SLOW FOOD

Die Subversion des Geschmacks – oder warum es notwendig wurde, die Welt essbar zu machen, um sie zu retten

Carlo Petrini, der sich von seinen Freunden Carlin nennen lässt, ist ein beeindruckender Mann mit einer nicht weniger beeindruckenden Lebensgeschichte. Er hat sein Leben dem Gedanken an eine neue „Volksfront“ gewidmet, versuchte die kleinen und nicht ganz so kleinen Gruppierungen der italienischen Linken zu Dialog und Zusammenarbeit zu bringen. Er wählte die Sprache des Volkes um den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital zu beschreiben, während er sich umgekehrt nicht zu schade war, die Bauern der Langhe im persönlichen Gespräch davon zu überzeugen, dass es für sie gute Gründe gab, eine kommunistische Zeitung wie IL MANIFESTO zu lesen.

Petrini gehörte zu jenen Linken, die akzeptierten, dass es nicht mehr allein die Industriearbeiterschaft sein würde, die sich den letzten Transformationen des Kapitalismus widersetzen könnte und dass das schöne Bündnis Arbeiter-Studenten-Intellektuelle-Dissidenten einer mittlerweile verklärten Vergangenheit angehört. (Nicht dass man es nicht mehr zustande brächte; es würde von der Neuen Mitte nur ungefähr so zur Kenntnis genommen wie ein skurriler Verein zur Förderung höchst regionaler Unruhen.) Die mehr oder weniger leere Fabrik eignet sich nicht mehr zum politischen und kulturellen Kampfplatz, und die Universität – reden wir von etwas Erfreulicherem. Die nächsten Schlachten jedenfalls werden woanders geschlagen. Zum Beispiel dort, wo die Innen- und Außenwelt, der Körper und die Politik, am heftigsten aufeinandertreffen: beim Essen. Das neue Bündnis, das Petrini vorschwebte, zentrierte sich nicht mehr um die Idee, sondern um die Erfahrung. Ein vernetztes Bündnis von Produzenten und Konsumenten im Zeichen von Vielfalt und Geschmack. Während er als politischer Berater verschiedener Umweltgruppen arbeitete, hielt er der traditionalistischen Linken (mit einem typischen Vergnügen an leicht pathetischen Formulierungen) entgegen: „Ihr habt eine ganze Klasse vergessen. Eine wichtige Klasse. Die erste Klasse. Die Klasse der Bauern“. Nein, nicht um ein abstraktes Bündnis zwischen „Arbeitern und Bauern“ sollte es gehen, sondern darum, wie wir alle leben wollen. Und der erste Schritt, in guter aufklärerischer Tradition, sollte es sein, sich die Zeit zu nehmen, die es braucht, um sich Klarheit zu verschaffen.

So gründete Carlo Petrini eine Bewegung, die erst einmal als eine Vereinigung trotziger Genießer gegen die endgültige Dekultivierung der menschlichen Nahrungsmittelaufnahme wahrgenommen wurde und sich schon im Namen als eine eher konservative Bewegung gegen gewisse „amerikanische“ Unsitten zu erkennen zu geben schien: „Slow Food“. Gegründet in der Mitte der achtziger Jahre, wuchs sich diese „internationale Bewegung für gutes Essen“ zu einem Netzwerk aus, das über eigene Zeitschriften und Verlage, über Gruppierungen an der Basis, prominente Verbündete, über einen Zugang zur Öffentlichkeit verfügt, zum Beispiel über die jährliche Verleihung eines Premio Slow Food und den Salone del gusto in Turin, von der explizit politische Gruppierungen nur träumen können. Die Verlangsamung des Prozesses der Nahrungsmittelproduktion und – konsumtion, bei einer gleichzeitigen Akzeptierung von globaler Vielfalt und regionalem Eigen-Sinn müsste, so die Slow Food-Philosophie beinahe automatisch auch zu einem veränderten Bewusstsein führen. Zeit für die Produktion, Zeit für die Wahrnehmung, Zeit für den Genuss des Essens. Nichts gerade Neues, vor allem wenn man an eine Klasse der Genießenden denkt, die sich eben solchen Luxus schon immer durch die Ausbeutung anderer, durch die Abschöpfung von Mehrwert ermöglichte, und umgekehrt diesen kultivierten Genuss auch wieder als Legitimation verwendeten. Wird nicht jemand, der den Unterschied zwischen einem Barolo und einem Glykol-Wein nicht schmeckt, zurecht von den höheren Weihen des Genusses ausgeschlossen? Und träumen umgekehrt unsere Mainstream-Medien nicht von einem rülpsenden Proll in der Sangria-Tonne, weil es nichts Anstrengenderes gibt, als jene Verknüpfung von kritischem Bewusstsein und sinnlichem Genuss, von der Petrini in jeder seiner öffentlichen Reden mindestens einmal spricht? Beschreiben nicht unsere Barden, authentizitätsbesoffen wie sie sind, die Currywurst als letzten Ausdruck von proletarischem Lebensgefühl und Klassenstolz, und gehört es nicht zu den muffigsten Gleichheiten der Linken und der Rechten, einen McDonald’s Hamburger als ein Werk des Satans anzusehen, das die Welt aus den Fugen bringt, die Kinder dick und dumm macht und die heimischen Bauern ruiniert? Zwischen einem guten und einem schlechten Essen ist überhaupt nicht mehr zu unterscheiden, weil uns das Essen nur noch als ideologisch-moralische „Sprache“ erscheint, zwischen dem, was unseren Körper krank macht, und dem, was unsere Seele krank macht. Ein Diskurs, öfter unterirdisch. Erinnern wir uns daran, wie lange es gebraucht hat, einigermaßen offen über Sexualität zu sprechen. Mindestens so anstrengend wird es sein, offen über diesen Genuss zu sprechen, der wahrscheinlich genauso heftig im Fundamentalen unserer Existenz und ihrer Geschichte wühlt.

Stevan Tontic

Das Messer

Jedesmal nach dem Essen
wasche ich es gründlich,
reibe es ab mit Alkohol,
wickle es in ein Stück Leinen,
dann noch in Silberpapier
und lege es ins Tiefkühlfach.
Rein und eisig will ich es haben,
wenn ich es greife, plötzlich entschlossen,
das Bollwerk des Herzens zu durchstoßen

(Aus dem Serbischen von Stevan Tontic und Sabine Fahl)

Die Linke jedenfalls hat sich mit dem Genuss, und mit den Genüssen des Gaumens vor allem, immer schwer getan. Sie reagierte mit Askese, mit Gleichgültigkeit, mit Heuchelei nicht zuletzt, die hier und dort die Grenze zur Schizophrenie überschreitet, auf die historische Gleichsetzung von Genuss und Luxus und auf die Erfahrung jener Lust, von der man – anders als bei der Sexualität, die man daher so gern wohlfeil als Befreiungsmittel unter Volk und Völker warf – ziemlich sicher sein konnte, sie beim besten Willen nicht gleichmäßig in Raum und Zeit verteilen zu können. Musste nicht jedes „gute Essen“ damit bezahlt werden, dass woanders jemand hungert? War Essen und Trinken nicht Teil des am Ende tödlichen Konsumierens der Erde und jede Mahlzeit nichts anderes als die kleine Abbildung der großen Gefräßigkeit des Systems, die ganz buchstäblich die Welt, auf der die Menschen leben, auffressen muss? Daher ist Sattwerden ok, und „kulturelles Essen“, symbolisches Essen (ich esse das, damit ich niemanden beleidige) auch, aber mindestens so unkorrekt wie der industrielle „Schweinefraß“ ist das Luxus- und Schauessen, das wir ein einziges mal, im Beggar’s Banquet der Revolte, akzeptieren können. Wir ziehen eine Grenze zwischen Genuss und Perversion – auch da haben wir unsere Erfahrungen mit dem anderen Diskurs, mit der Sexualität – aber sie will uns nicht stabil bleiben. Jeder Skandal bringt sie wieder in Bewegung, und zugleich gibt es diese geheime Sehnsucht, diese beiden Seiten der Welterfahrung, den Genuss und das Bewusstsein, in einen Dialog zu bringen. Genuss ohne Bewusstsein, sagt Petrini, ist absurd; Bewusstsein ohne Genuss aber ist genauso absurd. Er hat, da drüben auf der anderen Seite der Alpen, natürlich leicht reden.

In Mitteleuropa jedenfalls kam „Slow Food“ zunächst gar nicht als linkes Projekt an. Und wie sich im Ursprungsland die italienische Gefahr abzeichnet, nämlich, dass das Projekt zu einer leicht opernhaften One Man Show wird, so hierzulande die deutsche Gefahr, nämlich dass auch „Slow Food“ vom Sumpf allfälliger Vereinsmeierei und damit der politischen Korruption schon an der Basis anheimfällt. Also nicht als Bearbeitung, sondern als neue Maskierung des Widerspruchs von Genuss und Bewusstsein. Vielleicht aber verhält sich ja alles ganz anders, vielleicht ist die ökonomische und kulturelle Entwertung des Essens mitnichten ein Teil des Weges zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit und Hunger. Vielleicht geht die Welt eben nicht an unserem Genuss, sondern an unserer Genussunfähigkeit zugrunde. Vielleicht macht – nur zum Beispiel – das billige Essen nicht nur die Menschen krank, die sich kein anderes leisten können, sondern auch das System selber. Was die Reichen und die Armen, die Gewinner und die Verlierer, miteinander vereint, ist, dass der Anteil dessen, was das Essen am Einkommen verschlingt, kontinuierlich gesunken ist. Einerseits wird immer mehr davon „gefressen“, von Dingen die wir merkwürdigerweise hinnehmen, die Miete, das Verkehrsmittel, die Kommunikation. Vor einigen Jahren ging das Bild von Menschen aus New York herum, die vor ihrem laufenden Fernseher verhungerten. Ob das Bild nun wahrhaftig real oder nur eine Metapher war, die wir alle auf Anhieb verstanden, mag dahingestellt bleiben. Aber wir wissen: Die Nahrungsmittel sind nur noch Teil der Lebensmittel. Kein Handy, keine Soap Opera, keine Adidas-Schuhe mehr zu haben kann unter Umständen so tödlich sein, wie nichts mehr zu essen zu haben. Denn das Essen gehört jener Zeit an, die der Kapitalismus bekämpft, der Gegenwart, während die Ware, die Dauer verspricht, immer auch als Parodie einer „Investition“ ins Lebensmanagement erscheint. Die Entwertung der Nahrung in allen gesellschaftlichen Segmenten hatte nicht nur einen eklatanten Verfall des gastrosophischen „Wissens“ zur Folge. Dass wir so viele Bücher, so viele Kurse, so viele formalisierte Gelegenheiten für den Genuss brauchen, erzählt nicht von Luxus, sondern von Verlust. Jeder Kellner in einem „Feinschmecker“-Lokal weiß, dass er mindestens der Hälfte seiner Gäste ebenso gut eine Dose Hundefutter öffnen könnte, um ihr kenntnisreiches, entzücktes Schmatzen hervorzulocken. Und in der armseligen Fresskotz-Kultur wird man eher mit Ernährungsratgebern als mit der Produktion guten Essens reich.

Die klassische, nämliche klassenhafte Konstruktion des Genusses kann uns also ziemlich egal sein. Petrini jedenfalls dachte zunächst einmal nicht aus der Perspektive der gut situierten Bürger, die für die Idee eines anderen, in jeder Hinsicht „langsamen“ Essens zu begeistern waren, sondern aus der Perspektive der Produzenten der Nahrungsmittel, die nur eine Chance hatten, ihre Würde und ihre Kunst zu erhalten, nämlich wenn sie einen anderen Markt als den konstruieren konnten, der ihnen längst alle Entscheidungen, aber auch nicht selten alle Ehre abgekauft hatte. Wenn die ahnungslosen Schmatzer dazu gehörten, diesen parallelen Markt zu konstituieren, der allein durch die moralisch-narzisstische Idee des „Biologischen“ nicht zu erreichen war, na gut. Aber die sind nicht die Autoren von „Slow Food“. Die Nahrungsmittelproduzenten, die Bauern, die Bäcker, die Metzger, die Hersteller und Verfeinerer, die Köche und Winzer treten in einen Dialog mit jenem Teil des universalen Bürgertums, der sich mit dem Turbokapitalismus nicht abfinden will, sich aber andererseits nicht in die theologischen Diskurse der Alternativ-Szenen begeben will. Anders als bei den verschiedenen ökologischen Diskursen ist dabei der kulinarische Diskurs keiner, der „Reinheit“ produzieren will, sondern im Gegenteil eine mehr oder minder lustvolle Mischung zwischen dem Körperlichen und dem Kulturellen. Nur ein paar Beispiele unter den diesjährigen Anwärtern auf den Premio Slow Food: Wenn man in Mauretanien eine Methode entwickelt, aus Kamelmilch Käse herzustellen, dann ist das zur gleichen Zeit eine Möglichkeit, Frauenprojekte zu stärken. Wenn man in Neuseeland genuine Kartoffelsorten rekultiviert, dann ist das zur gleichen Zeit eine Möglichkeit, die Maori-Kultur vor der Erosion zu bewahren. Und in der Würde der Produktion von guter Nahrung steckt häufig der Keim einer Renaissance des Südens. Ein neues Bündnis kann nur entstehen, wenn hier ein zugegeben „altmodisches“ Ethos rekonstruiert wird, jenseits der Verabredungen der „grünen“ und allerlei „biologischen“ Ansprüche des missionarischen Eifers.

Die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion führt keineswegs automatisch zu einer Erhöhung der Produktion und damit zu einer möglicherweise gerechteren Ernährung der Weltbevölkerung. Sie führt stattdessen vor allem zu mehr Markt, und auf dem geht es, wie wir wissen, nicht nur um Absatz und Rendite, sondern auch um Konkurrenz und Verdrängung. Die meisten Produzenten also sind gezwungen, nicht so sehr für etwas oder jemanden zu produzieren, als vielmehr gegen etwas. Gegen den Konkurrenten ebenso wie gegen einen „Verbraucher“, der das Unmögliche verlangt: Nahrung, die gut und gesund ist, und die möglichst fast nichts kostet. Der Wunsch, die Nahrung als das Selbstverständliche, Entwertete, Bequeme in den Alltag einzuschreiben, in dem es um ganz andere Werte, um jene meta-sinnlichen Konsumartikel geht, von denen wir nur zu genau wissen, dass ihr eigentlicher Wert nur darin besteht, sie als semiologische Waffe gegenüber dem oder der nächsten einzusetzen, wird erbarmungslos bestraft. Nicht nur durch Obst und Gemüse, das nach nichts schmeckt. Nicht nur durch Nahrungsmittel, die nur solange konsumiert werden, bis man sie einmal genauer untersucht. Nicht nur durch einen unerklärten Krieg zwischen den Herstellern und den Konsumenten. Wer einmal dabei war, wie man den Käse zubereitet, der uns in der Werbung so schmackhaft gemacht wird, isst seiner Lebtag keinen Käse mehr. Dass unser gesunder Joghurt mit irgendwelcher linksdrehender Natur zur Hauptsache aus Sägemehl und Geschmacksverstärkern besteht, verzieht uns das glückliche Afterjogging-Gesicht. Wer zugesehen hat, was in die Wurst kommt, isst keine mehr. Ein Besuch an einer Meeresbucht, die zur Fischzucht benutzt wird, macht uns in Minuten zu Fischabstinenten. Und was mit einer Mohrrübe geschieht, bis sie auf den Teller kommt … Geschenkt.

BSE, zum Beispiel, ist nur der genaueste Ausdruck des Umstandes, dass Nahrung nichts anderes als ein Mordanschlag des Marktes auf seine Teilnehmer ist, eine Produktion, die nicht nur Krankes und Krankmachendes produziert, sondern selber tief im Inneren krank ist. Unsere Panik im Augenblick ist gespielt; wir wissen nur zu genau, dass wir unser Leben auf die Lüge des Produzenten und den Selbstbetrug des Konsumenten aufgebaut haben. Die Werbung ist nicht mehr allein Mittel im Konkurrenzkampf der Produzenten, sie ist das mythische Schmiermittel dieses Lügensystems. Wir schlucken dieses Essen, weil es uns frei und glücklich und kompatibel macht. Ist es nicht Teil jenes Fortschritts, der die elende Klasse der Hausangestellten überflüssig gemacht hat, der die Frauen vom Dasein am Herd befreite, der die Männer dazu brachte, diesen Lebensbereich in die eigene Verantwortung einzuschreiben, der uns aus der drückenden Last der Traditionen befreite?

Wer Fast Food verdammt, der müsste die Moderne, die Urbanität, die Emanzipation von den Mühen des Alltags verdammen. Aber hat sich nicht, andrerseits, die Moderne längst gegen ihre Subjekte gewandt, ist sie nicht selbst kolonialisiert worden?

Anders als das „grüne Projekt“, das, seien wir ehrlich, an sich selber gescheitert ist, strebt „Slow Food“, möglicherweise eine der Nachfolgebewegungen, zwar politischen Einfluss an, nicht aber eine Existenzform als Parodie bürgerlicher Macht. Die Öffnung des Diskurses zwischen Genuss und Bewusstsein lässt auch den Widerspruch zu. So stellt sich, gelingt es einmal, die historischen Belastungen der metaphernreichen Sprache des Essens zu überwinden, eine Frage, die nur auf den ersten Blick so schlicht erscheint: Was ist „gute Nahrung“? Sie ist einerseits so tief und endlos wie die Frage „Was ist die Liebe“? Und andrerseits so pragmatisch wie die Frage: „Was tun?“

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Freitag, 13.04.2001