der Mainstream-Kultur. Hysterisieren, Herunterspielen, Wegmythisieren gehört zum kulturellen Leben.)

(Mythem 20b: Die Mitte frißt sich nach rechts und macht immer mehr „halbextreme“ rechte Ideologie Mainstream-fähig. Dies aber macht es den noch nicht verdauten Teilen der rechtsextremen Kulturen zunehmend schwer, sich noch „authentisch“ zu wähnen. Sie muß sich in Wort und Tat weiter extremisieren. Ihre Stabilität hat diese post-demokratische Gesellschaft gefunden, wenn der Mainstream so weit nach rechts bewegt wurde, daß über seinen rechten Rand hinaus nur noch sehr wenig Platz ist. Die Wahlen dieses Jahres dienen offensichtlich dazu, diese Bewegung nach rechts zu forcieren.)

Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in jungle world Nr. 23, 06/1998