Yella

Nina Hoss als Yella (Christian Petzold, D 2007)

 

I

Das Wichtigste vorweg: Eine Berliner Schule gibt es nicht. Es gibt weder ein Manifest, noch ein regelmäßiges Treffen, weder einen cineastischen Code noch eine „Mitgliedserklärung“. „Berliner Schule“ ist ein Label, das einer Gruppe von Filmemachern verliehen wurde, die an einem bestimmten Punkt der deutschen Filmgeschichte und der deutschen Geschichte (nach der „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten und während der Umwandlung der „sozialen Marktwirtschaft“ in eine neoliberal entsolidarisierte Gesellschaft) ihre ersten Arbeiten zeigten. Zu dieser Zeit an der Wende des Jahrtausends schienen alle Erinnerung an den „Autorenfilm“ der Neuen deutschen Welle aus den siebziger Jahren zu verblassen, und das deutsche Kino drohte zu zerbrechen in einen kommerziellen Bereich und in eine radikale Avantgarde, die sich, wie etwa Werner Nekes (dem sich so viele und so unterschiedliche deutsche Filmemacher als Lehrmeister des Sehens verpflichtet fühlen), eher in der Kunst- als in der Kinoszene entfaltete. Das erste und einfachste, was man von den Filmen dieser Berliner Schule sagen konnte, war, dass sie an den Ort (zurück) wollten, der für den Film gemacht ist, ins Kino, und dass sie, ganz im Gegensatz zu den Vorwürfen ihrer Kritiker, das Publikum im Sinne hatten. Nur wollten sie es weder als Konsumenten erobern noch durch Effekte und Schauwerte, durch Attraktionen und Überwältigungen gewinnen. Sie drehten Filme, die, nach einer Phase von postmoderner Coolness, die Dinge wieder ernst nehmen sollten: Die Personen auf der Leinwand, die Geschichten, die es zu erzählen galt, das Licht und die Kamera, die Räume, in denen man lebte, ebenso aber auch die Zuschauer. Das erste, was diese Filme produzierten und verlangten, das war: Konzentration.

Vielleicht war das Etikett einer „Berliner Schule“, das die deutsche Kritik schließlich auf diese Filme übertrug, auch einer gewissen Sehnsucht nach Aufbruch und nach Solidarität geschuldet, denn lange genug war nun Filmkunst in Deutschland eine Sache der Einzelkämpfer und der „Meisterregisseure“ gewesen, die, wie etwa Werner Herzog oder Wim Wenders, längst in internationalem Rahmen arbeiteten. Sie funktionierten, weil sie, wie der, dessen Namen über allem schwebt, was das deutsche Nachkriegskino an rebellischer Energie aufzuweisen hat, Rainer Werner Fassbinder, selber zu Stars geworden waren. Eingeschlossen der entsprechenden „Allüren“. (Was meine eigene, sehr, sehr persönliche Geschichte als Kritiker mit den Filmemachern der Berliner Schule betrifft, so ist es die überraschende Erfahrung,  mit Menschen ohne Allüren, voller Offenheit und ohne größeres Interesse am „Glam-Faktor“ des Filmemachens sprechen zu können. Es gibt viele interessante Beziehungen zwischen Kritikern und Filmemachern; warum nicht auch einmal: Sympathie.)

Christian Petzold erinnert sich an den Beginn dieser Entwicklung: „Nach meinem Film Die innere Sicherheit hat mich Christoph Hochhäusler kontaktiert, der die Filmzeitschrift „Revolver“ herausgibt, und wir fingen an, auch mit Ulrich Köhler, Thomas Arslan, Angela Schanelec in Kontakt zu treten. Ein halbes Jahr später, 2001, habe ich dann den Film Toter Mann gemacht. Arslan machte einen Film über ein Mädchen, die durch den Sommer geht (Der schöne Tag). Da hat der Kritiker Rainer Gansera von der Süddeutschen Zeitung gesagt: Diese ganzen Gänge, diese junge Menschen, die durch Städte laufen wie im französischen Film der 60er Jahre, das ist so ähnlich wie eine Novelle Vague Allemande oder eben eine ‚Berliner Schule’. Da wurde der Begriff zum ersten Mal gebraucht“.

Zur Berliner Schule stößt man also wohl weniger, als dass man „zu ihr gezählt“ wird. Die Regisseure Christian Petzold, Angela Schanelec, Thomas Arslan, Christoph Hochhäusler, Henner Winckler, Jan Krüger, Benjamin Heisenberg, Ulrich Köhler, Valeska Grisebach, Maren Ade, Sylke Enders und Maria Speth sind weder durch eine „Erklärung“ noch gar durch ein „Dogma“ verbunden als vielmehr durch die Wahrnehmung ihrer Filme in der Öffentlichkeit und in der Kritik. Man kann daraus auf die Verwandtschaft ihrer Filme schließen, wie aus der biografischen Verbindung, den gemeinsamen Produktionsbedingungen (und gar den gemeinsamen Produzenten), dem Schnittpunkt Berlin, der Vorliebe für bestimmte Klassiker, Robert Bresson, John Ford, Jean-Luc Godard, John Cassavetes vielleicht. Auch eine „Haltung“ beim Filmemachen ist da, und diese Elemente kann man mehr oder minder treffend und sympathisierend beschreiben. Zweifellos ist das „ein anderer Blick“, ein „anderes Erzählen“, andrer Raum und andre Zeit als im Gewohnten. Zweifellos geht es um das wirkliche, einzigartige und kontaminierte Leben in der kapitalistischen Gegenwart dieses Landes, um ein Fremdsein in Deutschland, ob mit einer migrantisch geprägten Biographie wie Thomas Arslan, oder mit den Gespenstern der Vergangenheit wie bei Christian Petzold. Zweifellos hegt man eine Aversion gegen bestimmte Techniken der kinematografischen Erzeugung von emotionalem Einverständnis, Identifikation und Gefühl. Und ebenso zweifellos lässt das alles genügend Spielraum, um sehr unterschiedliche Temperamente und Methoden zur Entfaltung zu bringen. Der Begriff jedenfalls schien immer enger gefasst als das, was er bezeichnete, so Thomas Arslan: „Mir scheint das sehr viel heterogener, als es wahrgenommen wird, was da für Arbeiten entstehen. Insofern würde es mir schwer fallen, von einer Gruppe zu reden, es gibt keinen Rahmen, der das rechtfertigen würde. Wir treffen uns nie, haben nur lose Kontakte. Ich habe immer zweierlei Impulse: nach einem abgedrehten Filmen von Sachen ausgehen, die ich sehr gut kenne und manchmal von Kontexten, die mir sehr fremd sind.“

Aufbruch und Rückkehr: „Berliner Schule“, das ist nicht nur eine Gruppe von Filmemachern, die sich gegenseitig unterstützen statt sich gegenseitig zu bekämpfen, die Lust haben, wieder über Filme statt über Geld zu reden, und die die Beziehung zwischen einer Kamera-Einstellung und der Einstellung der Ideen sehr genau kennen. Die „Berliner Schule“ ist ein Vorschlag, nicht nur andere Filme, sondern auch anders Filme zu machen.

Angela Schalenec sagt über den Zusammenhang der Berliner Schule: „Wir kennen uns, sehen uns gelegentlich, sprechen eher über andere  Filme als eigene. Uns verbindet ein gemeinsames Interesse an bestimmten Filmen und ähnliche Reaktionen auf unsere Filme. Jetzt glaube ich’s auch selber, das drückt sich in etwas weniger Gefühl von Alleinsein aus. Es gibt gegenseitiges und gemeinsames Interesse, und das ist angenehm für eine manchmal doch so einsame Art der Arbeit“.

Und kaum war das Label einer „Berliner Schule“ einmal in der Filmkultur in Deutschland erzeugt, da gab es auch schon Auseinandersetzungen, manchmal freundschaftlich und kollegial wie mit dem bereits erwähnten Dominik Graf, manchmal polemisch und gar verletzend. Mittlerweile hat die Berliner Schule ihre Geschichte. „Wir waren jetzt definiert“, so Christian Petzold, „das ist auch das, wogegen man sich gerne stellt, wenn man von außen definiert wird, weil man weiß, das ist schnell wieder vorbei, wenn so ein Label oder Brandzeichen existiert. Wir haben uns immer getroffen, uns unterhalten, die Filme korrespondieren miteinander, aber wir haben kein Schulgebäude errichtet. Es gab die lange E-Mail-Korrespondenz von Christoph Hochhäusler und mir mit Dominik Graf, weil er diese Berliner Schule und ihren – vielleicht – ‚Protestantismus’ kritisiert hat. Dann gab es auch drei Tage in der dffb (Deutsche Film- und Fernsehakademie) in Berlin. Da sperrten wir uns wieder alle gegen die Schublade Berliner Schule. Das hat sicher damit zu tun, dass wir von Anfang an angefeindet worden sind und man etwas unsicher wurde. Vom Mainstream, aus München und von der dffb wurde Berliner Schule immer als Kassengift – zu langsam, schlechte Schnittfrequenz, keine Stars hervorgebracht, wenig Musik, wenig Sinnlichkeit, kein Sex  – beschimpft. Da geht man dann ganz schnell in die Defensive.“

Von Anfang an tat man sich mit den Filmen der Berliner Schule im Ausland leichter als in Deutschland selber. In Frankreich, Italien oder auch in den USA galten diese Filme der „Nouvelle Vague Allemande“, galten die Regisseurinnen und Regisseure mehr als im eigenen Land. Sie zeigten ein Deutschland, das es so im Kino sonst nicht zu sehen gab. Und vielen in Deutschland war dieser Blick auf das eigene Land auch unangenehm. Es ist ein Land der inneren Unsicherheit, des sozialen Stillstandes, ein Land, in dem die Arbeit gegen das Kapital keine Chance hat. Aber sie zeigten auch eine geduldige Nähe zu den Personen auf der Leinwand. Es geht um Menschen, nicht um Rollenmodelle oder Metaphern. Und um Orte, die nicht zu symbolisch gemeint sind, und schon gar nicht „pittoresk“. Die Filme der Berliner Schule benötigen eine bestimmte Art des Schauspielers (Nina Hoss ist sicherlich unter diesen wiederum einzigartig), solche, die einem sehr intensiven Blick der Kamera standhalten, ohne sich in eine Pose zu begeben, solche, die eher unter- als überspielen, solche, die nicht vollständig verschmelzen mit einer Rolle, sondern eine reflexive Distanz erlauben. Nie behaupten die Filme, ins „Innere“ ihrer Protagonisten zu sehen oder sie gleichsam zu Ende verstanden zu haben. (Vielleicht deshalb ist das Fehlen der „üblichen“ Sex-Szenen und anderer Entblößungen weniger eine Frage des filmischen Puritanismus als vielmehr des zentralen Konzepts von Würde.) In den Filmen der Berliner Schule bewegen sich die Menschen nicht auf einer Bühne, nicht in einer Phantasielandschaft, nicht in einer Rhetorik; sie bewegen sich in der Welt.

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Unter dir die Stadt (Christoph Hochhäusler, D 2010)

Die Filme machen es den Zuschauern nicht allzu leicht, vor allem im Vergleich mit der Mainstream-Ware nebenan, die lieber zu viel als zu wenig erklärt. Während ein Teil der deutschen Kritik, und vor allem der europäischen Festival-Berichterstattung, dieses neue, strenge und genaue Kino lobte (das mit vergleichsweise bescheidenen Produktionsmitteln auskommen musste), entstand in Deutschland eine Front gegen dieses radikale Anti-Hollywood. Der Regisseur und Autor Dietrich Brüggemann lancierte anlässlich der 63. Berlinale ein Pamphlet unter dem Titel „Fahr zur Hölle, Berliner Schule“. Darin hieß es unter anderem: „Gekünstelte Dialoge. Reglose Gesichter. Ausführliche Rückenansichten von Leuten. Zäh zerdehnte Zeit. Willkommen in der Welt des künstlerisch hochwertigen Kinos, willkommen in einer Welt aus quälender Langeweile und bohrender Pein. Muss man das eigentlich einfach so über sich ergehen lassen und fraglos akzeptieren, dass es anscheinend anders nicht geht?“ Und noch bei der Uraufführung von Thomas Arslans „Gold“ war die deutsche Kritik nicht allein gespalten in Befürworter und Widersacher dieser Weiterung der großen deutschen Erzählung durch die Filme der Berliner Schule in die Vergangenheit und in die kanadische Wildnis hinein, sondern sie teilte sich einmal mehr in glühende Bewunderung und in beißenden Spott. Die Kritikerin Birgit Glombitza versuchte, in der „Tageszeitung“ zu vermitteln: „Gold, der deutsche Wettbewerbsbeitrag der diesjährigen Berlinale, musste einiges an Kritik, an Häme und noch viel mehr an Missverständnissen aushalten. Zu absehbar sei der schmale Plot, zu kühl die Figuren, zu fern bleibe deren Sehnsucht. Das waren Erwartungen, die an Arslans Kino, das seit seinen Anfängen primär mit Räumen und Bewegungen und nicht via Close-up und Dialog von komplexen Lebenswirklichkeiten erzählt, komplett vorbeizielten.“

Die Abwehr der Berliner Schule – die man eine Zeit lang vielleicht noch als querköpfige Gruppe von sympathischen Verweigern abtun konnte, die man mittlerweile jedoch als nachhaltigen Teil unserer Filmkultur akzeptieren muss –, trifft, um einem Missverständnis vorzubeugen, keineswegs Filme, die auf dem Markt erfolglos wären und nur der Kritiker- und Festivalerfolge wegen alimentiert würden. Macht man die Rechnung von Produktionskosten und Zuschauerzahlen auf, sind die Filme der Berliner Schule ökonomisch sogar erfolgreicher als manche Mainstreamproduktion. Selbst, wenn man sie im Fernsehen ins Mitternachtsprogramm verbannt und bei der Kino-Auswertung auf große Werbemittel verzichten muss. Es ist eben so, dass man die Filme der Berliner Schule sehen wollen muss, um sie zu sehen. Und das ist auch gut so. Damit sind sie sehr ursprüngliches Kino: Mein Weg zu diesen Bildern ist Teil der Erzählung.

 

II

Deutschland kann sehr kalt sein

Um die manchmal hämische, manchmal boshafte Kritik an den Filmen der Berliner Schule zu verstehen, muss man vielleicht auf eine weitere Gemeinsamkeit hinweisen, die über die formale Verwandtschaft hinausgeht und doch mit ihr zusammen hängt: Es ist das Leiden an Deutschland, und zugleich die Bereitschaft, weder zu flüchten noch die Augen zu schließen. „Ich verorte mich etwas zwangs-deutsch“, sagt zum Beispiel Angela Schanelec, „ich habe  eine verzweifelte Antipathie diesem Land gegenüber. Ich habe aber noch nie woanders gelebt, werde vermutlich auch nie woanders leben. Es wäre idiotisch zu leugnen, dass ich mich permanent mit diesem Land auseinandersetze, weil ich von diesem Land am ehesten eine Ahnung habe. Und es gefällt mir nicht besonders. Das fängt an bei der Kleinstadt, aus der ich komme, und geht weiter bis in die Geschichte und in die Politik.“ 

Wenn es einen Grundton in den Filmen der Berliner Schule gibt, dann ist es die Darstellung von Menschen, die ohne das auskommen müssen, was die meisten deutschen Filme direkt oder indirekt so angelegentlich konstruieren wollen und was das Fernsehen des Landes, ohne Rücksicht auf Geschmacksgrenzen in Serie liefer: die Heimat. Die Versöhnung mit der Geschichte, die Verwandlung von Tristesse in Idylle, diese endlose Feier der sehr deutschen Variante von „There is no place like home“.

Die Illusion, die Idylle, der Code. Ob in den Straßen von Berlin, auf dem Flughafen von Marseille, in der DDR kurz vor dem Zusammenbruch, im elterlichen Bungalow in der deutschen Provinz  oder in den kanadischen Wäldern des neunzehnten Jahrhundert – alle Menschen in den Filmen der Berliner Schule sind auf sich gestellt in einer Welt, die immer eine vertraute Fremde bleiben wird.

Die Leere, die es in den Bildern der Berliner Schule gibt, ist kein stilistischer Manierismus, es ist die Leere, die man in deutschen Städten beobachten kann, es ist eine Leere, in der alle Sehnsüchte und Hoffnungen vage werden müssen.

Eine Schule des Sehens, vielleicht

„Ich will in erster Linie Interesse wecken an bestimmten Dingen, Figuren, Licht, Situationen, Tönen oder Bildern. Das ist verbunden mit der Hoffnung, dass beim Zuschauer im Kopf etwas entsteht, dass er zum Denken und Fühlen inspiriert wird.“ (Angela Schalenec)

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Die innere Sicherheit (Christian Petzold, D 2000)

Was die Filme der Berliner Schule auszeichnet, ob man sie mag oder nicht, ist, dass seit langer Zeit wieder ein formales Interesse an der eigenen Arbeit entsteht, eine Ästhetik und Ethik des Filmemachers, die über die rein persönliche Geste des klassischen Autorenfilms ebenso hinausgeht wie über das verzweifelte Bemühen des deutschen Films, zu demonstrieren, dass man, was die anderen können, irgendwie auch kann.

Eine ästhetische Dissidenz

Natürlich gibt es auch, was die Filme der Berliner Schule anbelangt, einen Zusammenhang zwischen politischer Ökonomie und Ästhetik. Im Kern bestand und besteht in gewissem Grade noch jetzt die Zielrichtung darin, eine mittlere Produktionsebene zu besetzen, die eigentlich in der deutschen Filmproduktion gar nicht mehr vorgesehen ist (sie wird durch die Gebrauchsware für den Fernsehalltag besetzt, um genau zu sein). Von Anfang an ging es in den Filmen auch darum, mit den bescheidenen ökonomischen Mitteln zu arbeiten, und dafür wiederum konnten aus der Filmgeschichte jene Vorbilder benutzt werden, die in ihrer Situation etwas ähnliches erreicht hatten: der „film noir“ in den USA, der Neorealismus in Italien, die Nouvelle Vague in Frankreich, auch das Cinema Novo in Brasilien: Filme, die ihren ökonomischen Mangel durch ein hohes künstlerisches Bewusstsein auszugleichen vermochten. Wenn man eine Situation statt mit einem Spezialeffekt oder mit Komparsen-Scharen mit einer Kamerabewegung oder mit einer Lichtsetzung ausdrücken muss, dann lernt man, sehr bewusst auch noch die scheinbar nebensächlichsten Elemente des Filmemachens konzentriert einzusetzen.

Man kann aber auch genau umgekehrt vorgehen und von dieser Wahrnehmung her die merkwürdige Geschlossenheit, die Gleichförmigkeit nicht der Berliner Schule, sondern vielmehr dessen, wovon sie sich kehren muss, beschreiben. Denn die audiovisuelle Kultur in Deutschland befindet sich unter der Kontrolle von wenigen mächtigen Erzähl- und Bildermaschinen, und deren Macht hat sich in den letzten Jahren offensichtlich hysterisiert im Kampf noch um die letzten Ressourcen, um die obersten Ränge und um die Definition. Was durch die Eichinger- oder Degeto-Maschinen getrieben wurde, sieht als Fertigprodukt, und fast schon unabhängig davon, was an Talent, Fleiß und Ideen als Rohstoffe hinein gegeben wurde, immer gleich aus, gleichgültig ob es sich um große Literatur, historische Katastrophen oder Liebesbilder handelt. Wäre unsere Filmkultur wenigstens so ehrlich materiell wie die in Hollywood, so wäre uns klar, dass das, was wir sehen und was wir nicht sehen und wie wir sehen und vor allem wie wir nicht sehen von nicht mehr als einem Dutzend Menschen bestimmt wird. Mögen die bei Zeiten toleranter und experimentierfreudiger sein als in anderen, die Bildermaschinen zwischen Fernsehen, Kino und Politik verklumpen ihre Ware in zunehmendem Maße zu einem mächtigen Brei. Als „guter Film“ mag in dieser Situation bereits eine Arbeit gelten, die zugleich perfekt in der Bildermaschine funktioniert, aber doch genügend ästhetischen Eigensinn als branding bewahrt, um festivaltauglich zu sein. Und als „Kunst“ mag da schon gelten, was den Bildermaschinisten Zugeständnisse abringt und was sich das gerade richtige Maß quer zulegen traut.

Geblieben sind bei aller Vielfalt der Entwicklung ein paar stilistische Eigenheiten, an denen man sogleich einen Film der Berliner Schule erkennt: Gegenlichtaufnahmen, nie Auflicht, immer sind Fenster und Wind zu sehen, die langen Einstellungen, oft von hinten, die mit der Figur den Raum öffnen, Dialoge, die niemals „Jargon“ sind, sondern immer zugleich einen Versuch der Personen wiedergeben, der eigenen Situation einen Halt zu geben, das Zitat, aus anderen Filmen oder auch aus anderen Bereichen der Popkultur, das nicht Teil eines audiovisuellen Samplings ist (wie im postmodernen Film), sondern eher skelettiert, auf das Wesentliche reduziert wird, eine Zeit, die den Protagonisten gelassen wird, auch wenn sie gerade nichts „dramatisches“ tun, eine gewisse „Enge“ wird da konstruiert, aus der es immer wieder Ausbruchversuche gibt (und in dieser cineastischen Enge – die wiederum eine große Verwandtschaft haben mit einer Enge, die wir aus den films noir kennen, oder aus den Arbeiten von Godard und Truffaut – und der Sehnsucht nach ihrer Überwindung, die sich im übrigen oft in der Musik ausdrückt, steckt so vieles an sehr realen Erfahrungen.

Es ist schwer zu sagen, woher dieser Zorn der Kritik rührt, den schon gar niemand außerhalb Deutschlands versteht. Denn zum einen wird ja in Deutschland nun wirklich niemand gezwungen, Filme der Berliner Schule anzusehen, im Gegenteil, man muss schon ein gewisses Stehvermögen aufbringen, um sie außerhalb von Festivals und vielleicht um Mitternacht im Fernsehen zu sehen. Und zweitens hat auch kein Regisseur der Berliner Schule je behauptet, die einzig richtige Art des Filmemachers zu vertreten.

Es ist vielleicht einmal eine Vorstellung vom Kino, die sich weder mit den traditionellen Genres noch mit der möglichst reibungslosen Umsetzung eines „psychologischen Realismus“ zufrieden gibt. Die Arbeit des Zuschauers ist gefordert in einem Film der Berliner Schule. „Das Weiterdenken eines Films finde ich ausschlaggebend. Die Qualität eines Filmes macht aus, was davon bleibt, wenn er zu Ende ist. Filmemachen ist zuviel Arbeit, wenn es nur darum geht, dass man zwei Stunden in die Leinwand gezogen wird und dann ist es vorbei.“ (Angela Schalenec)

 

III

Rück-Blick & Vor-Schau

In den Filmen der Berliner Schule geht es vielleicht auch darum, das Kino (oder was von ihm übrig bleibt) wieder zu einem Erfahrungsraum zu machen, zu einem Ort, an dem man sich nicht möglichst rasch von der Wirklichkeit entfernt, sondern sich ihr nähert, mit offenem und kritischen Blick. Christian Petzold: „Was mir, retrospektiv betrachtet nach 15 Jahren Berliner Schule oder zumindest dem Begriff, an all den Filmen auffällt und gefällt, ist, dass sie davon erzählen, dass die Menschen, die sie machen, im Kino gewesen sind und im Kino etwas erfahren haben. Es gab ja schon mal eine ‚Berliner Schule’ in den 70er Jahren, der wurde nachgesagt, sie habe die Arbeiterrealität, die sonst im deutschen Fernsehspiel nicht existiert, endlich zu Bildern gemacht. Die Filme, die ich kenne und meine eigenen besonders, wenn man da sieht, wie viel amerikanische Pulp-Romane da doch drinstecken, dann muss man sagen, dass Filme davon handeln, dass sie von Kino handeln und von Kino, das etwas gesehen hat.“

 

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Alle anderen (Maren Ade, D 2009)

Es gibt so etwas wie einen Appell der Berliner Schule, der auf eine besondere Art auch sehr politisch ist (wenn natürlich nicht im klassischen Sinne einer Parteilichkeit oder dem einer Konstruktion der Guten gegen die Bösen): „Sich ernst genommen zu fühlen empfinde ich als grundsätzlich, das ist wahrscheinlich der am einfachsten zu formulierende Zusammenhang zur Politik: ernst genommen werden. Z.B. Wahlplakate sind wahnsinnig, jeder müsste Absurdität erkennen.“ (Angela Schalenec)

Obwohl ja mit „Drei Leben“ eine Gemeinschaftsarbeit entstand, stehen viele Regisseure der Strategie eher skeptisch gegenüber, die zum Beispiel Dominik Graf verfolgt, der auch in Genre-Formaten und etwa innerhalb der populären Kriminalreihe „Tatort“ zweifellos überdurchschnittliche Beiträge liefert, um dann wieder in die Regionen des heftigeren Autorenfilms zurückzukehren.

Angela Schalenec, zum Beispiel, lehnt solche Kompromisse ab: „Man macht nicht besonders viele Filme, man braucht lang für einen Film. Es ist gut wenn man sich von sich selber leiten läßt und nicht von irgendwelchen Ratschlägen von Leuten, die Fernsehen machen.“

Die große Angst vor den Filmen der Berliner Schule ist die Angst, mit ihren Bildern allein gelassen zu sein. Ihr „genauer Blick“ – um eine Floskel zu gebrauchen, die in der Auseinandersetzung häufig verwendet wird –, wird ja nicht nur „vorgenommen“, sondern er wird auch verlangt. Zuschauen ist bei diesen Filmen ein wenig anstrengender als gewöhnt. Die Distanz nimmt einem die Illusion, man könne gleichsam die Figuren in den Arm nehmen, ihnen helfen oder wenigstens mit ihnen heulen. Auch das Kathartische ist nicht nach den alten Formeln zu haben, und selbst noch die Gnade, die es in den Filmen des „transzendentalen Stils“ gibt, fehlt hier. Hatte nicht Bertolt Brecht vor dem Mitleidig-Sein gewarnt und statt dessen vom Theater oder eben dem Film verlangt, zu „tätiger Hilfe“ zu drängen? „Politisch“ ist dieses Kino, obwohl es keine Parolen hat, keine Propaganda erzeugt, keine „Meinungen“ verbreitet, weil es Fragen nicht beantwortet, sondern schärft. Allzu lange haben wir uns daran gewöhnt, in den Erzählmaschinen getröstet zu werden: Immer das richtige Opfer zur richtigen Zeit, immer die Rettung für die richtigen Leute. Die Verhältnisse sind unerträglich, aber die Sympathieverteilung und die Gleichungen zwischen Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte gehen auf. Das tun sie nicht! Und es gibt keine Kunstform, die das so genau zeigen kann, wie das Kino. Wenn man sich traut.

Mittlerweile zeigt sich, wie wichtig es war, dass die Berliner Schule sich nie Manifest-haft festgelegt hat. Längst haben ihre Vertreter sich thematisch und formal in einem Ausmaß weiterentwickelt, das ihnen ihre Kritiker nie zugetraut hätten. Wer hätte damit gerechnet, dass Thomas Arslan einen Western drehen würde, wer rechnet damit, dass Christian Petzold einen Film über das Berlin des Jahres 1945 dreht? „Mir gefällt daran, dass es überhaupt keinen Definitionszwang gibt“, so Petzold. „Ich dachte, als Thomas nach Kanada ging, der macht jetzt einen Western, wie Roland Klick mit Deadwood auch und auch Monte Hellman. Und ich mache einen Film über Berlin 1945 und wir entwickeln uns, ohne dass wir das programmatisch aufgestellt haben. Man kann im Nachhinein sagen, jetzt greife ich die Mainstream-Produzenten wie Nico Hoffmann und Constantin an, und Thomas zeigt mal, was wir im Westernbereich draufhaben. Ich mag daran, dass wir alle einfach weiterarbeiten. Maren dreht, Ulrich Köhler nächstes Jahr, Christoph dreht in Köln einen zweiten Film über Ökonomie und Kriminalität. Gerade dadurch, dass wir uns keinen Versammlungsort gemietet haben, kein Manifest geschrieben haben, keine Feinde errichtet haben, an denen wir uns selber identifizieren können und keine Filme für Andere machen, finde ich das souverän. Mir tut das gut, dass alle produzieren und ich Nachbarschaften habe. Und den Anderen wird es wahrscheinlich auch so gehen.“ Und uns Zuschauern auch, in Deutschland wie überall, wo man neugierig ist auf Menschen und Geschichten.

Die Berliner Schule ist ein Glücksfall für das deutsche Kino – nicht obwohl, sondern gerade weil es gar keine Schule ist. Es ist ein Kino, das einen Weg gefunden hat zwischen dem Independent-Kino mit Mini-Budgets und den Großproduktionen für das breite Film- und Fernsehpublikum. Das handwerkliche Können der Regisseurinnen und Regisseure lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass sie mit durchaus überschaubaren Etats mehr Kino machen, als es anderen deutschen Filmproduktionen mit dem zehnfachen nicht gelingt. Eines der größten Komplimente, die man zum Beispiel Thomas Arslans Film „Gold“ machen kann, ist, dass man ihn im Kino sehen sollte. Lange vor den Blockbuster-Sequels und den 3D-Popcorn-Orgien ist das Kino einmal für solche Filme gemacht worden, für Filme, die eine Geschichte zu erzählen haben und sich noch wirklich interessieren für ihre Personen, ihre Konflikte und ihre Träume.

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Dreileben: Eine Minute im Dunkel (Christoph Hochhäusler, D 2011)

IV

Jede Auswahl hat am Ende etwas Subjektives und Vorläufiges. In unserer Auswahl ging es darum, beiden Absichten so nahe als möglich zu kommen: Zu zeigen, was das Wesentliche und Verbindende der Filme der Berliner Schule ist, und zugleich zu belegen, welche Weite und Vielfalt in diesem offenen cineastischen Projekt steckt, und wie es sich über die Jahre hin entwickelt hat. Daher kam es uns darauf an, einen Bogen zu entwickeln von den Anfängen bis zur Gegenwart (in der ein gutes halbes Dutzend von Filmen in Arbeit sind, die der Berliner Schule zuzurechnen sind), von den Kurzfilmen bis zu Thomas Arslans „Gold“, der schon beinahe eine „Großproduktion“ genannt werden darf, auch wenn er durch die Arbeitsweise des Teams (zum Beispiel durch das chronologische Drehen) „teurer“ aussieht als er war.

Am Ende ist jede Auswahl natürlich auch ungerecht. Einiges von dem, was auch den Beteiligten wichtig wäre, musste aus unterschiedlichen Gründen zurücktreten, schließlich ist auch dieses Programm zu den Filmen der Berliner Schule einer Dramaturgie unterworfen und nicht nach Belieben zu erweitern. Harn Farocki ist mit einer Arbeit vertreten, die eine Beziehung herstellt zwischen dem analytischen und dem poetischen Blick, und sie zeigt eine der vielen Bezugs- und Diskurslinien der Berliner Schule auf. Und dann gibt es einige Filme, die außerhalb Deutschlands schwerer zu verstehen sind als im Land selber. Deswegen will auch diese Auswahl vor allem als Vorschlag angesehen werden, als eine kleine Zwischenbilanz auf einem Weg zu einem neuen deutschen Kino von Rang.

(Die Zitate von Angela Schalenec, Thomas Arslan und Christian Petzold stammen aus Gesprächen, die der Autor mit den Filmemachern geführt hat. Sie sind behutsam von einer gesprochenen in eine geschriebene Form umgewandelt worden.)

Bilder: Verleih

Georg Seeßlen

Kuratorentext zur Retrospektive zur Berliner Schule beim

Rio de Janeiro International Film Festival 2013 (26. September – 10. Oktober)

 

Retrospective: Berlin School

Dreileben: Etwas besseres als den Tod“ von Christian Petzold (Schramm Film Koerner & Weber)

Dreileben: Komm mir nicht nach“ von Dominik Graf (BurkertBarreiss Development, TV60Filmproduktion)

Dreileben: Eine Minute Dunkel“ von Christoph Hochhäusler (Heimatfilm)

Alle anderen“ von Maren Ade (Komplizen Film)

Im Schatten“ von Thomas Arslan (Schramm Film Koerner & Weber)

Leben: BRD“ von Harun Farocki (Harun Farocki Filmproduktion)

Sehnsucht“ von Valeska Grisebach (Peter Rommel Productions)

Auf der Suche“ von Jan Krüger (DE/FR, Schramm Film Koerner & Weber)

Marseille“ von Angela Schanelec (DE/FR, Schramm Film Koerner & Weber)

Klassenfahrt“ von Henner Winckler (Schramm Film Koerner & Weber)

Schlafkrankheit“ von Ulrich Köhler (DE/FR/NL, Komplizen Film, öFilm)

Unter dir die Stadt“ von Christoph Hochhäusler (Heimatfilm)

Die innere Sicherheit“ von Christian Petzold (Schramm Film Koerner & Weber)

Yella“ von Christian Petzold (Schramm Film Koerner & Weber)

(via  www.german-films.de)

 

MEHR INFORMATIONEN: festivaldorio.com

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