Warum wir das Scheitern gegen das Krisenmanagement verteidigen müssen

Eine Sache, für die man nicht scheitern kann, ist nichts wert. Das gilt für Weltraumfahrer ebenso wie für Punk-Musiker: Würde man nämlich so einfach von A nach B gelangen und könnte sich dabei, wie sagt man, „treu bleiben“ (und wären wenigstens die Blessuren halbwegs vorberechnet, die Begegnung mit dem intergalaktischen Körperfresser oder das Alt- und Spießig-werden), dann wäre die ganze Bewegung ja gar nicht in der Zeit (sondern im Plan), also risikolos und unheroisch. Bleibend ist allein das Scheitern. Ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass Nazis nicht scheitern können? (Wer bedingungslos an den Triumph der Stärke über das Schwache glaubt, für den ist Scheitern noch mehr als ein Unwert, nämlich ein Unwerden.)

Eine Idee, eine Phantasie, ein Bild oder ein Wert, in denen das Scheitern nicht vorkommt ist von vorneherein, nun ja, „zum Scheitern verurteilt“. Wenn einer scheitert und redet sich heraus und gibt die Schuld den anderen, dann ist er nicht gescheitert, sondern ein Arschloch. Wenn einer scheitert und merkt es nicht einmal, ist er ein dummes Arschloch. Das Scheitern ist ein Flash des Subjekts; es „fühlt“ sich im Scheitern so sehr (mindestens!) wie im Triumph. Nur freie Menschen können scheitern.

Scheitern ist nicht einfach: Misslingen. Scheitern kann man nur mit ganzem Herzen, also nicht im Zurückschrecken, Umwegnehmen oder Taktieren. Aber auch nicht im Weitermachen um jeden Preis, im Blindwerden und Blindmachen. Zum Scheitern braucht man genau den richtigen Zeitpunkt. Das ist der Punkt, an dem die Geste der Heldin oder des Helden genau so stark ist wie die Sache, an der man scheitert. Scheitern ist ein Song. (Das schließt, womöglich, die Struktur der Strophe und der Wiederkehr im Refrain ein.)

Wer scheitert, hat nichts falsch gemacht. Entweder scheitert er oder sie, weil er oder sie das Richtige tat, oder sie oder er erkennt das Richtige im Scheitern. Zwar kann man die äußere Gestalt des Scheiterns durch Fehlentscheidungen bestimmen, im Kern des Scheiterns aber liegt weder der Fehler noch das Richtige; Scheitern geschieht jenseits von „richtig“ und „falsch“. (Vielleicht sogar, das macht eine gewisse Literatur des Scheiterns so aufregend, jenseits von gut und böse.)

Die innere Wahrheit einer Gesellschaft also ist das Scheitern, die äußere Form das Gewinnen. Je mehr die allgemeine Praxis auf das Gewinnen (um jeden Preis) abzielt, desto wichtiger ist eine Kultur des Scheiterns. Kein Wunder also, dass es das protestantisch-kapitalistische Bürgertum ist, das sich eine „Kultur des Scheiterns“ hält, die in ihrer Verfasstheit liegt. Über die Frage, ob Kapitalismus ohne Demokratie funktioniert vergisst man oft die Frage, ob Kapitalismus ohne Religion funktioniert. Sie gleicht den Widerspruch zwischen dem Scheitern der Elemente und dem Gewinnen des Systems aus. Und zwar in drei großen Grundmodellen und drei Nebenmodellen:

1. Die SEELENARCHITEKTUR: Das ES (das Begehren), das ÜBER-ICH (Idee und Wert) und das ICH (Person und Subjekt). Wo ES war soll ICH werden, träumt Freud. Schon das wäre nicht anders denn als endloses Scheitern zu beschreiben. (Mensch-Sein heißt daher: Beim Mensch-Werden scheitern – und trotzdem genau darin „Sinn“ zu sehen.)

2. Die GESELLSCHAFTSSTRUKTUR: Weisheit, Mut und Begehren (so Platon) hätten ihre Stände, und diese müssten, um überhaupt Staat und Gesellschaft zu bilden, eine Balance miteinander finden (einen Ausgleich zwischen Gelingen und Scheitern). Wie die Weisheit am Begehren (die Politik an der Ökonomie) scheitert, das ist das Schauspiel unserer Zeit. (So heißt Mensch sein, bei der Verteidigung des Menschlichen gegen die Gesellschaft scheitern – und trotzdem genau darin „Sinn“ zu sehen.)

3. Die ZEICHEN: Das Seiende, das Reagierende, das Sprechende (nach Peirce). Ist nicht Sprache das endlose Scheitern am Seienden, ach was: Ist nicht das Zeichen ein endloses Scheitern am Bezeichneten? Wir können sprechen über das Scheitern, gewiss. Aber nicht ohne zu denken: Das Sprechen selber ist schon ein Scheitern. (So heißt Mensch sein, am Lesen der Zeichen des Mensch-Werdens scheitern – und genau in der Produktion neuer Zeichen den „Sinn“ zu sehen.)

Das Scheitern liegt auf der Zwei. Laurel scheitert an Hardy, und dieser wiederum an Laurel. Aber genau darin liegt der Sinn ihres Lebens. Man kann das auch Liebe nennen, oder Gesellschaft, oder Arbeit, Familie und Mythos. Einerlei: Das Scheitern auf der Zwei macht die Katastrophe zum glücklichen Zustand (man muss sich daher nicht allein Sisyphos, sondern auch Laurel und Hardy als glückliche Menschen vorstellen).

Aber das höhere Scheitern liegt auf der Drei. Groucho, Chico und Harpo. Das Seiende, das Wollende und das Sprechende. (Da sind wir bei unseren Nebenmodellen.) Und während wir darüber lachen, erkennen wir die Kongruität der drei Systeme: Seelenteil, Zeichen und Gesellschaftselement. (Unnütz zu sagen, dass das größte Scheitern der Marx Brothers in ihrem Brav-Werden besteht.)

Denn auch das ÜBER-ICH ist eine anarchische Kraft, die sich reichlich boshaft und kindisch verhält. Die Weisheit ist keineswegs davor bewahrt, zum Terror zu werden. Das Sprechen ist ohnehin nur sehr teilweise ein Mittel der Verständigung. Und seine Entständigung lässt sich wiederum aufteilen in Korruption und Scheitern.

Und das Melodrama? Die Moral, die ganz und gar Zeichen geworden ist? A liebt B, und C hat was dagegen. A liebt B liebt C liebt A (oder nur sich selbst). Im erotischen Dreieck, dem stabilsten aller emotionalen Geometrien, kann man nur scheitern, so oder so. Schuldhaft gewinnen oder unschuldig leiden oder schuldhaft verlieren und schuldlos siegen in der sexuellen Ökonomie: Das Unglück kommt in jedem Fall. Ebenso wie in der Struktur der eigenen Seele. Wenn man sich „Liebe“ ohne Scheitern vorzustellen versucht, sieht man ihr beim Verschwinden zu.

(Nun könnte man argumentieren: In Wahrheit sei der Tod das unausweichliche Scheitern jeden Lebens. Aber eben dies ist ein Notausgang, die Auflösung der sozialen Geste in der „Natur“. Nichts da! Scheitern kann man nur in der Welt der Optionen und der Möglichkeiten. (So wie man in einem Text, zum Beispiel, auch nur scheitern kann, solange man ihn schreibt.) Was feststeht, daran kann man nicht scheitern. (Aber man kann durchaus schon daran scheitern, zu unterscheiden zwischen dem, was fest steht und was zu verändern wäre.)

Jeder Profit, der gezogen wird, ist ein Weitergeben des Verlustes, entweder an seine Mitmenschen oder aber an die kommenden Generationen (oder gleich an beides). Wenn also Banker „scheitern“ (indem sie mal eben ein paar Milliarden vernichten), dann lassen sie die Verlust-Rechnung nur gegenwärtig und topografisch werden. In der Logik des Geldes sind sie nicht gescheitert. Kann man in der Logik des Geldes scheitern? Get rich or die tryin. Gangsta-Logik. So konsequent die Menschlichkeit am Kapitalismus scheitert, so konsequent hat sich dieser das Scheitern an sich verboten.

Die beiden Formen des radikalen Nicht-Scheiterns sind der Terror und die Revolution (so wie die inneren Formen des Nicht-Scheiterns die Religion und die Ideologie sind: Wehe, wenn sich beides verbindet!). Das heißt nicht, dass ein Terrorregime nicht scheitern könne, und es heißt nicht, dass eine Revolution nicht scheitern könnte. Es meint ein gewaltsames Überwinden des Scheiterns als Grundprinzip.

Das sind die großen Helden der populären Kultur, die sich im Scheitern bewegen: die alten Westerner, die Rock-Musiker, die traurigen Gangster der fiktiven Unterwelt, schäbige Detektive und traurig-schöne Frauen, die am selben Gift sterben möchten wie die boys in the backroom. Wenn der Soziologe Richard Sennett recht mit dem Gedanken hat, dass das Scheitern ein Tabu der modernen Gesellschaft ist (und also eine frivole Doppelcodierung in der postmodernen), dann ist Pop-Kultur nichts anderes als die Religion des Scheiterns. Und natürlich können wir auch hier eine Entwicklung der Entwertung und der Entwürdigung erkennen. Im Reality TV hat „Scheitern“ keine Würde mehr, da geht es nur um das Opfer der Unterdurchschnittlichkeit zum Gaudium der Durchschnittlichen. Auch diese Kultur hebt das Scheitern nicht auf, sondern treibt es uns aus.

Auf der anderen Seite stehen die, die kein Scheitern kennen, die Pornostars der sexuellen Ökonomie, des Militärs und der Wall Street, und die, welche ihr Leben als Jammertal begreifen und entsprechend opportunistisch wechseln zwischen Begehren und Jammern, die Soap Operas und Comedy-Clowns (und die, die wir „Politiker“ nennen). Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen: Jede ERZÄHLUNG vom Menschen beginnt mit dem Scheitern oder führt darauf hin. Als würdevolles Verlieren ist Scheitern ans Narrativ gebunden, als Experiment der Selbsterfahrung dagegen an irgendeine Form der Schönheit, als Teil des Lebens schließlich an einen letzten Überschuss: Der Gescheiterte kann nicht einfach zerstört, tot, weg sein. Scheitern ist ein dramaturgisches Geschehen, weder das Ende, noch die furchtbarste aller Katastrophen, das Weitermachen wie vorher. Der plot point Scheitern macht die Erzählung doppelt sichtbar, als Erkenntnis und als Schönheit. Schön kann nur bleiben, was gescheitert ist, das gilt für Liebe, Kunst und Revolution. Andrerseits kann auch nicht wirklich großartig scheitern, wer sich von vornherein vor den Mühen der Ebene fürchtet. Kurzum: Man darf weder scheitern wollen noch darf man das Scheitern akzeptieren, wenn man eine schöne Geschichte des Scheiterns erzählen oder leben will.

Natürlich ist das Problem des Scheiterns seine aristokratische Attitüde. Können Kollektive scheitern? Ohne Frage. Aber können sie, wie das Helden-Subjekt, das Scheitern „genießen“? Das scheiternde Kollektiv zerfällt, der scheiternde Held aber wird erst. Wo anders kann er hinwollen als zum Kollektiv? (Das Ziel des Helden, sagt Rousseau, „ist das Glück der Menschen und diesem erhabenen Werk widmet er die edle Seele, die er vom Himmel empfangen hat“. Scheitern ist, unter anderem, ein mindfuck der „edlen Seelen“.)

Der ärgste Feind des Scheiterns ist die Ironie.

Die Spaßgesellschaft hat das Konzept des Scheiterns gleichsam auf den Kopf gestellt. Sie verlangt von ihren Mitgliedern, dauernd auf die Nase zu fallen, dies aber nicht weiter tragisch zu nehmen. Die Cleveren vermarkten ihr Auf-die-Nase-Fallen, die Dummen tun es im unerschütterlichen Glauben, dass ein andermal ein anderer anderswo Erfolg haben könnte. (Begehren und Jammern sind bei ihnen daher nur eine Sendeminute voneinander entfernt. Der „geborene Loser“ hat das Scheitern in erträgliche Segmente zerlegt. Lieber als in einem Raum, den es zu betreten gälte, scheitert er schon an der Türschwelle – zu unserer Freude. Aber wissen wir, worüber wir da lachen?

Scheitern kann nur, wer über sich selbst hinausreichen wollte, wer etwas sein will, was er nicht ohnehin schon ist. Niemand scheitert an einem Bausparvertrag, und auch das „Scheitern an einer Gebrauchsanweisung“ (wie wir es wohlig uns erzählen) ist in Wahrheit Teil des ironischen Herunterstufens. So scheitert man in einer Beziehung, in seiner Karriere, seinem Plan, wo man in Wahrheit an nichts als an der eigenen Armseligkeit scheitert. Denn es verhält sich natürlich auch genau umgekehrt: Indem wir etwas, und sei es noch so trivial, mit dem Begriff des Scheiterns belegen, werten wir es auf. Wer, mit diesem sardonischen Grinsen, wir kennen das, von seinem „Scheitern an einem Anrufbeantworter“ erzählt, gehört zu einer umgedrehten Spaßkultur, die uns aufgepimpte Alltagstrivialität als Kommunikation und Bedeutung verkauft. Wer sein Alltagsleben mit „Scheitern“ perforiert, scheitert, wenn überhaupt, an dem verzweifelten Versuch, sich wichtig zu machen. Scham darf es beim Scheitern nicht geben, wohl aber beim „Gerede zum Scheitern“. Denn so wahr es ist, dass Scheitern ein Tabu in der kapitalistischen Organisation des Alltags und der Geschichte ist, so wahr ist es auch, dass wir unentwegt von beinahe nichts anderem als vom Scheitern schwätzen, vom eigenen, und mehr noch vom Scheitern der anderen.

Es ist klar, dass so schnell der Held zum Verbrecher wird (wenn nicht ohnehin in jedem Helden ein Verbrecher steckt), das Scheitern zum Versagen wird (zum Beispiel das Scheitern an einem Wert wie der Menschlichkeit: „Wir, die wir die Freundlichkeit wollten, konnten selber nicht freundlich sein“, das mag für den Augenblick so viel erklären wie der Hinweis, dass die Revolution kein Deckchenstricken ist. Aber unabhängig davon ob ihm das klar war oder nicht: Brecht hat mit diesem Satz das Scheitern beschrieben, ohne dass es keine Veränderung gibt. Unter gewissen Umständen ist Scheitern das aufklärerische Pendant des Opfers. Warnungen vor Mystifikation beiseite.)

Das zweite, was das Scheitern fürchten muss, das ist die eigene Inflation. Hütet euch vor Menschen, die ins Scheitern verliebt sind! (Und wer nur scheitern kann, kann auch das nicht.)

Darum, nehmen wir den Satz von oben noch einmal auf: Was „zum Scheitern verurteilt ist“, kann gar nicht scheitern, sondern ist bloß schiefgegangen, bevor es überhaupt angefangen hat. Das Scheitern ist eine fundamentale Erfahrung, die Freiheit nicht nur zur Voraussetzung, sondern auch als Produkt hervorbringt; eine paradoxe Freiheit zwar, denn für das Problem, aus dem sie entstanden ist, hat sie keinen Wert.

In einer „komplexen“ Gesellschaft ist Scheitern prinzipiell verboten, weil jedes Scheitern eine epidemische Ausbreitung erfährt: Anders als ein bloßes Verlieren ist Scheitern ansteckend. Jedes System produziert Gewinner und Verlierer, aber der Scheiternde transzendiert diese Produktionslogik. Er heiligt und verdammt das System zugleich. Man kann den Mythos des Scheiterns deshalb nicht auf eine lineare Weise „politisieren“.

Allerdings leben wir nicht nur in der Gegenwärtigkeit des Scheiterns, sondern auch in einer Geschichte des Scheiterns  – und das heißt: Scheitern heute ist nicht das selbe wie Scheitern gestern, ja, Scheitern ist in doppeltem Sinne selbstwidersprüchlich, in seinem Wesen, als „Triumph des Verlierens“ und in seiner Geschichte, als beständige Umwertung. Eben deswegen muss man Scheitern erzählen, weil es nicht „begriffen“ werden kann. In einer Gesellschaft des populistischen Medienkapitalismus ist „Scheitern“  – Scheitern 2.0 – gleichbedeutend mit Verschwinden. Was sichtbar ist, ist nicht gescheitert, denn sonst wäre es nicht mehr sichtbar. So wäre in der Gesellschaft des Medienbildes öffentliches Scheitern nichts anderes als eine besondere Form des Triumphierens. Das Bekenntnis zum Scheitern ist ein Genre unter vielen, die zur Entropie der Bedeutsamkeit von Biographie beiträgt und ungefähr so interessant ist wie Hochzeitsinszenierungen von Boris Becker.

Natürlich könnte man sagen: Man kann an allem scheitern. An der Welt oder an einer Tasse Tee. Aber generell sollten wir das Scheitern für ein größeres Ganzes reservieren. Was wiederum nicht heißt, dass man das kleine Scheitern nicht als perfektes Abbild des wirklichen Scheiterns betrachten kann, alle Hochkomik funktioniert so: Die Frage ist, ob wir das Scheitern an einer Bananenschale als ein Scheitern am Schicksal, ein Scheitern an der Bosheit der Gesellschaft (ihrer Unordnung oder ihrer Gemeinheit oder ihrer Nachlässigkeit), das Scheitern an der Natur oder das an uns selbst – verträumter Idiot! – ansehen. (Genau hier lässt sich die Spaltung des Scheiterns erkennen: Subjekt und Objekt nämlich vertauschen die Rollen: Man scheitern schließlich nicht an der Bananenschale, sondern an dem Versuch, einen Sinn in ihrer Tücke zu erkennen, so wie Laurel & Hardy nicht an der Tücke des Objektes scheitern, sondern an der Frage, ob die Dinge, die ihnen das Leben versauen, belebt sind oder nicht, ob das Missgeschick eine Erfahrung oder eine Metapher ist. Das Missgeschick wird zum Scheitern erst durch einen Akt des (unglücklichen) Bewusstseins.

Niemand will scheitern (sehen wir mal von Leuten ab, die professionelle Hilfe benötigten); aber destruktiver gewiss als das Scheitern ist die Angst vor dem Scheitern. Die Angst vor dem Scheitern ist ein Herrschaftsinstrument. Man schafft auf diese Weise „die Jugend“ ab, den leeren Raum der Möglichkeiten in den Städten, die Ideen, die Lust: Eine Gesellschaft, die von der Angst vor dem Scheitern beherrscht wird, trocknet aus; eine Gesellschaft, in der das Scheitern zum Gesellschaftsspiel, komplett mit Regeln und Coaching im TV, geworden ist, ersäuft.

Wenn Tapferkeit eine hinkende Tugend ist, dann ist Scheitern eine hinkende Pose. Der Künstler, das gehört zu ihm seit den Zeiten von da Vinci, klagt unentwegt sein Scheitern an, da er kein Werk schaffen kann, dass mit der göttlichen Schöpfung mit der Natur konkurrieren kann. Die moderne Kunst scheitert nicht mehr an diesem Vergleich, sie ist der Ausdruck des Scheiterns an sich. Der Künstler nach Beuys scheitert nicht mehr am Versuch, die Welt zu heilen, sondern an dem, sich selbst zu heilen, der Künstler nach Andy Warhol scheitert nicht an der Wirklichkeit sondern am Bild. Das metaphysische Scheitern des modernen Künstlers aber liegt generell darin, dass er außerhalb sein müsste, um wahrhaftig zu sein, und daher nur wahrhaftig seine Unfähigkeit, außerhalb zu sein, bearbeiten kann.

Schon früh, so will es die Gesellschaft des Neoliberalismus, werden die Verlierer aussortiert, die loser, Verlierer, Versager. Aber in Wahrheit geht es um eine Jagd auf die Verweigerer. Denn es gilt sehr genau zu unterscheiden zwischen jenen, die im System scheitern und den anderen, die am System scheitern.

Eigentlich ist es ganz einfach: Scheitern ist die Art des Verlierens, bei der der Verlierer seine Würde nicht verliert. Wenn man das ein paar Mal dialektisch umdreht kommt man darauf, dass Scheitern eine ästhetisch ansprechende Form des Widerstands sein kann. Eine Form der praktischen Kritik an einem System ist das Scheitern allemal. Wer im System scheitert zeigt sein Unvernünftigkeit auf, wer am System scheitert, zeigt seine Unmoral auf: Robin Hood, Jesse James, Blackbeard und all die anderen Sozialbanditen werden als Gescheiterte am System zu Outlaws, bevor sie, teils aus moralischen Gründen, teils weil sie den Schritt nach außerhalb nie radikal genug tun konnten, an ihrem Outlaw-tum scheitern. Denn anders als ein bloßes Versagen oder Verzagen ist das wahre (das alte) Scheitern (Scheitern 1.6)  kein Verschwinden. Scheitern ist, unter vielem anderen, eine Sprache. Einem System merkt man an, wie seine Elemente an ihm und in ihm gescheitert sind. Es gibt Systeme, die deswegen funktionieren, weil alle ihre Elemente darin scheitern. (Richtiger- aber belangloser Weise könnte man einfach sagen, „das Leben“ sei so ein System. Der Handel, die Kunst, das Wissen, all diese Systeme, die immer „wachsen“ müssen, damit sie sich überhaupt erhalten, funktionieren so: die Erfolgreichen darin sind nichts anderes als Ausdruck zorniger und depressiver Energie der Scheiternden. Die Scheiternden sind das Blut und das Fleisch, die Erfolgreichen nur das Make Up.)

Scheitern also, wie es der Sennett beschrieben hat, sei „das große Tabu der Moderne“. Scheitern verboten! Nun könnte man behaupten, dass „die Krise“ unter vielem anderen auch ein großer erleichternder Rülpser der Weltkultur ist. In der Krise ist Scheitern erlaubt. Wer in der allgemeinen Krise nicht scheitert, ist entweder kriminell oder hatte schon vorher keine Aussichten.

Das große, nicht nur semantische Problem ist eben dieses: Wenn Scheitern erlaubt ist, wie es – nicht erzeugt aber doch beflügelt von der Krise unserer Jahre, die Kolumnisten und Mode-Sozialingenieure einfordern, ist es dann überhaupt noch ein Scheitern? Ein Scheitern light in unserer Soap Opera- und Coaching-Kultur ist die zweite der großen Gefahren für den Mythos (nach der Ironie).

Was uns die Manager und Banker und Politiker gerade vormachen: Man kann so gründlich vergeigen, versieben, versenken und verarschen wie man will, in gewissen Positionen. Sie lehren uns also nicht etwa das schönere und bessere Scheitern, sondern im Gegenteil, sie entwerten es. Sie machen eine Farce aus dem Scheitern. Wir würden ja gar nicht verlangen, dass sie sich ins Schwert stürzen oder in den leeren Geldspeicher, wenn sie nur aufhören wollten, zu grinsen, zu schnarren und ihre Worthülsen zu verbreiten! In der Krise sehen wir das Schauspiel eines Scheiterns, das keines mehr ist. Genau anders herum als im klassischen Modell vom erfolgreichen System, das aus dem Scheitern seiner Elemente besteht, haben wir es hier mit einem System zu tun, das an seinen Elementen scheitert. (Damit ist nicht „der Kapitalismus“ gemeint, der ist zugleich noch einfacher und wesentlich komplizierter, sondern das System der Schnittstellen zwischen Politik, Ökonomie und Kultur.) Das System ist gescheitert! Rufen die Besserwisser. Woran aber kann das System gescheitert sein? Und kann ein System überhaupt scheitern (schließlich ist es doch, in der Dramaturgie des Scheiterns, weder Subjekt noch Objekt, auch wenn alle seine Elemente so wie alle seine Regeln Symptome und Metaphern sind). Es will ja nichts außer sich selbst und immer mehr von sich selbst. Es hat ja keine Würde, die es verlieren könne und es will auch keine gewinnen. Scheitern im und am Kapitalismus kann und muss man, weil der Kapitalismus nicht scheitern kann, möglicherweise gibt es ihn gar nicht, jedenfalls nicht in der Art, wie man sich so allgemein ein „System“ vorstellt. Und Scheitern ist immer eine Begegnung von Subjekten und Systemen. Scheitern also können in Wahrheit auch in der Krise wiederum nur Menschen aneinander, die einen scheitern mit ihrer Idee an der Praxis, die anderen mit ihrer Praxis an der Gewohnheit. So dass die Gewinner ebenso unglücklich sind wie die Verlierer, nur eben spiegelverkehrt: Mit dem grotesken Auseinanderklaffen von Idee und Wirklichkeit gibt es also das Scheitern dritten Grades, das strukturelle Scheitern.

Hüten wir uns daher auch vor Leuten, die anbieten, das Scheitern kontrolliert zu beherrschen. „Das Scheitern positiv zu bewerten, nachhaltig für den Erfolg zu nutzen, es erfolgsorientiert beherrschbar zu machen – das soll die Kunst des gelingenden Scheiterns vermitteln“. So verspricht es eine Agentur namens „gescheit.es Scheitern“. Und ihr Protagonist, Herr Stöhr, („Hans-Jürgen Stöhr, 57, ist studierter Philosoph und will Menschen aller Berufsgruppen helfen, der Karriere neuen Schwung zu geben“) rät: „ Beim guten Scheitern nimmt man zum rechten Zeitpunkt wahr, dass man sich von einem Projekt verabschieden muss. Man akzeptiert, dass etwas nicht so hingehauen hat, wie man es ursprünglich gedacht hat, und lernt langsam, sich von der Idee zu verabschieden und loszulassen – auch wenn es das komplette Studium ist oder das eigene Unternehmen, in das man lange Jahre investiert hat. Wenn das gelingt, ist es viel einfacher, sich neu zu orientieren und etwas anderes zu starten.“ Der Neoliberalismus macht also nicht mehr vor dem Scheitern halt. Wenn er in die Krise gerät, na schön, dann verkaufen wir eben das Scheitern. Und gescheiterte Manager werden Scheitern-Manager!

Die Kunst des Scheiterns sieht anders aus!

Der zweite Grad des Scheiterns – also das Scheitern zwischen Mythos und Struktur – ist das Scheitern ALS Held. Western, Jazz und Rock’n’Roll sind die schönsten Gebiete für den „gefallenen Helden“.  Dieser Held hat das hinter sich gelassen, was man den Helden nennen könnte, der keiner sein will, der „gefallene Held“ ist an den moralischen Anforderungen des Heroismus gescheitert (wie James Stewart in Anthony Manns Western, wie Django und seine Kollegen), ohne deswegen aufhören zu können, ein Held zu sein. Der Gescheiterte ist eben nicht der Verschwindende, sondern der Mensch, der gezwungen ist (oder sich entscheidet) im Scheitern zu leben.

Es ist der Ausdruck der Gespaltenheit, die nie überwunden werden kann, der zwischen Mann und Frau, zwischen dem Land und der Stadt, zwischen dem Leben und dem Sterben, zwischen System und Subjekt, Idee und Tat, Sprache und Leben, Bild und Text. Scheitern ist Erkenntnis, die über das Interesse hinausführt. Es ist wie die Hölle. Eigentlich will man da nicht hin. Aber scheißinteressant ist es doch.

Autor: Georg Seeßlen

geschrieben August 2009