Nein, natürlich nicht, sagen die Politiker, Werbefritzen und Fernsehmacher. (Man darf es nur nicht überfordern, man muss es ein bisschen an der Hand nehmen.) Die Vorstellung von einem dummen Volk ist nicht erlaubt, weil es mit einem dummen Volk keine Demokratie geben kann. Ist das Volk also klug? Je nun…

Der einzig wirkliche Vorteil des Volkes ist dieser: Es existiert nicht. Das Volk ist ein Phantasma, egal ob es sich dabei um ein nationales oder ein soziales Konstrukt handelt. Es gibt nur: Leute, die Beziehungen untereinander haben. Zugegeben: Solche Beziehungen neigen gelegentlich dazu, zu klumpen. Dann werden aus Gewohnheiten Überzeugungen und aus Wiederholungen Ideologien. Das Volk existiert nicht, aber es kocht in Blasen aus Alltag und Geschichte immer wieder auf.

Das Volk existiert nicht, aber man kann es erzeugen, für den Augenblick oder länger. Zum Beispiel durch ein sogenanntes Volksfest, nehmen wir den rheinischen Karneval oder das Münchener Oktoberfest: Hier wird das deutsche Volk zum Beispiel durch Alkohol, seltsame Dress-Codes, rhythmische Bewegungen und bemerkenswert dumme Sprüche erzeugt.

Natürlich kann sich das Volk auch spontan selbst erfinden. Auch ohne Alkohol und bemerkenswert dumme Sprüche, indem zum Beispiel Leute öffentliche Räume besetzen. Dann können sie behaupten: „Wir sind das Volk“, in einer Geste der Negation. Da jemand „im Namen des Volkes“ sprach und regierte und sein Subjekt (die Leute) verlor.

Die Selbsterfindung und Selbstermächtigung des Volkes ist indes nicht nachhaltig. So wurde aus „Wir sind das Volk“ ein „Wir sind ein Volk“ und daraus wurde die „Super Illu“. Im Sinne der Herrschaft muss das Volk also permanent erfunden werden. Durch Erzählungen, Bilder und Begriffe.

Der wahrhaft Konservative muss das Volk gegen das Volk in Schutz nehmen, indem er es in den Mythos bannt. So schreibt Botho Strauß, Rudolf Borchardt rettend: „Dies Volks ist gewiss ein sagenhaftes und nicht unter der Bevölkerung zu finden, auf Straßen und Sportplätzen nicht, die die beschäftigte Menge füllt; es ist vielmehr mit seinen Königen tief in den Berg gesunken und schlummert dort, bis seine Stunde kommt“.

Der Trick einer Blödmaschine – Fernsehen, BILD-Zeitung, Wahlkampf, Werbung etc. – ist es, das Volk zugleich mit der Dummheit zu erzeugen. Der Trick des Mythos ist es, sich ein Volk zu denken, in dem es nichts so profanes wie die Leute gibt.

Theorien nun wären aufzustellen, warum die Leute überhaupt unbedingt das Volk oder ein Volk, je nachdem, sein wollen. Als wäre nicht eine kräftige Lohnerhöhung, sondern „Identität“ das einzige, wofür es sich zu kämpfen lohnte. (Natürlich können wir uns zuerst einmal den Zusammenhang zwischen Lohnerhöhungen und Identität errechnen: Je weniger Lohnerhöhung, desto mehr „Volk“ wird versprochen, und wenn die Politiker von einer Identität und von ihrem Volk sprechen, dann wissen wir, dass sie damit meinen, dass eine Lohnerhöhung, wenn sie denn vorgenommen wird, nicht den Leuten, sondern dem Staat zugute kommen soll.)

Wenn es das Volk nicht gibt, es sei denn, es würde erzeugt oder erträumt, dann freilich ist zu fragen, ob es eine konstante Sehnsucht nach dem Volk gibt (weil es, generell, die Sehnsucht nach ORDNUNG gibt, als Zuschreibung und Entlastung: wie nach Religion, Staat oder Sprache).

Doch unter allen Ordnungssystemen ist „das Volk“ das chaotischste und offenbar das am leichtesten zu missbrauchende. Es entzieht sich selbst noch im Zustand fundamentaler Ideologisierung, es wabert zwischen dem Allerprofansten und dem Allersakrifizierten.

Das Volk existiert einerseits gegenüber dem anderen Volk (wie sonst sollte man einen modernen Krieg erklären, der sich entweder als Völkerkrieg oder als Volkskrieg verstehen muss) und andererseits gegenüber der Herrschaft. Volk und Herrschaft generieren sich gegenseitig; wer keine Herrschaft will, der darf auch kein Volk wollen.

Der Populist behauptet, es gebe gar keinen Widerspruch zwischen Volk und Herrschaft, Volk und Herrschaft seien allenfalls Erscheinungen ein und derselben Kraft (und so berauscht man sich aneinander, mal von oben herab und mal von unten herauf).

Unsere Blödmaschinen, die nicht nur Instrumente der Herrschaft und Instrumente des Volkes sind, sondern gleichsam institutionalisierte Selbsterzeugung des „dummen Volkes“, generieren ein wahrhaft „populistisches“ Bild, in dem der Mythos (wenngleich in der Weise einer Fernsehserie) ebenso wie der Alltag (als Reality Show) zur großen Einheit gehört. (Eine formlose Einheit, gewiss, ein verkochter Bilder- und Erzählbrei vom Volk, wie sie Borchardt und anderen Mythopoeten der Urgründe ein Grauen gewesen wären.)

Die Demokratie (nicht die Republik) geht von einem grundsätzlichen Widerspruch zwischen Herrschaft und Volk aus, der einerseits durch ein hochkompliziertes Regelwerk bearbeitet werden muss, durch Kontrollen, Teilhaben, Überprüfungen, Balancierungen der Macht, Gewaltenteilung etc., andererseits – das wäre eine Utopie der Demokratisierung, längst verloren – von einer Überwindung dieses Widerspruchs: Immer weniger Volk, immer weniger Herrschaft.

Und nun begreifen wir, warum unsere Blödmaschinen so angelegentlich „Volk“ erfinden müssen. Nämlich als anderen Teil einer Herrschaft, die weder rein diktatorisch noch rein demokratisch funktioniert, sondern als post-demokratisches Durcheinander von populistischen Kommunikations- und Herrschaftsformen. Das Volkstümliche ist per se undemokratisch. (Und ganz buchstäblich vertreiben „volkstümliche“ Formen der Unterhaltung in unseren Programmen jene, die man direkt oder indirekt noch mit Demokratie in Zusammenhang bringen kann. Und übrigens ist ein Kriminalkommissar unserer Dauerfiktionen um so populärer, je weniger er sich an demokratische „Spielregeln“ hält.)

Da das Volk gebraucht wird, zur Herstellung und Stabilisierung von Herrschaft, wird es auf mehreren Ebenen erzeugt. Die beiden wichtigsten sind „Angst“ und „Belohnung“. Sie sind aufs innigste miteinander verknüpft, natürlich. Die Belohnung dafür, als Teil des Volkes selbst sich zu empfinden, ist eine enorme Entlastung des Subjekts. Wo Volk ist, muss Ich nicht groß werden. Die Illusion der populistischen Mediengesellschaft besteht darin, dass das Volk in einem ständigen Rausch von Amüsement und Konsum produziert wird (also eben, als eine Beziehung der Leute untereinander, in der Dummheit genießbar wird, nicht bloß weil gemeinsame Dummheit um so viel angenehmer ist als einsame Klugheit).

Angst freilich gehört mindestens ebenso zu dieser „chaotischen Ordnung“ Volk: Einerseits muss man beständig fürchten, aus irgend einem Grunde nicht mehr „dazugehören“ zu dürfen (oder zu können), zum Beispiel ist das Volk generell „gesund“ in Körper und Geist, wehe also, man würde von anderem als von einer „Volkskrankheit“ geplagt.

Dummheit, darf man nun wohl sagen, ist eine „Volkskrankheit“.

Zum zweiten ist das Volk wiederum bedroht von dem, was nicht Volk ist. Früher hatte man auch den Begriff des „Volksfeindes“. Heute benutzt man dazu eher Bilder, man weiß, dass man für Begriffe eher belangt werden kann als für Bilder.

Und schließlich ist ein Volk, natürlich, von „draußen“ bedroht. Daher rückt es zusammen und erzeugt mehr Herrschaft. (So könnten wir die populistische Gleichung noch einmal in einer physikalischen Metapher aufmachen: Herrschaft entsteht durch eine Verdichtung des Volkes.)

Immer haben wir gelernt, uns das Volk als einen gewaltigen Körper vorzustellen. (Die US-amerikanischen Populisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts pflegten vom Volk in der ersten Person Einzahl zu sprechen.) Und in der Körper-Metapher liegt das Wohlige und das Grauen des Phantasmas. Ist dieser Körper etwa von „Parasiten“ befallen? Wird er nicht hier und dort „verletzt“? Muss er nicht „geheilt“ werden? In der Körper-Metapher steckt das Böse, das wir anderen Menschen anzutun bereit sind, da wir uns als Volk empfinden.

Das Volk also ist dumm, nicht etwa weil die Leute dumm sein müssen (aber dumme Leute sind der Herrschaft natürlich auch recht), sondern weil nur durch den Prozess der Verdummung aus Leuten mit Beziehungen untereinander ein „Volk“ wird. Eine Blödmaschine veralltäglicht diesen Vorgang. Statt Kriege, Revolutionen oder religiöse Fieberanfälle genügt also nun ein Angebot von etwa 20 Fernsehprogrammen (mehr oder weniger alle gleichen Inhalts) um ein Volk zu erzeugen, und zwar ein bemerkenswert dummes.

Die historischen Katastrophen von Volk und Herrschaft sind deswegen noch lange nicht eliminiert, im Gegenteil. In der populistischen Mediengesellschaft ist „DAS VOLK“ ganz einfach auf „stand by“ geschaltet.


Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben 26.10.2009

veröffentlicht im Georg-Seesslen-Blog DAS SCHÖNSTE AN DEUTSCHLAND IST DIE AUTOBAHN